Forum für Philosophie und Politik
Von Maria Coors

Kurz habe ich überlegt, ob ich diesen Text mit “ein Geständnis” oder Ähnlichem beginnen soll. Das wäre insofern richtig, als sich immer noch ein Funken Scham damit verbindet – gestehen muss man ja nur Sachen, die nicht ganz in Ordnung sind und für die man sich deshalb ein bisschen schämt… Aber wisst ihr was? Diese Scham ist eigentlich der viel interessantere Ausgangspunkt und ich behaupte mal großmundig: Sie ist politisch. Also, lets go.
Ich schäme mich ein bisschen dafür, dass ich Sprachnachrichten so liebe – diese Audioaufnahmen, die man sich auf den meisten digitalen Messengern statt geschriebenem Text schicken kann. Entgrenzte Anrufbeantworter quasi (und an der Stelle wäre ich fast zu einem nostalgischen Text über alte Haushaltsgeräte abgeschweift, denn Anrufbeantworter wären wunderbare Haushaltsgeräte gewesen, hätte man sie aus der Vereinzelung ihrer Büros befreit…)
Ich liebe es, Sprachnachrichten zu verschicken und noch mehr liebe ich es, welche zu bekommen. Mit dem gestrichenen Maß Kulturpessimismus, das mir in meine teutonisch-bürgerliche Wiege gelegt wurde, hat es ein bisschen gedauert, bis ich diese Evolutionsstufe fernmündlicher (geiles Wort, gell?) Kommunikation erklommen habe, aber einmal oben angekommen, liebe ich die Aussicht – wäre da nicht die Scham.
Was hat es also damit auf sich?
Nun, da ist zunächst die Tatsache, dass ich sehr wohl weiß, dass nicht alle meine innige Liebe in dieser Sache teilen. Ja, nicht wenige Menschen halten Sprachnachrichten für eine absolute Zumutung. (Wer trotz allem noch Disney+ hat und die aktuell viel gelobte Serie “Call my Agent” streamt, kann in Folge 6 der ersten Staffel einen ganz hervorragenden Rant zu diesem Thema sehen). Es ist mir also tatsächlich unangenehm, wenn sich Menschen, denen ich eine Sprachnachricht schicke, darüber nicht freuen können, sondern sich gestört, geärgert oder sogar belästigt fühlen. Um hier zumindest nicht ganz rücksichtslos zu agieren, habe ich ein paar Maßnahmen entwickelt oder übernommen: Manchmal frage ich die Sprachnachrichtspolicy vorher ab. Manchmal sage ich bei der ersten Nachricht, dass es auf Wunsch gern die letzte gewesen sein kann. Von Anne habe ich gelernt, kurze schriftliche Inhaltsangaben dazuzuschreiben. Das adaptiert schon einen möglichen Grund, warum Menschen Sprachnachrichten ablehnen: Sie können inhaltlich überrumpeln – man hat weniger Zeit als bei einer geschriebenen Nachricht zu entscheiden, dass man sich mit diesem oder jenem hier angesprochenen Thema gerade nicht auseinandersetzen möchte. Man hat erst Recht nicht die Möglichkeit, in die Nachrichtenvorschau zu linsen (und dabei so zu tun, als habe man sie noch gar nicht gesehen).
Aber trotz dieser Rücksichtsmaßnahmen bleibt ein bisschen Scham. Und hier kommt meine Schamhypothese: Zumindest laut meiner Privatempirie besteht eine erhebliche Geschlechterdifferenz bei der Einstellung zu Sprachnachrichten. Sehr verkürzt: Frauen lieben sie, Männer hassen sie. (Ausnahmen bestätigen die Regel und Differenzierungen dürfen sich mitgemeint fühlen. Aber bislang hat sich mir gegenüber noch keine Frau Sprachnachrichten verbeten, dagegen gleich eine ganze Reihe von Männern. Ein verflossener Liebhaber hat sogar “verfügbar, keine Sprachnachrichten” in seinem WhatsApp Profil stehen…
In der oben zitierten Szene ist es übrigens eine Frau, die ihrem Sprachnachrichtshass mit großer Prägnanz Ausdruck verleiht. Manch eine könnte jedoch argumentieren, dass es sich bei dem verbalen Ausfall der Agentin Sascha, die damit die emotionalen Bedürfnisse einer Liebhaberin abwehrt, um ein quasi ironisches Zitat patriarchal-cis-männlichen Postpaarungsverhaltens handelt.)
Ich behaupte also, dass bei aller Liebe und feministischen Praxis meine Scham vor allem daher rührt, dass Sprachnachrichten etwas “Weibliches” sind und die symbolische patriarchale Ordnung dem Männlichen mehr Würde zugesteht.
Bleibt die Frage, warum diese Geschlechterdifferenz? Mir fallen drei mögliche Gründe ein:
Der erste ist so profan wie naheliegend: Die ungleiche Verteilung von Zeitressourcen. Sprachnachrichten sind außerordentlich zeitpragmatisch. Ich muss nicht lange Formulierungen überlegen und dazu noch Emojis für “den richtigen Ton” heraussuchen. Ich muss nicht tippen. Ich kann, während ich eine Nachricht spreche oder höre, etwas anderes machen (kochen, aufräumen, Autofahren – you name it). Im Gegensatz zum Telefonieren muss ich aber auch nicht versuchen, einen für beide kommoden Termin zu finden – ich spreche und höre einfach, wenn es gerade reinpasst. Ich denke, es ist nur ein bisschen Zufall, dass der erste Mensch, der mir Sprachnachrichten geschickt hat, die Wochenbetthebamme nach der Geburt meines ersten Kindes war. Ich fand das damals noch ein bisschen ungewohnt und komisch. Warum schreibt sie mir nicht? Oder ruft einfach an? Antwort: Sie hat dafür schlicht keine Zeit. Und die hatte ich selbst bald auch nicht mehr. Viele Menschen haben ja nach eigenem Empfinden zu wenig Zeit, aber statistisch gesehen haben Männer trotzdem mehr davon, besonders wenn Kinder dazukommen. Und bevor jetzt jemand sagt: “Ja, aber für 8 Minuten Sprachnachricht hören, hab ich auch keine Zeit. Wenn du die wichtigsten Infos in einen kurzen Text packst, haben wir beide Zeit gespart.” Das kann in ausgewählten Situationen stimmen. Aber, die wichtigsten Informationen zusammenfassen und aufschreiben kostet immer noch Zeit. Und wir brauchen nicht viel Kommunikationstheorie bemühen, um zu sehen, dass es bei menschlicher Kommunikation meist um sehr viel mehr als nur den Austausch von Sachinformationen geht. Die Sorge und die Gestaltung von diesem “sehr viel mehr” liegt dabei sehr oft – ihr ahnt es – in der Verantwortung von Frauen. Sagen wir so, man muss es sich sozial “leisten” können, stenographisch zu kommunizieren. In vielen Zusammenhängen wird eine Frau, die nur kurze Informationen raushaut, als unfreundlich*unhöflich*ungelenk*bossy empfunden und hat mit ganz anderen sozialen Konsequenzen zu rechnen als ein Mann. Und damit sind wir quasi schon beim zweiten Grund:
Das Sprechen von Frauen wird sehr anders wahrgenommen und bewertet als das von Männern. Mary Beard hat das sehr präzise, umfassend und komprimiert (! man braucht wirklich nicht viel Zeit um das Buch zu lesen) in ihrem Essay “Frauen und Macht” zusammengefasst. Das verstörendste Ergebnis ihrer kulturwissenschaftlichen Untersuchung war für mich, dass das Sprechen von Frauen nicht nur anders bewertet wird, sondern dass unsere Kultur ein tiefes Unwohlsein gegenüber der weiblichen Stimme per se pflegt. Frauen sollen nicht nur anders, sondern am besten gar nicht reden. Wenn es also stimmt, dass Frauen deutlich mehr Gebrauch von Sprachnachrichten machen und der Männeranteil unter den Verächter*innen dieser Kulturtechnik unproportional hoch ist, welchen Anteil hat das grundsätzliche Störgefühl beim Hören weiblicher Stimmen an dieser Verteilung?
Das erklärt aber nur die Weigerung, Sprachnachrichten zu empfangen. Noch häufiger begegnet mir die männliche Weigerung, selbst welche zu schicken. Warum? Ich behaupte, weil es verunsichert. Die wenigsten Menschen “sprechen wie gedruckt”. Vielen ist es unangenehm, ihre eigene Stimme auf Tonband zu hören. Da sind viele Pausen, Ähms, unfertige Sätze, schiefe Metaphern etc. Aber das gilt ja für alle Menschen, oder? Gibt es da wirklich eine Geschlechterdifferenz? Die deutschsprachige Podcastlandschaft jedenfalls leidet ja nicht gerade unter zu schweigsamen Männern…Trotzdem ist es etwas ganz anderes, ob ich (selbst in Form eines “Laberpodcasts”) meine Meinungen und Ansichten an eine schweigende und meist anonyme Zuhörer*innenschaft sende oder ob ich mich konservierbar dem unfertigen Gespräch aussetze. Das gesprochene Wort ist beweglicher als das geschriebene. Es ist fragiler, unsicherer, vielleicht unklarer, offener, dialogischer, missverständlicher, aber – und hier kommt ein bisschen Pathos: beziehungsreicher.
Vielleicht bin ich damit an einem anderen Ende meiner Ausgangsscham angekommen. Scham ist ja am Ende ein Gefühl, dem ich hauptsächlich in Beziehung begegne. Ich schäme mich vor jemand anderem, der*die etwas doof finden könnte, was ich tue oder sage. Isso. Diese Restscham für Sprachnachrichten bleibt trotz aller feministischen Theorie und ist vielleicht auch ganz ok. Ich kann schon auch entsetzlich peinliche Dinge sagen und die Scham verhindert sicher einiges davon und ist damit auch ein Beziehungsschutz. Aber eben nur die Restscham. Für alles andere sage, nein schreibe ich mit meiner ganzen weiblichen Autorität: Ich liebe Sprachnachrichten. Und ihr solltet das auch tun!
Und: Wäre dieser Text eine Sprachnachricht, würde er ziemlich sicher beginnen mit: Hallo, liebe Anne!
Hallo, das ist jetzt ein Augenöffner für mich.
Ich mag tatsächlich keine Sprachnachrichten, und dachte bisher immer, die Leute, die mir welche schicken, haben aus irgend einem Grund böse Absichten – wie wollen mich entweder überrumpeln oder – meistens – sich einfach die Arbeit erleichtern, bzw. mir die Arbeit machen, denn sie reden sich das Zeug einfach weg und ich muss es mir dann merken oder aufschreiben usw. Andererseits spreche ich nicht gern, weil dann ja alle es mithören, ich bin gar nicht so oft allein.
Seit mein Handy die Audionachrichten einfach transkribiert, bin ich damit okay. Die Medien verschwimmen ja grade: Ich kann sprechen und das Handy macht daraus eine Textnachricht und andersrum. Also ob Sprechen oder Schreiben kann man jederzeit neu entscheiden, weil sich das eine sofort in das andere übertragen lässt.
Aber nachdem ich deinen Text gelesen habe, die These klingt mir sehr plausibel, scheint es ja so zu sein, dass es auch ganz andere Kommunikationsinhalte sind. Mehr Beziehung, weniger Information beim Sprechen?
Und ich hätte noch eine Frage: Bevorzugst du immer die Sprachnachricht oder schreibst du auch manchmal lieber?
Haha, Maria, deine Sprachnachricht war ja eine Meisterleistung! Ich verstehe die Scham total, aber ehrlich, wer hat schon Zeit für all das Tippen und Emojis? Ich bin auch eine der vielen Frauen, die Sprachnachrichten lieben – sie sind wie kleine telepathische Träume. Aber dann wieder, wenn ich meine eigene Stimme höre, fühle ich mich wie im Spiegel des patriarchalen Unwohlseins, das du beschreibst. Ich versuche dann, sie wie eine heimliche Liebeserklärung an mich selbst zu hören, aber meistens höre ich nur ähm… ähm… und frage mich, ob ich vielleicht doch zum Mann werden sollte, der sie ignoriert. Ihr müsst einfach dazu kommen, dass wir alle so sind – wir schicken Sprachnachrichten, weil wir zu wenig Zeit haben, sie zu tippen, und weil wir hoffen, dass sie nicht zu viel Zeit kosten, um sie zu hören. Aber hey, wer braucht schon Zeit, wenn man Träume teilen kann? Drucken, E-Mail teilen, teilen!
Haha, Maria, das mit der Scham vor Sprachnachrichten ist ja ein Klassiker! Aber klar, wenn Frauen ja nur kurze Infos raushauten und das als unfreundlich empfinden, während Männer ungestraft unvollständige Sätze jagen – wer braucht da schon Zeit für ausführliche, menschliche Austausche? Ich geh mal riskieren, dass meine nächsten Sprachnachrichten auch mal eben übersehen werden… ist ja leider üblich. Aber was die Liebe zu Sprachnachrichten angeht: ich stimme voll mit Anne und Eva überein! 8 Minuten teilen, das ist die absolute Top-Adresse für Freundschaften, egal ob kurz oder fern. Und P.S. ich hoffe, du hast bei deinen witzigen Beiträgen immer eine Erinnerung im Schrank…
Aawwwwww <3 <3 <3 love it love it!!!! Das witzige ist, dass ich die ganze Zeit beim Lesen ein Schuldgegühl hatte… habe ich auf deine letzten gewichtigen Sprachnachrichten eigentlich angemessen reagiert??!! Hehehehe
Weil es mir durchaus passiert, dass ich Sprachnachrichten aus Versehen vergesse zu hören. Manche Nachrichten Ü8min (auch schöne Abkürzung oder hehe?), die einen schönen vollen Freitagnachmittag eintrudeln, lege ich mir auf die erste „private time“, das wäre bei mir das montägliche mittagkochen. Aber es kann mir auch entflutschen!! Allein deswegen habe ich eine große Toleranz auch bei den anderen (immer Frauen… u Gays… tatsächlich). Dabei freue ich mich auf jede lange sprachnachricht!!! Immer!! Da will eine etwas mit mir teilen, einen Gedanken, einen Traum, ein Erlebnis, sie hat an mich gedacht dabei, was gibt es bitte schöneres??!!! Sie schenkt mir u unserem gemeinsamen Denken u Fühlen 8 Minuten!!! Love it!! U es stimmt, ich mache Unterschriften a la: „ist ein Traum v gestern, nicht dringend, aber wichtig dass du ihn iwann hörst. Wenn du 2 Wochen nicht reagierst, schick ich dir eine Erinnerung“ :) . (Eva <3)
Es ist für mich die perfekte Kommunikationsform für Freundschaften Long distance. Sie ermöglicht Tiefe u prozesshaftes gemeinsames weiterdenken, beziehungstiefenwachstum tatsächlich, ganz alltagstauglich.
Zudem: Als sehr vergessliche Person kann ich nochmal u nochmal hören. U die Dinge gehen tiefer, weil ich höre wenn ich offen bin. Begleitet von ausrufen wie „genau!!“ oder mitfühlenden „hmmmms“ oder lachen, u klar, das geht ins Leere, aber nicht wirklich. Die Energie, zb der nächste darauf aufbauende Witz kommt in die nächste sprachnachricht :)
Nicht selten sitze ich mitten im wäscheaufhängen zwischen den wäscheständern (auch das tiefe Hören erfordert plötzlich doch ungeteilte Aufmerksamkeit) u gebe erste bruchstückhafte Rückmeldungen, u nach 20minuten ist die Wäsche immer noch nicht aufgehängt, u ja mit vielen unfertigen Sätzen, genau :) u das Denken ist angezündet. Alles ist im Bewegung. Fällt mir übermorgen noch was dazu ein, oder erinnert mich eine alltagssituation an das Gespräch, dann… voila!! Next sprachnachricht ü8min <3
Danke Maria, so schön <3