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Rubrik denken

Das Paradigma „sexuelle Differenz“ endlich entdecken

Von Andrea Günter

Vom Konzept der „sexuellen Differenz“ wird seit langer Zeit kaum mehr gesprochen. Dies hat damit zu tun, dass der Gender-Konstruktions- und Queer-Diskurs regelmäßig veranschlagt, diese Diskursfigur sei überholt. In Vergessenheit aber gerät dieses Konzept dennoch nicht. Im Gegenteil, es markiert eine außergewöhnliche Sichtweise auf Vorstellungen des menschlichen Geschlechtlichen, so dass immer wieder neu an diese Sichtweise erinnert wird. So widmete die österreichische Zeitung AEP. Feministische Zeitschrift für Politik und Gesellschaft im Jahr 2019 dieser Kategorie einen Schwerpunkt. Außerdem erscheint in diesen Tagen ein spanischer Sammelband, der sich ausführlich dieser Kategorie widmet. 

Dass das Potential des Konzepts „sexuelle Differenz“ kaum bewusst ist, liegt daran, dass die Rede von der „Geschlechterdifferenz“ immer wieder automatisch mit der vom „Geschlechtsunterschied“ identifiziert wird. Das aber ist ein Desaster. Es führt zu falschen Übersetzungen, zum Beispiel von Simone de Beauvoirs „Le deuxième sexe“. Allein schon die Übersetzung von „Le deuxième sexe“ als „Das andere Geschlecht“ ins Deutsche dokumentiert, dass die Unterschiede der beiden Kategorisierungsweisen „Zwei“ und „Andersheit“ nicht bekannt sind. In der Folge wird 1992 auch der Terminus „la différenciation sexuelle“ in der neuen Übersetzung von Uli Aumüller und Grete Osterwald ins Deutsche mit „der Geschlechtsunterschied“ übersetzt.[1]

Beauvoir hat mit dem Begriff „la différenciation sexuelle“ jedoch eine Geschlechterkategorisierungsweise erfunden, die für eine neue, revolutionäre Geschlechtertheorie steht. Das Theorem „die sexuelle Differenz“ eröffnet eine Betrachtungsweise, die viele Probleme der tradierten ebenso wie der feministischen Geschlechterdiskurse zu überwinden hilft. Denn auch die letzteren bleiben mehr oder weniger in den tradierten Kategorisierungsweisen gefangen, etwa im Natur-Kultur-, Körper-Sprache- und letztlich auch Sex-Gender-Dualismus. Solche dualistischen Konzeptionen reproduzieren die Praxis der automatisierten Vereindeutigung, wenn es um Geschlechterdiskurse geht. Sie verharren gerade auch dann in dualistischen Gebilden, wenn sie die dogmatischen Vereindeutigungsverfahren der traditionellen Geschlechterdiskurse kritisieren, als Alternative aber einfach bloß den anderen Pol des Dualismus zum neuen Ausgangspunkt erheben: keine Natur, da alles Kultur, kein „sex“, da alles „gender“. Der Determinismus bleibt, egal ob „Kultur“ oder „gender“ zum neuen allesbestimmenden Ursprung erhoben wird. Um dem nun derart konstruierten Determinismus etwas entgegenzuhalten, wird in der Folge automatistisch ein absolut Uneindeutiges und Unbestimmtes veranschlagt. Voilà, der neue Determinismus ist aus der Schublade gezaubert. Dabei hatte Beauvoir schon klar und deutlich zwischen der Kritik an der Biologie und der am Determinismus unterschieden.

Geschlechtliches Sein ist Werden und Bewegung

Dass das Paradigma der sexuellen Differenz als Alternative zur Denkweise in solchen Gegensätzen nur von wenigen wahrgenommen wird, macht deutlich, wie ungenügend die theoretische (philosophische) Ausbildung gerade auch diesbezüglich ist, die unterschiedlichen Traditionen des Begriffs „Differenz“ zu kennen. 

Der theoretische Kurzschluss, den die fragwürdigen Übersetzungen von Beauvoirs Werk sichtbar machen, basiert darauf, dass vor allem in den deutschen, englischen und us-amerikanischen Kontexten ein zentraler Paradigmenwechsel im Verständnis von „Differenz“ kaum bekannt ist. Der Philosoph Hegel hat nämlich in der Wissenschaft der Logik (1812-1816) den Begriff „Differenz“ vollkommen neu kategorisiert. Dieses neue Verständnis hat wesentlich postmoderne Diskurse initiiert. Feministischen Denkerinnen wie Simone de Beauvoir, Luce Irigaray, Hélène Cixous, Geneviève Fraisse, den „Mailänderinnen“ oder auch den Philosophinnen der Gruppe Diotima ist diese Weichenstellung bekannt. Sie haben das neue Differenz-Paradigma aufgegriffen und daran anschließend die neue Geschlechterkategorisierung „sexuelle Differenz“ ausgearbeitet. Sie selbst beziehen sich hierbei mehrfach ausdrücklich auf Hegel, was aber in der Regel kaum dazu herangezogen wird, um diese Konzeptentwicklungen einzuordnen und zu bewerten. Denn frau weiß ja, was „Differenz“ heißt, wenn von „Geschlechterdifferenz“ gesprochen wird. Denn da besage der Rekurs der genannten Denkerinnen auf „Differenz“ nichts anderes, als dass diese Denkerinnen uneinsichtig den schicksalhaften Mann-Frau-Unterschied übernähmen. Dabei tun sie das genaue Gegenteil, weil sie sich an Hegels Differenzbegriff orientieren.

Seit Hegels „Logik“ ist nämlich der Gedanke überholt, „Differenz“ sei ein Unterschieds-Ursprungs-Begriff. Folgt man seiner Neupositionierung des Differenz-Begriffs, dann rührt die Geschlechterdifferenz nicht länger von einem ersten, vorbestimmten Unterschied her, etwa aus einer vorgeordneten Weiblichkeit und Männlichkeit, wie Aristoteles das vor knapp 2500 Jahren einmal behauptet hatte (weshalb seitdem alle glauben, dass der „Unterschied“ zusammen mit dem „Gegensatz“ die ausschlaggebende kategoriale Einordnung sei, nach der das menschliche Geschlechtliche verstanden werden muss). Denn Aristoteles behauptete: „Bevor nämlich alles ausgebildet ist, was zur Art gehört, ist Weibchen und Männchen schon bestimmt.“[2]

Hegel sieht hingegen in der Differenz ein Ursprungsgefüge. Statt einer schon bestimmten und unveränderlichen Substanz bzw. eines schon bestimmten und unveränderlichen Wesens rückt Hegel in den Vordergrund, dass das, was etwas ist, gerade durch seine Bewegungen bestimmt ist. Folglich ist es auch entlang dieser Bewegungen bestimmbar. Etwas ist demzufolge das, was es ist, immer auch durch ihr oder sein Werden bestimmt. Beauvoir sagt in ihrer Einleitung klar und deutlich, dass sie sich auf diesen Ansatz Hegels beruft und dass folglich „sein“ als „werden“ verstanden werden muss. 

Die Bestimmung des Werdens und Bewegens als Konstante des menschlichen Seins stellt einen Wendepunkt für die Überwindung der aristotelischen Geschlechterkonstruktionen dar. Sie läutet eine neue Paradigmatisierung ein. Diese Bestimmung überwindet geradewegs den Dualismus von „aktiv – passiv“ und dessen Zuordnung auf Männlichkeit und Weiblichkeit. Hat Aristoteles der Männlichkeit die Bewegung und Kraft (Stärke) zugeordnet und Frauen als Pflanzen positioniert (denn Pflanzen bewegten sich nicht, sind also „weiblich“, Tiere hingegen bewegten sich schon, weshalb diese „männlich“ seien), so spricht Hegel die Eigenschaft, Kraft und Bewegung zu sein, jedem Lebewesen zu. „sein“ impliziert „werden“, weil es nicht statisch, sondern vielmehr dynamisch ist.

Damit ein Etwas nun tatsächlich wird und sich bewegt, ist in diesem Etwas eine Kraft angelegt. Was die spezifische Kraft dieses Etwas wiederum bewirkt, kann aus der Bewegung, die jene erzeugt, erschlossen werden. Auf diese Weise muss ein Etwas bestimmt werden. Und da es nicht aufhört, sich zu bewegen, muss es immer wieder neu bestimmt werden.

Zur Eigenschaft eines Etwas gehört also, dass es sich bewegt, weil in ihm eine spezifische Kraft ihre Wirksamkeit entfaltet. Durch die ihm innewohnenden Bewegungsanreize entwickelt sich ein bestimmtes Etwas. Eine Differenz entsteht: eine Differenz nicht als ein Anderes. Eine Differenz vielmehr inmitten und durch die Bewegungskräfte, die einem Seienden als Sein innewohnen. Die sexuelle Differenz verweist demzufolge auf die Kraft, die Differenzierungen inmitten des menschlichen Geschlechtlichen hervorbringt und in der Folge dieses verändert: spezifiziert und ausdifferenziert.

Ein bestimmtes Etwas wird erkennbar in einem ihm möglichen Zustand eines bestimmten Vorher und eines bestimmten Nachher. Es wird erkennbar inmitten einer Erfahrung von der Differenz „Davor-Danach“. Luisa Muraro wird in der Folge vom „Vorher und Nachher im Leben einer Frau, in der Geschichte der Frauen“ sprechen.[3] Es ist diese sich verzeitlichende Dimension des Geschlechtlichen, die verlangt, Frauen und Männer geradewegs als geschichtliche Wesen zu verstehen, zusammen mit der biologischen menschlichen Geschlechtlichkeit selbst. 

So steht das Geschlechtliche nicht über der Geschichte wie bei Aristoteles, wenn dieser es als „immer schon bestimmt“ deklariert. Hingegen wird es von geschichtlichen Entwicklungen tangiert, so dass sich im biologischen Leben der Geschlechter ebenso wenig das ewig Gleiche wiederholt wie sich die Geschichte der Geschlechterverhältnisse wiederholt. 

Wird Hegels Konzept „Differenz“ als eine eigenständige Ursprungsgröße erfasst, die gerade nicht einen anderen Ursprung (den Unterschied) kolportiert, dann können Menschen als geschlechtliche Wesen in ihrem Werden, in ihren Bewegungen und Wirksamkeiten wahrgenommen werden (sonst hätte es auch keine evolutionären Entwicklungen gegeben bzw. könnten solche Entwicklungen nicht angenommen werden). 

In der Differenz als Ursprunggröße wird das Geschlechtliche geschichtlich, weil es sich in der Zeit bewegt, weil es Werden ist. Dies schließt ein, dass Menschen ihre Sichtweisen auf das Geschlechtliche verändern und weiterentwickeln können. Sie können es immer wieder neu ausdifferenzieren. Dieser Ausdifferenzierungsprozess findet inmitten dessen statt, dass sich das geschlechtliche Menschsein zusammen mit dessen Verständnis ausdifferenziert. Folglich lassen sich im Verständnis und den Praktiken des Geschlechtlichen Epochen unterscheiden. 

Dass es im Verständnis des Geschlechtlichen Epochenunterschiede gibt, lässt sich nicht durch den Rekurs auf eine „wahre Natur der Geschlechter“ rückgängig machen, wie es reaktionäre Stimmen derzeit wieder einmal versuchen. Sie verstehen nicht, dass mit dem Rekurs auf eine „Geschlechternatur“ keine*r zu einem ersten allgemeingültigen Ursprung und Unterschied gelangt, sondern bloß zum Verständnis des Geschlechtlichen aus der Epoche, aus der er-sie* herkommt, in die er-sie* hineingewachsen ist und das ihm-ihr* darum als „natürlich“ erscheint. Indem Differenz im hegelschen Sinne hingegen als eine Ursprungsgröße verstanden wird, ist das Denken der Geschlechterdifferenz politisch. Es wendet sich gegen Natur-Fundamentalismen ebenso wie gegen Anti-Natur-Fundamentalismen.

Menschsein durch das geschlechtliche Sein hindurch

Hegels Verständnis von etwas Substanzhaftem umfasst demzufolge mehr als ein schon Bestimmtes und sich als ewig Gleiches perpetuierendes Wesen. Hegel verbindet „Sein, Werden, Bewegung, Kraft und Differenz“. Kraft und Bewegung wiederum besagen für ein Etwas, dass es sein Substanzhaftes durcharbeitet und weiterentwickelt. Für Menschen impliziert dies, dass sie tätig werden und sich immer wieder neue Möglichkeiten ihrer substanziellen Bedingtheit erschließen können. Frauen können sich selbst Ziele setzen, formuliert Beauvoir. Eine Frau kann das Durcharbeiten und Weiterentwickeln, was sie ist: 

Nicht die Natur bestimmt die Frau: sie bestimmt sich, indem sie die Natur ihrerseits in ihre Bezüglichkeit miteinbezieht.[4]

Für das Sich-Auf-Sich-Beziehen-und-Bestimmen nutzt Hegel den Begriff der Existenz. Beauvoir formuliert entsprechend für das Leben einer Frau:

Die Existenz hat keine willkürlichen Attribute, keinen Inhalt, der nicht dazu beiträgt, ihr ihre Gestalt zu geben, sie lässt in sich selbst kein reines Faktum zu, weil sie die Bewegung darstellt, durch die die Tatsachen aufgenommen werden.[5]

Beauvoir konstatiert also durchaus biologische Eigenschaften und Fakten. Was sie allerdings unterscheidet, ist, wie diese wirken. Sie wirken nicht „rein“. Sie werden aufgenommen. Das Aufnehmen muss als eine Bewegung verstanden werden, das in diesen Fakten angelegt ist. Die Möglichkeit der Menschen, daraus eine eigene Gestalt zu entwickeln, das nennt sie im Anschluss an Hegel „Existenz“. 

Das Geschlechtliche wird als eine Kraft verstehbar, die mehr ist als der „Sexualtrieb“. Sie kann vielleicht „geschlechtlicher Existenztrieb“ genannt werden, um den Reduktionismus zu verdeutlichen, der im Begriff „Sexualtrieb“ angelegt ist. Als „weibliches Menschenwesen“ oder „männliches Menschenwesen“ (so Beauvoirs Begrifflichkeit[6]) zu existieren, impliziert, das eigene Wesen als ein Geschlechtliches verarbeiten zu können und zu wollen. Menschen können und wollen sich auf sich als geschlechtliche Wesen beziehen, diese Selbstbezüglichkeit zum Ausdruck bringen und realisieren.

Beauvoir präzisiert, dass es tatsächliche Eigenschaften und Inhalte des Geschlechtlichen gibt. Ihnen gibt die Existenz Gestalt. Dies geschieht aber nicht willkürlich bzw. deterministisch, sondern auf Weisen des Aufnehmens und Verarbeitens ebenso wie des Entwickelns von immer neuen Möglichkeiten. 

Die geschlechtliche Existenz transportiert die Bewegungen der menschlichen Substanz, der wiederum die Eigenschaft innewohnt, die menschlichen geschlechtlichen Eigenschaften zu verarbeiten. Diese werden und können in dem spezifisch menschlichen Möglichkeitsraum des Sexuellen gestaltet werden. 

Folglich ist für die Situation von Frauen nicht deren Geschlechtlichkeit im Unterschied zum Mann, sondern sind die Möglichkeiten ausschlaggebend, die herausgebildet wurden und werden, um Frauen die Verarbeitung ihrer Geschlechtlichkeit ebenso wie die von Männern zu erlauben.

…ja, die Frauen in ihrer Gesamtheit sind heute den Männern unterlegen, das heißt, dass ihre Situation ihnen geringere Möglichkeiten eröffnet: die Frage ist nun, ob dieser Stand der Dinge immer der gleiche bleiben soll.[7]

Die Möglichkeiten für Frauen zu erweitern, besagt dabei nicht, dass Frauen die gleichen wie Männer bekommen sollen, sondern eher, dass sie ebenso viele nutzen können. Beauvoir postuliert keine inhaltliche Gleichheit der Möglichkeiten, sondern eher eine Gleichheit in der Vielheit und Verschiedenheit der Möglichkeiten.

Sexuelle Differenz und Transzendenz

Um die menschliche Verarbeitungsmöglichkeit des Geschlechtlichen hervorzuheben, spricht Beauvoir nunmehr von der „sexuellen Differenzierung“. Sie bringt damit das Prozesshafte, Bewegliche und Offene, das im Sexuellen angelegt ist, zum Ausdruck. Und sie hebt dazu hervor, dass dieses ein Moment von Transzendenz beinhaltet. Transzendenz meint aber nicht, ein Jenseits zum Sexuellen zu erlangen, sondern ein Hindurchschreiten durch die sexuelle Differenz. Denn Beauvoir formuliert nicht „à delà“, sondern „par delà“ – „par-delà la différenciation sexuelle“. Sie spricht derart von einem biologischen Menschsein und seinen Transzendenzmöglichkeiten durch die sexuelle Differenzierung hindurch.[8]

Das Sexuelle wird als ein Ursprung kenntlich, der eine Kraft ist und Bewegungen zeugt. Diese Eigenart des Ursprungs, nämlich eine Kraft zu sein und Bewegungen entstehen zu lassen, erweist sich als eine Eigenart der sexuellen Substanz. Damit ist das Geschlecht nicht „Eins“. Es stellt keine unveränderliche Einheit und Eindeutigkeit dar, etwa die Einheit(lichkeit) der (Geschlechts-)Organe, auf die antike Denker wie Parmenides und Aristoteles, aber auch der Psychoanalytiker Freud Wert gelegt haben (weshalb die beiden ersten die Körper, die bei der Geburt nicht der vereindeutigten organischen Einheit eines der beiden Geschlechter entsprachen, widernatürlich genannt haben.) Zugleich heißt diese Veränderung aber nicht, ein ganz Anderes zu werden. Veränderung in diesem Zusammenhang besagt das Weiterentwickeln und Verwandeln eines Etwas inmitten seines Möglichkeitsraums.

Die Parameter des Kategorisierungsgefüges „Sein, Werden, Bewegung, Kraft, Differenz und Existenz“ hat Beauvoir systematisch als Leitbegriffe genutzt. So spricht sie zum Beispiel nicht davon, dass Frauen sich bestimmte gesellschaftliche Ziele setzen und bestimmte Funktionen übernehmen müssen, z.B. das Ziel, wie Männer Führungskräfte und Kanzler zu werden oder ähnliches. Vielmehr spricht sie davon, dass die patriarchalen Zwänge überwunden werden müssen und es neu gestaltet werden muss, wie Frauen ihre Kräfte entfalten und neue Möglichkeiten entwickeln können. 

Beauvoir rückt für Frauen die Entwicklung ihrer Schöpfungskraft in den Vordergrund ihrer politischen Vorstellungen. Und Muraro verdeutlicht, dass die sexuelle Differenz eine schöpferische Kraft bezeichnet, die Wollen, Wissen, Welt entlang von Differenzbewegungen in Zeit und Raum hervorbringt.[9]

Sexuelle Differenz und Zweigeschlechtlichkeit

Die vorliegenden Ausführungen beinhalten auch eine zentrale Differenzierung, was das Verständnis des Zweigeschlechtlichen betrifft. Das Konzept „Zweigeschlechtlichkeit“ ist als solches kein Problem. Es muss neu konzipiert werden. Denn es steckt in dem Gefängnis der Logik des Einen, der Andersheit und Eindeutigkeit. Folgt man hingegen der „Differenz“ als Bewegung, Kraft, Differenzierung und verarbeitenden Existenz, dann ist die Zwei gerade nicht auf das Eine und Einheitliche reduziert. In diesem Falle zeigt „Zwei“ die Differenzierung an. Beauvoirs Titel „Le deuxième sexe“ lädt zu dieser Interpretation ein.

Die Unterscheidung zwischen der Zwei in der Andersheit und der Zwei in der Differenz ermöglicht neue Sichtweisen. Sie verhilft dazu, die patriarchale Logik des Einen und den Androzentrismus nicht bloß zu analysieren, sondern diesen eine neue Konzeption entgegenzusetzen, ohne Fakten des Zweigeschlechtlichen zu tabuisieren. 

Denn galt in der Logik des Einen der Mann und sein Körper als der Maßstab der weiblichen Existenz – einen Penis haben oder nicht – und garantierte dieser derart das Eine, die Einheitlichkeit und die Eindeutigkeit, dann stellt die „Zwei“ das andere zu diesem Einen dar. Hier heißt „zwei“ nicht etwas Eigenes, Weiteres, sondern meint eine Variante des Einen.

Die Kategorisierung „sexuelle Differenz im Menschsein“ bietet dagegen einen den Geschlechtern übergeordneten Maßstab an. Den übergeordneten Maßstab „sexuelle Differenz im Menschsein“ anzusetzen, erlaubt, nicht länger die eine (die Frau) von dem anderen (dem Mann) abzuleiten bzw. Verschiedenes auf ein bestimmtes Eines (den Mann mit dem eindeutigen Organ) zurückzuführen. „Zwei“ derart verstanden besagt nicht einfach die Andersheit zum Einen. „Zwei“ besagt in diesem Fall: zwei gleichermaßen Verschiedene im Hinblick auf ein Selbes. Dieses Selbe ist die sexuelle Differenzierung im MenschseinAuf das Phänomen „Zweigeschlechtlichkeit“ kann neu geschaut werden. 

Aus der Logik des Einen und Einheitlichen entlassen, mündet das Zweigeschlechtliche darüber hinaus auch nicht in ein unendlich Vielgeschlechtliches. Vielmehr kann es als „Zweigeschlechtliches-im-Werden“, nämlich als „Zweigeschlechtliches-im-Differenzierungsprozess“ und noch genauer als „Zweigeschlechtliches-im-generativen-Differenzierungsprozess“ verstanden werden. In diesem Fall wird das Zweigeschlechtliche als etwas betrachtet, das sich ausdifferenziert, kombiniert und neu verdichtet. Dies aber geschieht nicht in einem unendlich offenen und unbestimmten Rahmen, sondern vielmehr in einem Möglichkeitsraum, der durchaus Bedingungen unterliegt. 

Diese Bedingungen treten an zwei Momenten im Generationengefüge deutlich hervor. Erstens bei der Zeugung eines Nachkommen, für die es bestimmtes Weibliches und bestimmtes Männliches braucht, damit ein Kind gezeugt werden kann. In dem gezeugten Kind differenziert sich das geschlechtliche Erbe der Eltern aus. Im Zeugungsgeschehen wird dieses neu kombiniert und als neuer geschlechtlicher Menschenkörper verdichtet.

Zweitens muss jedes Menschwesen als ein Individuum verstanden werden. Denn es ist von bestimmten konkreten Erzeuger:innen gezeugt und von einer bestimmten Erzeugerin – nicht von DER, sondern von (s)einer Mutter – geboren worden. In der konkreten Kombination seiner individuellen Eltern entstanden, bildet ein Geborenes eine konkrete und individuelle Mischung aus Weiblichem und Männlichem, wobei die Eltern selbst als solche konkreten und individuellen Mischungen erkannt werden. Darum kann gesagt werden, dass im Moment der Geburt die Geschlechtlichkeit eines Neugeborenen identifiziert wird, um es als Teil des zweigeschlechtlichen Zeugungsgefüges, aus dem es hervorgegangen ist, und das heißt als ein Individuum inmitten des generativen, sich differenzierenden Zweigeschlechtlichen zu situieren. Obgleich es aus einer Ordnung der Zwei hervorgeht, impliziert dies nicht, ein Individuum nur in der Position des einen oder des anderen Geschlechts anzuerkennen. Denn als Gezeugtes und Geborenes ist es wie jedes andere Individuum auch ein einzigartiges Gemischtgeschlechtliches. Es ist ein Individuum inmitten der sexuellen Differenzierung.

Jeder als eindeutig erfahrene FrauKörper, jeder als eindeutig erfahrene MannKörper ebenso wie jeder als nicht eindeutig erfahrene MenschenkindKörper erweist sich als eine konkrete zweigeschlechtliche Mischung und Verdichtung von konkreten und individuellen Eltern. Diese Individualität-in-Generativität ist nicht nur an der Ähnlichkeit und Unterschiedlichkeit des Gesichts, der Statur oder der Haltung von Eltern und Kind erkennbar, sondern auch an den Ähnlichkeiten und Unterschieden bezüglich der Ausstattung und Eigenschaften der geschlechtlichen Körper beider Generationen. So wie Individualität erst in Pluralität erkennbar wird, wird geschlechtliche menschliche Individualität im Möglichkeitsraum des menschlichen Zweigeschlechtlichen erkennbar. Letztlich besagt geschlechtliche Individualität eine Individualität-in-generativer-geschlechtlicher Pluralität. 

Auch für die sexuelle Individualität gilt, dass sie im geschlechtlichen Substanzhaften angelegt sein muss. Das geschlechtliche Substanzhafte individuiert sich, wenn es sich in einem Gezeugten und Geborenen realisiert. Es ist so viele(s), wie es Individuen gibt.

Die unendliche Vielheit der Individuen ist aber nicht gleichbedeutend mit der unendlichen Vielheit des Geschlechtlichen. Hier liegt ein Kategorisierungsfehler vor, wenn von der unendlichen Vielheit der Individuen auf die unendliche Vielheit des Geschlechtlichen geschlossen wird. Die Vielheit des letzteren erweist sich als Vielheit der unendlichen vielen individuellen Kombinationen der zweigeschlechtlichen Bedingtheit.

Diesbezüglich fällt auf, dass weder in traditionellen Diskursen über die Geschlechter noch in Sex-Gender-Diskursen die Kategorisierung „Individualität“ vorgesehen ist. Denn die Positionierung im Dualismus von Natur und Kultur bzw. Sex und Gender abstrahiert vom Individuellen. Hingegen führt das Differenzierungsgefüge „Werden, Bewegung, Existenz und Differenz“ zu der Notwendigkeit, über Individuen zu sprechen. Schon Aristoteles war darüber gestolpert, weil er mit seiner Logik des Einen nicht erklären konnte, warum Söhne ihren Vätern ähnlich sehen können, aber nicht genauso aussehen wie diese. Dazu kann ergänzt werden: Väter sind des Gleichen nicht mit ihren Vätern, Großvätern usw. identisch, ebenso wenig sind die Kinder, Kindeskinder usw. der Söhne mit diesen identisch. 

Individualität ist ein Faktor des menschlichen Generationengefüges. Es sind individuelle Körper, die zeugen, gezeugt und geboren werden, die sich bewegen und ihre Geschlechtlichkeit verarbeiten und gestalten. Ihre Individualität bezeugt, dass das Geschlechtliche ein Werden in der Zeit ist, das sich im Bedingungsgefüge des sich individuierenden menschlichen Geschlechtlichen realisiert.


[1] Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, übs. v. Uli Aumüller u. Grete Osterwald, Reinbek b. Hamburg 1992, 880.

[2] Aristoteles: Über die Zeugung der Geschöpfe, Lehrschriften 8,3 Paderborn 1959, 169.

[3] Muraro, Luisa: Vorher und Nachher im Leben einer Frau, in der Geschichte der Frauen, in: Irigaray, Luce (Hg.), Der Atem der Frauen, Rüsselsheim 1997, 55-67.

[4] Vgl. Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, übs. v. Eva Rechel-Mertens, Reinbek b. Hamburg 1951, 51. Aus den genannten Gründen ziehe ich diese erste Übersetzung vor.

[5] Vgl. Beauvoir, Das andere Geschlecht, 1951, 26, meine Hervorhebungen.

[6] Beauvoir: Das andere Geschlecht, 1951, 265, 666, 676.

[7] Beauvoir: Das andere Geschlecht, 1951, 17. 

[8] Simone de Beauvoir: Le deuxième sexe II. L’expérience vécue, Éditions Gallimard 21976, 640; vgl. Beauvoir: Das andere Geschlecht (Anm. 28), 666.

[9] Vgl. Beauvoir: Das andere Geschlecht (Anm. 28), 664-667; Andrea Günter: Die denkende Differenz der Geschlechter. Sexuelle Differenz und geschlechtergerechte Sprache, in: AEP. Feministische Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, 2 (2019), 35-38; Luisa Muraro: Die denkende Differenz der Geschlechter. Eine italienische Einführung, in: Feministische Studien 12 (1994) 2, 71-80.

In diesem Text fasst Andrea Günter Teile eines Buchbeitrags zusammen, der dieser Tage unter folgendem Titel erscheinen wird:

Andrea Günter, Geschlechterkonzepte, die Ordnungsmöglichkeiten sexuierter Zeitlichkeit und die Kategorisierungsmögichkeit der “sexuellen Differenz” in: Johannes Lehmann, Kerstin Stüssel (Hg.), Gegenwart und Gender, Wehrhahn-Verlag Hannover 2025

Autorin: Andrea Günter
Redakteurin: Dorothee Markert
Eingestellt am: 03.07.2025
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Jutta Pivecka sagt:

    Danke für diesen Text, liebe Andrea Günter. Es war geradezu beglückend für mich, ihn zu lesen, weil es Dir gelungen ist auszuschreiben, was ich wohl länger schon zu denken versucht, aber nicht in Worte habe fassen können. In diesem Text wird die Vielschichtigkeit, die Differenz der Geschlechterdifferenz, anders als sonst oft, eben nicht sprachlich unterboten. Nochmals herzlichen Dank dafür!

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