Forum für Philosophie und Politik
Was bisher geschah:
In Teil 1 habe ich anhand von drei Beobachtungen der letzten zwei Jahre das aufgekommene Begehren in mir erklärt, der Bedeutung von Kunst in meinem Leben nachzuspüren und zu fragen, wie es möglich wird, mit Kunsterleben in die planetaren Grenzen zu gelangen. Für dieses Nachspüren habe ich die Konzepte hermeneutische Sekunde von Caroline Krüger und minor gesture von Erin Manning in Verbindung gebracht, die sehr hilfreich für dieses Anliegen sind.
In Teil 2 ging ich der Frage nach, welche Freiheiten und Grenzen Künstler*innen von der Gesellschaft bekommen, was ihre Aufgaben sind und was passiert, wenn Kunst politisch vereinnahmt wird oder sich Künstler*innen irgendwo auf unsicherem Gebiet zwischen Kunst und Politik befinden. Mit der Künstlerin Rose B. Simpson und dem Singer-Songwriter Trevor Hall ging ich der Frage nach, wie „icky-shit-Kunst“ vermieden werden kann. Zudem habe ich anhand der japanischen Geschichte Vom Jungen, der Katzen malte, die Frage aufgerollt, ob von Menschen gemachte Kunst ausschließlich für Menschen gemacht wird, und ob hier Reziprozität nicht tiefer und weitergedacht werden muss.
In Teil 3 wurden vor allem die letzten zwei Fragen aus Teil 2 weiterbewegt. Ich bin der Kunst und ihrem Fadenspinnen, -zerstören und -wiederverknüpfen weiter gefolgt und landete dabei bei Marina Abramovícs künstlerischen Transformationen. Zudem habe ich über die hohe soziale Stellung der Dichtkunst in der vedischen Gesellschaft gestaunt. In dieser Kultur stand der Verstand im Dienste des Herzens.
Der am Ende von Teil 3 aufkommenden Frage, wie sich die Welt uns Menschen über Kunst zeigen kann, ging ich im 4. Teil weiter nach. Wenn Kunst und im Speziellen eigenes künstlerisches Tätigsein ein Tor sein kann, durch das sich die Welt uns Menschen zeigen kann und bewusstere Beziehungen zwischen Welt und Mensch entstehen können, dann – so habe ich argumentiert – wäre es vielleicht gut, wenn sich alle Menschen in irgendeiner Weise dem Kunsterschaffen zuwenden und die hier gemachten Erfahrungen in ihr Politischsein aufnehmen.
Nachdem ich in Teil 4 dafür argumentiert habe, dass jede Person sich als Künstler*in sehen können und als solche praktizieren sollte, bin ich in Teil 5.1 auf die drei Musikerinnen Amy Winehouse, Britney Spears und Christina Aguilera zu sprechen gekommen, die sich in ihrer Begabung sehr stark vom Durchschnitt unterscheiden, weil sie ganz klar eine Gabe in die Wiege gelegt bekommen haben.
Der Teil 5.2. schloss an diese Überlegungen an: im kinematografischen Meisterwerk Poor Things konnte ich Wege und Werkzeuge finden, mit denen wir auch mitten im Europatriarchat Bewegungen in die planetaren Grenzen vollführen können. Notwendig dafür wäre allerdings ein Weiten und Ausdehnen unseres europatriarchalen Denk-Fühl-Horizontes hin zu neuen Richtungen des Denken-Fühlens.
„Während deines Workshops mit Brian (Massumi) hast du ein wundervolles Bild gezeichnet: Was passiert, wenn das Licht, das durch das Fenster scheint, mich berührt? Mit der Sonne in Berührung zu sein ist mehr als ein Subjekt sein, das ein externes Objekt betrachtet. Man selbst wird zu Sonnenlicht in diesem Moment?“
Frage von Arno Boehler an Erin Manning in The Minor Gesture, S. 190
Mich sprach diese Stelle an, weil ich solche Momente der Berührung kenne, und weil ein Kunstwerk, das mich berührt, so ein Einswerden oder Übertreten vollbringen kann. Bei Musik und Tanzen ist es besonders eindrücklich; wenn ich selbst sozusagen inhärenter Teil des Kunstwerks werde, meine Körperin verschluckt wird vom Beat und der Melodie eines Liedes. Es passiert, wenn ich meine Wahrnehmung im Sinne der hermeneutischen Sekunde in diesem Beziehungsfeld bewusst öffne, oder wenn es „einfach so“ in mich einbricht, wie Amys „Back to Black“ (siehe Teil 5.1 dieser Reihe) es immer wieder bei mir schafft. Ich gehe ohne ein vorgefertigtes Konzept – sozusagen „vorsprachlich“ – in die Beziehung, ich bin offen oder werde geöffnet für ein Denken-Fühlen, für ein eventuell noch unbekanntes Werden in diesem Beziehungs-Agieren. Wenn das Kunstwerk mich in diesem Zustand berührt, kann es mein Sein, meine Konsistenz, meine Position in der Welt verändern. Es ist Denken im Bewegen, durch welches das Denken von einer Kategorie der Organisation hin zu einem Ausdruck der Verschiedenheit bewegt wird. So wird ein Prozess initiiert, in welchem neue Wahrnehmungen möglich werden. Auch die Sicht auf das Alltagsleben kann sich beträchtlich ändern. Es kann entscheidende Effekte auf unsere weiteren Erfahrungen haben, sowie auf das, was wir politisch und kollektiv tun (vgl. The Minor Gesture, S. 192).
„Die Welt in seiner Gestaltwandelbarkeit“, so Erin Manning, „macht uns auf die Echtheit der Beziehung aufmerksam und verbindet uns mit einem mehr-als-menschlichen Horizont, denke ich. Es erlaubt uns, ökologisch zu denken, aus der Mitte heraus. Und von dort gibt es eine Öffnung hin zum gefühlten Ausdruck des Gedankens-im-Bewegen, zu den prelinguistischen Ausdrücken der Sprache – was ich woanders einmal Vorartikulation genannt habe – hin zu den komplexen Rhythmen dessen, was zwischen dem Bewussten und Unbewussten liegt, in den Zwischenräumen des Menschlichen, des Nicht-Menschlichen, des Mehr-als-Menschlichen.“ (ebd., meine Übersetzung)
Zwischen dem Unbewussten und dem Bewussten passieren Dinge, aber wir Europatriarch*innen halten uns da nicht so lange auf. Was zählt in dieser Gesellschaft, ist das Bewusstsein. Das bewusste Einsetzen von Sprache, das bewusste Handeln. Aber da irgendwo zwischen Unbewusstem und Bewusstem liegen die minor gestures in der Erfahrung im Hintergrund verborgen (aus einem Zitat aus The Minor Gesture; hier in Teil 4 dieser Reihe). Wäre es nicht wichtig, uns öfter in diesem unklaren, vorsprachlichen Bereich aufzuhalten?
In dem Podcast „Cracks Leading to Systems Change“ bringt Bayo Akomolafe das Beispiel des Sozialpsychologen Fernand Deligny. Dieser war ein entschiedener Gegner der klassischen Behandlung und Hospitalisierung von schwer erziehbaren und Kindern mit Verhalten im autistischen Spektrum. Seit Anfang der 1960er Jahre lebte er mit einer Gruppe von solchen Kindern weit weg von jeglichen Institutionen in einer felsigen Gegend in Südfrankreich, in den Cevennen. Unter diesen Kindern gab es auch einige, die nicht sprachen. Deligny und andere Betreuer*innen lebten dort mit den Kindern und Jugendlichen eine Art Experiment, genannt „Attempt/Tracing“: sie wollten sehen, ob die Kinder ganz ohne Sprache auskommen könnten. Sie wurden nicht rehabilitiert, erzogen, umgeformt Richtung Neurotypikalität, sondern nur von den Betreuer*innen begleitet. Die Idee war tatsächlich, den Spuren der Kinder durch die Wälder und Berge zu folgen. Sie nannten diese Spurenverfolgung „Tracing“ und erstellten Karten davon; nicht, um einen Weg zu finden, sondern vielmehr, um den Weg zu verlieren, die Ordnung zu verlassen.
Eine der Vorannahmen für das Experiment war, dass Sprache vielleicht im Weg ist, wenn man wirklich wissen will, was diese Kinder wahrnehmen. Deligny und die anderen Betreuer*innen sahen sich also nicht als Held*innen oder Retter*innen, sondern sie verließen sicheres, neurotypikalisiertes Wissens-Gebiet, um die Formen der Wahrnehmung dieser Kinder kennenzulernen; Wahrnehmungen, die sich ungefiltert, direkt und unmittelbar, gefühlt und dringlich zeigen, und die ohne Sprache zugänglich sind.
Einer dieser Jugendlichen mit Namen Jean-Marie ging immer in Kreisen; und irgendwann fanden Deligny u.a. heraus, dass sein Körper die Bewegungen des Grundwassers aufspürte; sein Körper choreografierte also das Grundwasser, das niemand sonst fühlen oder hören konnte. Der Junge war sich dessen sicher nicht in dem Maße bewusst, wie wir heute von „Bewusstsein“ sprechen; Bayo Akomolafe sagt, dass dieses Folgen und Aufspüren „aus Versehen“/accidently passiere.
Mir blieb dieses Beispiel hängen, weil ich mich so an Künstler*innen und ihren Weltzugang erinnert fühlte, der sicherlich auch oft jenseits der Sprache beginnt und vielleicht auch oft da endet (siehe in Teil 4 dieser Reihe; das Beispiel der Künstlerin, die ihr eigenes Kunstwerk nicht in Sprache bringen konnte).
In dem Moment des Wasser-Aufspürens existiert keine Sprache; die Erfahrung befindet sich „frisch gefühlt“ im Körper. Ähnlich vielleicht, wie meine Körperin das Lied „Can‘t Hold Us Down“ von Christina Aguilera (mehr dazu siehe Teil 5.1 dieser Reihe) fühlt und befähigt wird, ganz ohne Bewusstsein – „aus Versehen“ – für sie komplett neue Bewegungen umzusetzen; Körperin-Bewegung und Musik fließen ineinander, sind nicht mehr zu trennen; so ähnlich vielleicht auch wie das Gesicht, das von der Sonne berührt wird, selbst zur Sonne wird.
Wenn Sprache also in diesem Sinne ökologisch sein möchte, dann muss sie hier beginnen, die Spuren, die „erhellenden Funken“ – wie Chiara Zamboni es in unverbrauchte worte nennt – aufzunehmen, muss sie z.B. die Trennung von Subjekt und Objekt aufgeben, muss das Ineinanderübergehen und Transformiertwerden durch gegenseitiges Berührtwerden in die Sprache aufgenommen werden.
Nicht erst mit Erin Manning habe ich verstanden, dass das neurodiverse Denken-Fühlen Zugänge zur Welt offeriert, die wir so dringend brauchen, gerade weil das neurotypische Denken-Fühlen sich immer in denselben Kreisen dreht und die tödliche Ameisenmühle nicht verlassen kann.
Ich wollte gerade in Ecosia schauen, wie ich Menschen mit Verhalten im Autismus-Spektrum korrekt benenne, und dann fliegt mir als allererste Berührung mit dem Thema folgender Satz um die Ohren: „Eine unter Autismus-Spektrum-Störung (ASS) leidende Person hat Schwierigkeiten, normale Beziehungen aufzubauen, benutzt Sprache nicht normal oder gar nicht und legt ein zwanghaftes und ritualisiertes Verhalten an den Tag.“
Ein einziger Shitstorm an „Mängeln“ und „Ungenügend-Attesten“ regnete auf mich nieder. Ich erschrak: Ist das wirklich der Status Quo? Befinden wir uns immer noch mittendrin in dieser zwanghaften Ausrichtung an Neurotypikalität? Ich atmete tief durch. Das reichte nicht. Ich brauchte einen Spaziergang, um das Gift in meiner Körperin “in den Hintergrund meiner Erfahrung zu bringen”, das mit dem Abtippen des obigen Zitates in mich geflossen ist.
Ich verstehe umso mehr Fernand Delignys Motivation damals, mit den Kindern das Weite zu suchen. Ist es heute so notwendig wie damals? Ich sage nicht, dass das überall noch so gang und gebe ist, ich kenne mich wirklich gar nicht aus. Ich kenne nur die tiefe Verunsicherung, Zweifel, Ohnmacht und Erschöpfung von Freund*innen und Bekannten, deren Kinder Verhalten im Autismus-Spektrum zeigen.
Aufgrund meines Unwissens beschränke ich mich darauf zu sagen: wenn ich mich informieren müsste, weil z.B. mein Kind Verhalten im autistischen Spektrum zeigt, dann wäre dieser Satz oben meine erste Bekanntschaft mit diesem Thema gewesen. Als Mutter wäre ich verzweifelter denn je, denn ich bekomme das Gefühl vermittelt: Mein Kind wird nie je „richtig“ sein in dieser Gesellschaft, so sehr es sich auch anstrengen wird, sich in die Neurotypikalität einzupassen. Denn dass die Einpassung das Ziel sein muss, das ist ja wohl klar. Oder?
Künstler*innen und ihr Kunsterschaffen betrachten wir hingegen nicht als „Störung“; bzw. sie haben vielmehr die Aufgabe, das System stören; sie haben das Recht darauf, „ausgeflippte Dinge“ (Claus Bury, siehe Teil 4 dieser Reihe) zu tun; sie haben also das Recht darauf, ihre neurodiversen Fühler und Sensoren in alle Belange der Welt bis hin zum Grundwasser auszustrecken.
Ich atme noch einmal tief durch und betrachte die Spurenbilder in Fernand Deligny’s Buch L’Arachnéen et autre textes und es geht mir besser, denn es gibt immer Menschen, die herkömmliche Wege verlassen und planlos ihrer Intuition folgen. Ich denke auch an Amy Winehouse und die Battle-Raps, die „einfach so aus Versehen“, aus ihr flossen (siehe Teil 5.1. dieser Reihe), so wie Jean-Marie „einfach so aus Versehen“ dem Grundwasser folgte.
Beim Kunst-Wirken-Nachspüren passiert auch etwas sehr Spannendes: Wenn mich welthaltige Kunst berührt, nimmt sie mir eigentlich erstmal die („bisherige“) Sprache. Wenn mir etwas komplett Neues in der Welt erscheint, für das ich noch keine vorgefertigten Muster in der Sprache habe, dann kann mir Sprache jetzt auch nichts organisieren oder repräsentieren. Sprache mischt sich vielmehr ganz nuschelig, kaum hörbar unter; es verlassen Worte eher „aus Versehen“ meinen Mund. Meine Sprache deutet in diesem Stadium nicht die Welt. Sofern ich den Mut zur hermeneutischen Sekunde habe, oder sofern das Kunstwerk tatsächlich „aus Versehen“ in meine Körperin einbricht und „ungewollt“ durch minor gestures schon Feldresonanzen in Beziehung gebracht wurden, ist Sprache für diesen Berührungsmoment entbunden, auch losgelöst vom Europatriarchat. Um sprachlich nachvollziehen zu können, was durch diese Aktivierung passiert ist, muss Sprache vielmehr neu aus mir heraus geboren werden.
Mir schießt jetzt eine Ankedote in den Kopf, die Erin Manning in ihrem Buch bringt: Peter Pál Pelbart, ein Schizoanalyst und Philosoph, machte einmal einen Spaziergang mit seinem Kollegen Félix Guattari. Sie redeten den ganzen Weg kein Wort miteinander, was Pelbart reichlich merkwürdig vorkam. Irgendwann kamen sie an einen Schweinestall, und Pelbart begann zu Grunzen. Guattari stimmte mit ein. Es kam zu einem sehr lebhaften Dialog zwischen ihm und den Schweinen; Guattari grunzte und lachte viel. Pelbart schrieb, er wurde Zeuge eines wahrhaftigen „Tier-Werdens“ von Guattari. Nachdem Pelbart in den Tagen und Wochen nach diesem denkwürdigen Spaziergang Gefühle wie Verärgerung, aber auch Neid hinter sich gelassen hatte und noch einmal Texte von Guattari las, bemerkte er, dass dieses Schweigen und das Grunzen „nicht nur eine Art Versteinerung war, sondern auch eine Immersion, ein Eintauchen in eine Art Chaosmose; einem Mix aus Chaos und Komplexität, einer Auflösung, wo das, was kommen wird, erzeugt werden muss“ (Zitat von Pelbart in The Minor Gesture, S. 166).
Bayo Akomolafe nennt Sprache „an aspect of worlding“. Worlding zu übersetzen, ist nicht so einfach, denn „Weltkonstruktion“ oder auch „Welt-Entstehen“ passt nicht; es sind schon wieder zu powervolle, europatriarchale Wörter, mit genau welchen wir uns die Welt angeeignet haben. Worlding ist in meinem Verständnis eher das, was eine Welt im Immer-Entstehen und Immer-Bewegen tut. Und menschliche Sprache ist also eigentlich nur ein worlding-Aspekt von vielen in diesen Gedeihensbewegungsprozessen.
Welt ist zu verstehen ohne (menschliche) Sprache. Welt ist zu verstehen, indem wir uns ihr künstlerisch nähern (siehe Teil 4 dieser Reihe). Das In-Sprache-Bringen von dem, was wir dabei wahrnehmen; die Prozesse, die wir entstehen lassen, nutzt die Sprache in einem unverbrauchten Sinne, in einem Noch-Nicht-Bereich, und lässt so wiederum Neues in der Welt entstehen, das auch wieder außerhalb von vorgefertigten sprachlichen und denkerischen Mustern liegt. Wenn Sprache in diesem Sinne aus dem Immer-wieder-Erleben gedeiht, ist sie ökologisch und wird der Welt gerecht. Ökologien, die uns also in die planetaren Grenzen bewegen sollen, brauchen neue Arten des Ausdrucks, neue Formen des Sprechens, neue Sprachen.
Hier kommen wir dem Manning’schen what-else wieder auf die Spur. Dieses kann nur entstehen in der Bejahung. Das „Ja!“ bedeutet dabei nicht, dass alles möglich ist. „Das ‚Ja!‘ hat Freude am Mitwirken am Ereignisprozess, und das “Ja!” hat auch Freude an der Unwissbarkeit des operativen Einschnitts, der die Erfahrung dahin bewegt, was nicht vorher gewusst werden kann. ‚Ja!‘ ermöglicht eine Einschränkung, die nichts verspricht, außer die pragmatische Haltung des Experimentierens; einen spekulativen Pragmatismus. Diesem ‚Ja!‘ werden viele ‚Neins‘ folgen, aber ‚Nein‘ wird niemals die Führung übernehmen, weil es viel zu sehr die Angewohnheit hat, im Voraus zu wissen.“ (The Minor Gesture, S. 209)
Mit einem „Ja!“ finden wir weniger heraus, was das Leben ist als vielmehr, was das Leben machen kann. „Bejahung bedeutet nicht nur eine Zustimmung. Eine soziale, kollektive Kultur der Bejahung bildet ihren eigenen Pfad. Die Geräusche auf diesem sind nicht einfach als positiv oder negativ zu erkennen, und auch nicht einfach zu positionieren und zu verstehen. In einer Kultur der Bejahung gibt es Schreie, Quietschen und Stöhnen. Es gibt ungefilterte Geräusche von Ökologien in Zerstörung; die Stille der fehlenden Bienen, die pochende Hitze von zu vielen unbebäumten Gehwegen. Da ist auch Liebe und Lachen. Eine Kultur der Bejahung versucht nicht, diese Geräusche zu verstecken. Sie erkennt an, dass diese mehr orientieren, als dass sie positionieren, und sie erlaubt ihnen, das so zu tun. Wie diese Orientierung geschieht, hängt von den minor gestures ab. Minor gestures biegen das Ereignis hin zu einem andersartigen Geräuschkosmos. Nicht fröhlicher oder trauriger, aber aktiver freudvoll, im ethologischen Spinozistischen Sinne: Mehr-Als (more-than).“ (ebd., S. 211)
Beim Lesen dieser letzten Seiten von The Minor Gesture musste ich immer wieder an Poor Things (siehe Teil 5.2 dieser Reihe) denken: an die ganzen Frankenstein’schen Techniken, die Godwin und Bella für ihre Welterkundung anwenden, und mit denen sie neue Welten-Kreaturen entstehen lassen. Dieser Experimentiergeist kommt auch im letzten Satz Godwins zum Tragen, bevor er stirbt: „Es ist interessant, was alles so passiert.“ Hier ist keine Schließung in Sicht, keine Wertung, kein Urteil; sondern bis zum allerletzten Atemzug reine Freude am Nicht-Wissen, am planlosen Experimentieren. Selbst dem Tod geht er neugierig entgegen, so scheint es. „Planlos“ war er auch in dem Sinne, dass es keine vorgefertigte Versuchsreihe gab, als er Bella erschuf, sondern dass er etwas „Monströses“ in die Welt entließ. „Monströs“ in dem Sinne, dass er nicht wissen konnte, waswannwiewarumusw. aus diesem Ins-Leben-Setzen dieser Bella-Kreatur entstehen wird. Sie wird intuitiv – nahezu künstlerisch – in die Welt gesetzt. Und in der Bella-Entwicklung, im Prozess, entstehen neue Werte; „Werte, die den Nutzen-Wert übersteigen, Werte, dessen Nutzen noch nicht erfunden worden ist; die noch nicht wissen, was sie schuldig sind“ (The Minor Gesture, S. 218).
Wortwörtlich schneiden Godwin und Bella in (Körper*innen-)Prozesse hinein, lassen so neue Formen von Körper*innenbewusstsein entstehen und ändern dadurch den Rhythmus des Ereignisses, was wiederum einen neuen Prozess aktiviert, ein neues qualitatives Feld; und es ist dieser qualitative Unterschied, der die Bejahung bejaht. Die Qualität, die aktiviert wird, ist in noch keiner vorher existierenden Beziehung enthalten. Die Qualität der Bejahung kann nicht gemessen werden. Sie operiert, sie stimmt, sie summt, sie orientiert, aber sie setzt zuvor keinen Rahmen. Bejahung weiß nie, wo sie landen wird. Sie beinhaltet immer das Risiko des noch-nicht (not-yet), des Nicht-Wissens. Sie beinhaltet noch nicht einmal das Wissen, wie man zu Wissen kommt. Studieren ist alles, was wir haben, sagt Erin Manning, und das würden Godwin und Bella sicher unterscheiben: Studieren verstanden als eine neugierige Erkundung dessen, was das In-Aktions-Bringen tun kann. Bejahung befreit das, was lebt und nimmt die Schwere: das Leben wird nicht aufgeladen mit der Schwere von höheren Werten, sondern es werden andere Werte kreiert, die das Leben selbst sind, welche das Leben leicht und aktiv machen. (vgl. S. 218)
Im Teil 5.2 dieser Reihe habe ich an Bellas Geldherschenken gezeigt, wie „wir“ Europatriarch*innen – personifiziert in Duncan – auf die grand gestures achten („Wo ist das Geld?“, „Du hast den Armen nicht geholfen!“), wo unser Schmerz sitzt („OMG das schöne Geld!“, „Ist sie dumm oder was?!“) und wie wir die grand gestures somit als jene verstehen, die den „wahren politischen Wandel“ auslösen. Diese grand gestures wollen aber nur den Status Quo erhalten. Dieses unbewegliche es-ist wirft Schatten auf die minor gestures, welche das Feld durch ihre Bejahung und die Frage was-noch? (what-else?) verunsichern.
„Eine bejahende Politik wird immer gegen die grand gestures stimmen und stattdessen eine Haltung anbieten, die sich mit der schmerzhaften Freude bewegt, die mit dem Werden geboren wird. Sie wird ein Denken anbieten, das sich zur äußersten Macht des Gedankens bewegt; das im Kern ökologisch ist, das sich von der Mitte ausbreitet, wo sich Speziationen noch nicht in Spezies aufgelöst haben. Diese bejahende Politik wird zur improvisierten Melodie einer aufkommenden Kollektivität laufen, einer Vielfalt voll mit minimalen Bewegungen, welche die Kategorien und Unordnung bringen, eine Vielfalt, die vom Fabulieren überschwillt (…).“ (ebd., S. 232)
Was hält uns davon ab? Ich denke, unsere innere Bremse resultiert auch daher, dass wir als privilegierte Europatriarch*innen unser Begehren auch immer in das Europatriarchat einpassen können. Auf die Frage, was Menschen an ihrem Leben ändern wollen würden, wenn sie könnten, antworten viele, dass sie es noch einmal ganz genauso leben würden. Ich zähle mich dazu. Gleichzeitig aber – in derselben RaumZeit – gibt es ein schief klingendes Rumoren, ein dumpfes Pochen in allen Ecken und Enden und auch aus der Mitte, aus meinem Herzen und Bauch heraus. Irgendetwas in mir erinnert mich daran, dass es noch so viel mehr in what-else-Sphären zu erkunden gibt, und dass auch ganz offensichtlich so vieles in Missklang steht; in mir, um mich herum, tagtäglich in den Nachrichten. Wie ist da gutes Leben möglich? Erin Manning sagt, dass was-ist, was-war und was-wenn keine Zustände oder Fragebewegungen sind, die uns dem Begehren näher bringen. Demnach ist „Was würdest du anders machen, wenn du dein Leben noch einmal von vorne leben könntest?“ auch eine falsche Frage.
Welthaltiges Kunsterschaffen und Kunsterleben (was oft ein und dasselbe ist) folgt dem Begehren, das sich in der Sehnsucht nach einem „Mehr“ ausdrückt und dem Auf-der-Welt-Sein Sinn gibt (siehe ABC des guten Lebens, „Begehren“). Da wir selbst Welt sind, können wir sie eigentlich immer spüren; zumindest können wir es wieder erlernen, indem wir unser Tun in Richtung der minor gestures bewegen. Denn diese fungieren als Aktivatorinnen (siehe Teil 1 dieser Reihe), welche die aktuell verfügbaren (technischen, praktischen, denkerischen usw.) Möglichkeiten und ihr potenzielles Darüber-Hinaus miteinander verbinden. Die Ausrichtung verändert sich hin zum noch-nicht, zum was-noch.
Mit dem Überschreiten des Rahmens durch die Frage was-noch? begeben wir uns in das Mehr, in die Fülle, in die „schmerzhafte Freude“, wie Erin Manning sagt. Kunsterleben, in denen minor gestures in Bewegung gebracht werden, ermöglicht uns das Verlassen vorgefertigter Denkmuster und somit auch des europatriarchalen Rahmens. Es entsteht RaumZeit, um einen neuen Prozess zu initiieren.
Vielleicht erklärt sich jetzt mein Unbehagen aus dem 2. Teil dieser Reihe, wenn Künstler*innen wir Igor Levit als Intellektuelle auftreten, sich in Debatten einmischen usw. Aus der Bewegungstheorie der minor gestures heraus gedacht, entsteht Politik durch eine Neuorientierung in einem Prozess; eine Neuorientierung, die durch einen Einbruch von Neuem notwendig wird und Sprache neu gebären lassen muss. Intellektuelle Sprache bietet aber sofort Kategorien aus dem Status Quo an, sortiert ein, mustert aus, beurteilt, bewertet, vergleicht, hat eine Meinung. Sie lässt keine Zeit und keinen Raum, damit Verunsicherung, Sprachlosigkeit und Nichtwissen den Raum fluten kann. Verunsicherte Menschen greifen sich sodann die angebotenen Worte, testen sie an sich aus und wenn sie matchen, eignen sie sich diese an. Vielleicht haben wir es immer so gemacht. Vielleicht ist auch nicht alles schlecht daran. Kluge Menschen dürfen kluge Dinge sagen und bei der Einordnung von komplexen Sachverhalten helfen, unbedingt. Ich bin nicht dagegen. Es befindet sich nur zu dominant in einer grand gesture; das „Nein!“, das es-ist, was-war und was-wenn hat gefühlt wieder die Führung übernommen, obwohl Künstler*innen mit ihrer Kunst doch vorrangig die minor gestures anregen sollen.
Und ich denke, genau das ist es, was mich vor einigen Wochen so irritiert hat: es ist der Fakt, dass die Statements – egal wie klug sie sind – von Intellektuellen, die eigentlich als Künstler*innen in der Welt präsent sind, nicht aus dem Kunsterleben, dem in-act entspringen (aus Levits eigenem Kunsterschaffen beispielsweise), sondern aus den grand gestures der Welt der Nachrichten usw. Vielleicht stimmt das so nicht in Gänze; es ist vielleicht nur eine Tendenz, die ich wahrnehme. Es ist aber nicht egal, woher wir unser Wissen beziehen, welches Wissen Wissen weiß und erschafft (, hat Donna Haraway so oder ähnlich sicher in Unruhig bleiben geschrieben); und welches Wissen – das der minor oder das der grand gestures – wir dann eben auch für unser politisches In-der-Welt-Sein in Bewegung setzen.
Bella in Poor Things kann als Metapher für die Kunst gesehen werden. Bella/Kunst ist pure Bejahung. Sie weiß nicht, was sie erschafft und welche Prozesse und Feldresonanzen sie in Gang setzen wird (siehe auch Trevor Hall in Teil 2 dieser Reihe). Ohne Bejahung gibt es keine Kunst. Welthaltige Kunst entsteht, wenn minor gestures als Aktivatoren wirken können und nicht im Hintergrund der Erfahrungen von grand gestures verschwinden.
Vielleicht habe ich erst durch Bellas Tanz in der Tanzbar in Lissabon verstanden, dass es überhaupt diesen Moment gibt, in dem Musik in die Körper*in einbricht und von diesem Einströmen in Bewegung gesetzt wird. In diesem Sinne verstehe ich auch Erin Mannings agencement (siehe auch Teil 1 dieser Reihe): durch das Musik-Tanz-In-Bewegung-Kommen wird eine Gerichtetheit ausgelöst, die nicht auf subjekt-basierter Intentionalität beruht. Hier setzt sich etwas aus den Tiefen der Körperin* in Gang, in Tanz, schwemmt nach oben, möchte sich in Bewegung zeigen.
Es könnte sein (genau nachvollziehen kann ich das nicht), dass das Nachwirken dieser Film-Szene mich dazu gebracht hat, über Amy Winehouse und ihr Resonieren in mir zu schreiben, und über das, was die Lieder von Christina Aguilera (neben Musik von vielen anderen Künstler*innen natürlich!) zum ersten Mal in mir zum Klingen und Bewegen gebracht haben, oder was die Lieder von Britney Spears in meiner Tochter ausgelöst haben. Durch Erin Manning verstehe ich, dass dieses Eindringen von Musik in die Körperin bedeutsam ist und Veränderungen bewirkt hat in der Weltwahrnehmung. Es waren Momente der Auflösung, des „Was passiert hier gerade mit mir?“, und Gefühle des Überschreitens und der Ausdehnung des Ichs und der puren Freude und Bejahung dieser Überschreitung und Ausdehnung.
Und so verstehe ich, dass im Zeitgeben, Wirkenlassen, Verfolgen und Erforschen dieser Momente auch das je eigene politische Wirken und In-der-Welt-Sein immer wieder Aktualisierung finden kann, gerade weil die Momente „frisch“ und neu sind und noch kein sprachlich vorgefertigtes Muster zum Drüberlegen vorhanden ist.
Und das heißt eben auch, dass dieses Nachforschen mitten im ZeitRaum des Europatriarchats stattfinden kann – so wie Godwins und Bellas in-actment eben auch mitten in diesem stattfinden. Der feine Unterschied ist, dass weder ihr Tun noch unser jeweiliges Berührungserforschen das Europatriarchat füttert.
Vielleicht ist genau dieses Nichtfüttern ein Werkzeug, das Audre Lorde meint: das Werkzeug wäre dann das Nachspüren und Ernstnehmen der minor gesture. Die grand gesture hingegen wäre dann das Werkzeug des Meisters. Für das intuitive Nachverfolgen der minor gesture können wir herkömmliche Werkzeuge/Mittel nutzen; so wie Bella Schere, Pinzette, Faden und Skalpell usw. nutzt, um eine Ziegen-Alfie-Kreatur zu erschaffen. Diese fällt komplett aus dem Europatriarchat heraus; einfach deswegen, weil Ziegen-Alfie keinen Wert für diese Gesellschaft hat; im Gegensatz zum Mann-Alfie, der er im vorherigen Leben war. Ziegen-Alfie sowie auch Felicity und zuvor Godwin und Bella eröffnen eine not-yet/what-else-RaumZeit. So klein diese feministische Utopie im ummauerten Patio in Poor Things am Ende auch sein mag, so sind hier lauter komplett neue Beziehungsfelder eröffnet und in Prozess. Wie gern würde ich wissen, was sich nun in „dritter und vierter Generation“ aus diesen neuen Beziehungsgefügen, in denen wiederum komplett neue Feldresonanzen und minor gestures möglich werden, ergibt.
Diese Neugierde ist übertragbar auf unsere Gesellschaft. Ich merke, wie sehr ich darauf brenne, dass Menschen ihre europatriarchalen Hüllen und Mauern fallenlassen, damit wirklich neue Prozesse in Gang kommen; in mir, zwischen uns. Woher das Vertrauen für dieses Nacktwerden nehmen, das ist die große Frage. Woher die Kraft nehmen, und was, wenn intuitive Planlosigkeit, maximale Durchlässigkeit und Chaosmose des Oink Oink in Momenten geschieht, in denen wir unser europatriarchales Gesicht wahren müssen? Blamage! Ich kann mich nie mehr blicken lassen! Oder, die andere Variante wäre: Wir eignen uns den Raum an, füttern uns gegenseitig und grunzen alle eine Runde.
Langsam komme ich zum Ende. Gestern sinnierte ich mal wieder darüber, was mit dem „grundlosen Furor“ (siehe Teil 1 dieser Reihe) zu machen sei, wie er in die chaosmotische Modder zu ziehen sei; so wie wir es in Teil 2 mit der Dialektik bereits getan haben. Da klang Bella in mir mit ihrem Begriff für Sex: furiously jumping. Sie fragte Duncan auch, warum Menschen nicht immer furiously jumping täten. Ist Bellas „aufregendes/ekstatisches Hüpfen“ eigentlich „grundlos“, fragte ich mich? Die Frage war schnell mit „nein“ beantwortet. Denn Bella folgt ihrem Begehren, der Freude, der Ekstase, der Bejahung, dem planlosen Wissensdrang. Es ist das ekstatische Hüpfen, das Himmel und Hölle in Bewegung setzt, das das Universum in uns zum Vibrieren bringt, für den Moment des Praktizierens, den in-act, aus welchem wiederum neue Ideen und Energien für Anderes gedeihen können.
Was in uns dem Begehren folgt, kann niemals grundlos sein, auch wenn der Grund für die Suchrichtung immer im Unklaren bleiben kann. Auch eine Zerstörung – wie sie Mangold und Rauterberg so gern in der Kunst sehen wollen – muss durch das Begehren angeleitet sein, um welthaltig zu sein. Vielleicht kann ich es so sagen für den Moment.
Und ich komme immer wieder auf das Ringen zurück, warum auch immer. Ich mochte das Ringen in Teil 2, an dessen Ende die Dialektik in der brandenburg’schen Modder lag. Ich mag so sehr das Ringen um Worte, die aus den Tiefen der Körperin hervorgrunzen. Ich hätte Amys Battle-Raps geliebt. Ich mag das Grunzbattle zwischen den Schweinen, Pelbart und Guattari. Ich mag die Schlammschlacht und den Boxkampf in Christina Aguileras Video zum Lied „Dirrty“. Schöner noch wäre es, wenn es keine Siegerin und keine Verletzte geben würde. Wenn aus dem Ringen keine Gefühle der Demütigung und der Rache gedeihen würden. Wenn feministisch miteinander gerungen wird, so wie wir es für die Denkumenta letztes Jahr geschrieben haben.
Kunst initiiert in dem Sinne ein Vorwärts-Ringen. Aus diesem wahrhaftigen Ringen mit der Welt können neue Worte, neue Namen entstehen. Wenn ich Bayo Akomolafe richtig verstanden habe, deutet er den biblischen Ringkampf zwischen Jakob und Gott auch in dieser Weise.
Welthaltige Kunst ringt in diesem Sinne zuvorderst mit der Welt – nicht unbedingt mit Worten. Kunst hat das Begehren, die wirkliche Welt zu berühren. Eine derartige Kunst schert sich nicht darum, wie und von welcher politischen Richtung sie aneigenbar ist (dazu mehr siehe Teil 2 dieser Reihe). Wenn ihr das Berühren gelingt und Feldresonanzen ausgelöst werden, dann vergrößert das aufkommende Beziehungsfeld die Risse in der europatriarchalen Konstruktion. Welthaltige Kunst hat aber gleichzeitig aus sich selbst heraus kein Interesse daran, grand gestures einzureißen. Sie tut dies vielleicht nebenbei… oder eben „aus Versehen“, planlos. Aus dem, was die Welt uns über Kunst zu vermitteln vermag, können Politikangebote erwachsen, die jenseits von rechts und links stattfinden. Rechts und links gehören in die ZeitRäume der grand gestures. Mein Opa hat immer gesagt, „links ist da, wo das Herz schlägt“. In diesem somatischen Sinne könnten wir ein neues Linkssein von den minor gestures ausgehend suchen.
„Die vedischen Dichter*innen hörten das Heilige als vãc, ‚Wort‘ – oder genauer – als ‚Stimme‘, und identifizierten es als die Göttin Vãc, die universale ‚Stimme‘ selbst, die durch ihre Macht des kreativen Wortes das Universum in seiner Ganzheit geformt hat. Vãc war die universale Künstlerin. Die – wie die altgriechische poiêtês – durch die Kraft ihrer Sprache und Rede bekannt war dafür, die ‚Macherin‘ zu sein, die Erschafferin der Welten. In dieser Weise verstanden, ist der Kosmos ein poetisches Kunstwerk; ist er selbst ein universales Gedicht.“
(aus: The Artful Universe von William K. Mahony, S. 37)
Fluten wir unsere Körper*innen einmal kurz mit diesem Gedanken und lassen dem Fabulieren freien Lauf: Wenn die Welt ein Kunstwerk ist, können wir es nur mit minor gestures umflattern. Wir werden nie auf Grund setzen, nie auch nur annähernd alles wissen, schon gar nicht nur mit wissenschaftlich reinem Verstand, so wie wir es uns in grand gestures den lieben langen Tag erzählen und praktizieren.
Kunsterleben und Kunsterschaffen spielt sich in der Welt der minor gestures ab; im Wunsch, die Göttin in ihrem Jetzt-und-Hier-Welt-Entstehenlassen umarmen zu wollen.
Jede welthaltige Kunst erschafft die Welt in gewissem Sinne ein Stückchen neu. Nur im Akt, im Bewegen, im Spüren ist das möglich. Dieses Denken-Fühlen-Bewegen muss gerade von uns Menschen begehrt sein. Wir müssen verstehen, dass nicht alles erst mit Worten ergriffen, organisiert, kategorisiert sein darf und muss. Ein Ritual muss ausgeführt, ein Tanz muss getanzt, dem Wasser muss gefolgt werden usw. Denn manches lässt sich nur mit der Körper*in, aufgelöst in Klang, Tanz oder Ritual, im furiously jumping, im Nachspüren oder im wortwörtlichen Ringen oder Grunzen finden und lösen. Es reicht nicht und es ist auch nicht möglich, dass Worte alles Erfahrene erfassen können; nur Poesie könnte das vielleicht schaffen. Aber auch dann wäre der Ausschnitt des Welterlebens noch zu klein, um nicht in die Gefahr der Zerstörung zu geraten. In diesem Sinne muss in einer lebendigen Kultur um Worte gerungen werden, die RaumZeit für das Mehr-als-Menschliche, das noch-nicht, das mehr-als und das was-noch? lassen, das uns eventuell vom Wege abkommen lässt und uns in ein neues Ringen verwickelt usw. usf.
Um diese multiplen Ausdrucksformen und den daraus entstehenden neuen Beziehungsfeldern herum bilden wir miteinander ringend eine Kultur, ein kulturelles Gedächtnis, in dem jedes neurodiverse Denken-Fühlen-Bewegen gefragt ist, um uns alle ganz „aus Versehen“ in die planetaren Grenzen zu bewegen.
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Oder nochmal anders ausgedrückt: Dem, was die Göttin künstlerisch erschaffen hat, kann sich auch nur künstlerisch genähert werden – eben durch die Sprache der Kunst, immer mit dem Herzen suchend, und der Verstand dabei im Dienste des Herzens (mehr dazu in Teil 3 dieser Reihe).
Genau, im letzten Satz steht das Wichtige: die Zukunft! Die können wir formen, gestalten: frei und froh, frech und frisch – ohne den Kitsch der sogenannten künstlichen Intelligenz, die im übrigen alle Zutaten aus dem Fundus aller schöpferischen Menschen gestohlen hat. Dem Kitsch nach waren das wohl alles US-AmerikanerInnen?
Bitte bei dem Erin Zitat korrekt übersetzen: “„Die Welt in seiner Gestaltwandelbarkeit“, so Erin Manning –
sowohl die Welt als auch die Gestalt als auch die Wandelbarkeit sind weiblich, folglich: Die Welt in ihrer!…..
und bitte: in der Kürze liegt die Würze, obendrein liegt darin auch die Lesbarkeit und erst recht steigt damit die Leselust.