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TEIL 5.2 der Reihe „Kunst auf der Spur“: Poor Things und die Frage, wann und wie wir wirklich die Welt verbessern

Von Anne Newball Duke

Dieser Screenshot sowie alle folgenden von Anne Newball Duke, aus dem Film Poor Things von Giorgos Lanthimos von 2023.

Was bisher geschah:

In Teil 1 habe ich anhand von drei Beobachtungen der letzten zwei Jahre das aufgekommene Begehren in mir erklärt, der Bedeutung von Kunst in meinem Leben nachzuspüren und zu fragen, wie es möglich wird, mit Kunsterleben in die planetaren Grenzen zu gelangen. Für dieses Nachspüren habe ich die Konzepte hermeneutische Sekunde von Caroline Krüger und minor gesture von Erin Manning in Verbindung gebracht, die sehr hilfreich für dieses Anliegen sind.

In Teil 2 ging ich der Frage nach, welche Freiheiten und Grenzen Künstler*innen von der Gesellschaft bekommen, was ihre Aufgaben sind und was passiert, wenn Kunst politisch vereinnahmt wird oder sich Künstler*innen irgendwo auf unsicherem Gebiet zwischen Kunst und Politik befinden. Mit der Künstlerin Rose B. Simpson und dem Singer-Songwriter Trevor Hall ging ich der Frage nach, wie „icky-shit-Kunst“ vermieden werden kann. Zudem habe ich anhand der japanischen Geschichte Vom Jungen, der Katzen malte, die Frage aufgerollt, ob von Menschen gemachte Kunst ausschließlich für Menschen gemacht wird, und ob hier Reziprozität nicht tiefer und weitergedacht werden muss.

In Teil 3 wurden vor allem die letzten zwei Fragen aus Teil 2 weiterbewegt. Ich bin der Kunst und ihrem Fadenspinnen, -zerstören und -wiederverknüpfen weiter gefolgt und landete dabei bei Marina Abramovícs künstlerischen Transformationen. Zudem habe ich über die hohe soziale Stellung der Dichtkunst in der vedischen Gesellschaft gestaunt. In dieser Kultur stand der Verstand im Dienste des Herzens.

Der am Ende von Teil 3 aufkommenden Frage, wie sich die Welt uns Menschen über Kunst zeigen kann, ging ich im  4. Teil weiter nach. Wenn Kunst und im Speziellen eigenes künstlerisches Tätigsein ein Tor sein kann, durch das sich die Welt uns Menschen zeigen kann und bewusstere Beziehungen zwischen Welt und Mensch entstehen können, dann – so habe ich argumentiert – wäre es vielleicht gut, wenn sich alle Menschen in irgendeiner Weise dem Kunsterschaffen zuwenden und die hier gemachten Erfahrungen in ihr Politischsein aufnehmen.

Nachdem ich in Teil 4 dafür argumentiert habe, dass jede Person sich als Künstler*in sehen können und als solche praktizieren sollte, bin ich in Teil 5.1 auf die drei Musikerinnen Amy Winehouse, Britney Spears und Christina Aguilera zu sprechen gekommen, die sich in ihrer Begabung sehr stark vom Durchschnitt unterscheiden, weil sie ganz klar eine Gabe in die Wiege gelegt bekommen haben.

Der jetzige Teil 5.2. schließt – wenn auch nicht gleich ersichtlich – unmittelbar an die Überlegungen in 5.1. an.

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Achtung Spoiler-Alarm! Zum besseren Textverständnis wäre es gut, den Film Poor Things gesehen zu haben, aber es hilft sicher auch ein kurzer Überblick bei Wikipedia.

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Der Prozess zählt, nicht die eine Tat

Die Komplexität, Schönheit und Tiefe des Films Poor Things lässt auch ein gutes Jahr nach seinem Erscheinen noch immer wilde Gehirnfunken in mir schlagen. 

Es ist ein „somatischer Film“ durch und durch; will heißen, dass die Körperin* der Hauptfigur Bella von Anfang an im Mittelpunkt steht. Ihre körperin*liche Entstehung ist bereits eine geniale Idee sondergleichen; in meinem Kopf entstand schon in den ersten Kinominuten eine diffuse Fragemischung von: Warte mal… wer ist jetzt Mutter und wer Tochter von wem zu welchen Teilen? Und ist Victoria nun eigentlich „wirklich tot“, oder lebt sie weiter in ihrer eigenen Körperin zusammen mit ihrer Tochter, die sich in ihrer Körperin* als Bella nun frei entfalten darf? Auf diese Fragen komme ich am Ende zurück.

Damit keine Sternchenverwirrung entsteht: „Körper*in“ benutze ich, wenn es um männliche, weibliche und alle Körper*innen dazwischen und außerhalb geht. „Körperin*“ benutze ich nur bei Bella, weil sich in ihr zwei… oder drei?… weibliche… sagen wir… menschliche Wesen vereinen, zu einem Individuum zusammenwachsen. Die daraus entstehende Neurodivergenz, die Emma Stone den ganzen Film über so meisterhaft zu verkörpern weiß, entsteht aus… ja irgendwie… „mehr als zwei Frauen“, und das ist der Grund, warum ich mich für das Sternchen hinter der weiblichen Endung entscheide, wenn ich speziell von ihrer Körperin* spreche. Ich habe mich gegen Sternchen an Bellas Personal- und Possessivpronomen entschieden. Den Grund dafür kann ich nicht genau bestimmen. Ich will gern Frau/sie/ihr so belassen. Es geschieht eher intuitiv. Mir ist es viel wichtiger anzuzeigen, dass sich dieses spezifische Bella-Frausein, ihr Gedeihen bezüglich Weltwahrnehmung, Fühlen und Denken, in einer besonderen Körperin* abspielt.

Die Szene in Alexandria hat mich damals im Kino in besonders nachhaltiger Weise berührt; ich hielt sie für entscheidend, aber warum, wusste ich da noch nicht. Deswegen wollte ich mir schon länger Zeit für die Szene nehmen, indem ich ihr schreibend hinterherforsche. Und tatsächlich; erst im Schreibprozess verstand ich „das ganze Ausmaß“ dieser Szene. 

Der Moment kurz bevor sie das Leid zum ersten Mal sieht.

Wir erinnern uns: Bella ist – nachdem sie mit Duncan nach Lissabon gefahren ist – von diesem auf ein Kreuzfahrtschiff entführt worden. Eine der Stationen der Kreuzfahrtreise ist Alexandria. Bis zu diesem Zwischenstopp hat Bella bereits neue Freunde gewonnen; darunter Harry. Dieser will ihr beweisen, dass die Menschen alle grausam sind, und bringt sie in Alexandria auf die Terrasse eines Cafés, von welchem sie freien Blick auf ein Armutsviertel weit unter sich hat; sie sieht Menschen leiden, sterben und auch viele, die bereits tot sind; darunter auch Babys. 

Bella erblickt das Leid; u.a. die toten Babys.

Aus irgendeinem Grund habe ich beim Schauen des Films im Kino die Stelle so empfunden, als betrachte Bella eine Art „Kunstwerk des Grauens“. Kunst zeigt uns ja nicht immer nur schöne Dinge, sondern es gibt jene Kunstwerke, die unsere Wirklichkeit erweitern; die in gewisser Weise wie Nachrichten funktionieren, nur dass hier durch die Extrapolation gewisser Themen und Gefühle weit mehr als nur die pure Nachrichtenvermittlung stattfinden soll. Bellas Wirklichkeitsfeld wird in diesem Moment extrem erweitert. Ich empfand diesen Moment als jenen, in welchem Bella das Gerechtigkeitsgefühl in sich entdeckt, verbunden mit dem hier gefassten Lebensziel der “Weltverbesserung”.

Blick auf das Leid von oben

Warum es mir eher als Kunstwerk auch für Bella – nicht nur für mich – vorkam, liegt vielleicht auch nur darin begründet, dass Giorgos Lanthimos diesen Moment des leidvollen Lebens und Sterbens der Menschen tief unten in diesem ghetto-haften Loch so kunstvoll inszeniert; und weil Bellas Blick von weit oben aus sicherer Entfernung, sozusagen aus einem Elfenbeinturm heraus, wie auf ein Gemälde fällt. Ein weiterer Grund für den Eindruck eines (Gemälde-)Kunstwerkes kommt im zweiten Teil dieses Textes.

Wir beide – Bella auf der Café-Terrasse und ich im Kinosessel – sind „physisch sicher“ in dem Sinne, dass uns niemand genau hier und jetzt körperlich attackieren wird. Emotionale Sicherheit ist allerdings nicht garantiert. Mit emotionalem Erleben öffnen sich Körper*innengrenzen. Und das ist, was Bella passiert. Sie verliert beim Anblick der Menschen, aber vor allem beim Anblick der Babyleichen ihre emotionale Contenance. Eine minor gesture, oder vielleicht auch viele, haben stattgefunden. Sie rennt aus dem Café zur Treppe und will hinunter zu den leidenden Menschen, aber Harry hält sie davon ab; in einer Bildeinstellung kurz darauf sehen wir, dass die Treppe eh ein paar Stufen unter ihnen abbricht. Diese ruinenhafte Darstellung der Treppe symbolisiert auch die abysmale Distanz zwischen den gesellschaftlichen Klassen. 

Es scheint, als spüre sie das Leid an und in der ganzen Körperin*; es lässt sie erschüttern und weinen und schluchzen, der Schmerz bahnt sich Wege; u.a. beißt sie Harry in die Hand. Der Anblick hat sie also in gewisser Weise in das Leid selbst emotional involviert; es kriecht in ihre Körperin* hinein, räsoniert in ihr und verändert ihre Position in der Welt im selben Moment. Noch wissen wir im Kinosessel nicht, wie und wann sich diese Veränderungen zeigen werden.

Die soziale Hierarchie sichert Bella also ab nach unten, auch wenn die Treppe nicht gesichert ist; will heißen: fiele sie hinunter, würde sie immer noch als reiche weiße privilegierte Frau sterben oder im Überlebensfall schnell in ein Krankenhaus gebracht werden. Sie würde weder eines der namenlosen toten Babys noch eine hungernde Mutter werden, die ihr totes Baby aus den Armen legt. Wir beide – Bella und ich – sind hier und jetzt nicht nur physisch, sondern auch „hierarchisch sicher“; in dem Sinne, dass niemand uns im Kinosessel oder auf der Treppe in Alexandria die soziale Stellung wegnimmt. 

Bella und Harry kurz vor dem Treppenabbruch.

Was tut sie, um den Schmerz zu stillen, der sich in ihr ausdehnt? Bella setzt ihre Gefühle sofort in Entscheidungsfassen und Handeln um: Zurück auf dem Kreuzfahrtschiff rennt sie in ihre Kabine, nimmt all das von Duncan eben noch im Kasino erspielte Geld und will es für das sofortige Beenden des Leids hergeben. Zu dem Zeitpunkt hat sie vom Funktionieren dieser Gesellschaft verstanden, dass Geld die Macht hat, so etwas in die Wege zu leiten. Sie übergibt es vertrauensvoll zwei Schiffsangestellten am Schiffsausgang, die ihr Hilfe mit dem Hintergedanken anbieten, es dann selbst zu behalten.  

Mit diesem Geldverschenken ändert sich also nichts für die Armen da unten im Abgrund. Es ist ja auch nicht der Kampf der beiden Schiffsangestellten. Und – seien wir ehrlich – es ist nicht deren Schuld, wenn hier eine Person den Kampf gegen das Elend „falsch“ führt. Sie fühlen sich nicht verbunden mit Bellas Intentionen, und fühlen auch keine Verantwortung, und so ist deren persönliche Bereicherung nur konsequent.

Der logische Schluss aus Bellas Tat wäre nun: Schön doof, die Bella: jetzt hat sie das Geld verloren, und außerdem den Armen und Leidenden und Sterbenden gar nicht geholfen. Nix hat sie gecheckt und nix an den sozialen Missständen verändert. Um wirkliche Veränderung, ja die Abschaffung des Leids zu erreichen – denken die klugen, herablassend auf Bella schauenden Analyst*innen weiter – müsste sie sich rational durch eine profunde Gesellschaftsanalyse erschließen, wie sie wirklich im Rahmen des Funktionierens dieser Gesellschaft helfen kann. Sie müsste mehr über Sozialismus und über Kapitalismus wissen und blablabla, das ganze Gedöns. 

Und es stimmt: Bella hat den Kampf nicht adäquat mit den Mitteln der Gesellschaft gekämpft, die vielleicht das Leid wirklich beenden könnten. Oder? In dieser oberflächlichen Betrachtung – und an dieser Stelle enden gesellschaftliche Betrachtungen und Analysen oft – könnte man ihr Egoismus oder Beruhigung ihres schlechten Gewissens unterstellen. Das stimmt aber einfach gar nicht, denn auch wenn ihr Lösungsangebot in dem Moment unwirksam sein mag und es das reale Leid gar nicht berührt, hat ihre Geldhergabe nun weitreichende Konsequenzen für sie selbst: Sie ist jetzt mittellos in einer europatriarchalen Gesellschaft, in welcher sich gerade Frauen nur mit Geld soziale und physische Sicherheit kaufen können. Und sie ist zudem fernab von irgendeiner sicherheitsschenkenden patriarchalen Institution, in welcher sie ohne eigenes Geld in einer hohen Gesellschaftsklasse leben könnte – beispielsweise im Haus des Patriarchen, ihres Vaters. Gender und Class reichen sich hier hübsch intersektional die Hand. „Zum Glück ist sie immerhin weiß, jung und schön, und Rass, misogyne Altersdiskriminierung und permanente negative Bewertung ihres Aussehens kommen nicht noch bürdenvoll hinzu“, entfährt es mir nicht nur einmal, während ich den Text schreibe.

So wie sie in eine europatriarchale Welt gestolpert ist, von deren Hierarchien, Regeln und Gewalt sie – behütet in ihrem quite extraordinary Frankenstein-Rapunzelturm, der eben auch durchzogen ist von Patriarchat; nur eben mit privilegierter, wohlwollender und liebevoller Ausrichtung – nichts wusste, so wusste sie auch nicht, dass sie mit ihrer Geldhergabe im Grunde einen Akt begangen hat, der – ohne freilich den Bedürftigen zu helfen – in seiner Radikalität und Herzlichkeit dem von Sterntaler gleicht. Und sie wird auch auf ihre Weise wie Sterntaler lernen zu frieren (eher in metaphorischem Sinne, und auch nicht wirklich leidend), aber wie Sterntaler wird auch sie am Ende reichlich belohnt, dazu später mehr. Geld war bisher etwas, das unsichtbar war für sie, weil sie es einfach hatte. Jetzt lernt sie am eigenen Leib, was es heißt, als eine Frau im Europatriarchat einige Hierarchietreppenstufen niedriger zu rutschen. Zum Glück bleibt ihr auch während ihrer Arbeit im „Freudenhaus“ in Paris trotz einer apathischen Phase der Gefühllosigkeit ihre Sexpositivität erhalten. Kurz fürchtete ich um diese; denn diese ist es doch in ganz wesentlichem Maße, die sie neugierig und erfahrungslüstern durch die Welt navigiert.

Die Geschichte von Poor Things handelt von einer neurodiversen Frau, die auszog, die Welt kennenzulernen. Die nie das Fürchten lernt, weil Angst kein Gefühl ist, das Bella empfinden kann oder – vielleicht korrekter, das sie – wenn sie es denn empfindet – meisterhaft im Sinne des Lernens und des Erfahrungmachens nutzt und so in positivem Sinne einzusetzen weiß. Mit der Erfahrungslust ihrer Körperin* immer voraus, welche durchgängig in Kontakt ist mit ihren Gefühlen und ihrem sich rasant entwickelnden Intellekt und ihrer Sprache, lernt sie die sich ihr präsentierende Welt durch den staunenden Blick kennen und Gefühle und Erfahrungen in Worte bringen. Dem, was sie erlebt und was ihr widerfährt, legt sie keine Vorurteilsfilter auf; so ist und bleibt sie fähig, Erfahrungen eher durch den langen bzw. zeitunabhängigen Filter der hermeneutischen Sekunde (Konzept von Caroline Krüger hier und im 1. Teil dieser Reihe) in ihre Körper*in und in ihre Gemeinschaft zu übersetzen. Ein wunderschöner Moment – um ein Beispiel zu geben – ist der, in welchem sie völlig versunken und emotional komplett geöffnet der Sängerin auf einem Lissaboner Balkon lauscht. Durch diese komplette Offenheit, durch welche Gefühle und Wissen anderer Menschen in sie fließen können und welche sie sodann in ihrer ganz eigenen Aneignung verkörperin*licht, ergeben sich ihr neue Modi der Weltsicht, und damit verändert sie bereits die Welt.

Von daher – kehren wir mit Bella noch einmal zurück auf das Schiff und ihren Abgang bzw. Rausschmiss in Marseille/Paris durch ihre plötzliche Mittellosigkeit – ist der Geldverlust notwendig, um weiter lernen und staunen zu können. Bellas Art der Entledigung von Geld hat vielleicht nicht die Welt beeinflusst in den normalen Machtdimensionen, wie wir sie kennen und auf welche wir achten. Wenn wir aber dicht an Bella dranbleiben, so ändert die Geldhergabe fernab der “großen” gesellschaftlichen Machtgefüge alles für sie im “Kleinen”: Sie lernt gerade wegen ihrer immer über ihre Körperin* gemachten Erfahrungen Emotionen kennen, die sie nicht kannte (Mitgefühl, Trauer, das Gefühl, sich für andere einsetzen zu müssen und zu wollen, Loyalität und Vertrauen den richtigen Personen gegenüber, wahre Freund*innenschaft usw. usf.). Ihre Beziehungen baut sie über Körperin*arbeit auf, und diesen Erfahrungen erwachsen wiederum ihre Worte. Das alles ist ihre Sterntaler-Belohnung.

Worauf möchte ich hinaus mit dieser kleinen Analyse? Wenn Kunst auf uns wirkt und minor gestures, „minimale Bewegungen“ auslöst, uns berührt, kann sie unsere Wahrnehmung auf die Welt und unser Leben verändern. Das alles kann ein lebenslanger Prozess sein, und manche Verschiebungen nehmen wir vielleicht selbst kaum wahr. Energien und Aufmerksamkeiten werden Stück für Stück anders eingesetzt und verteilt, unsere Prioritäten verrücken, ja vielleicht auch unsere Geldflüsse und unsere Tätigkeiten, die dann wiederum unsere Energien, Ausrichtungen und Prioritäten ändern und neue Bekanntschaften bringen, deren Einflüsse und Energien und Erfahrungen miteinander wiederum Energien und Prioritäten verändern usw. usf. Es kann beginnen mit erstmal nur einer minimalen Verschiebung einer Sichtweise oder einer minimal veränderten Einstellung in einem Gespräch, was dann wiederum andere nachfolgende Gesprächspfade nach sich ziehen kann. Die in uns wirksame Kunst hat uns vielleicht durchlässiger und offener für andere Gedanken und Gefühle werden lassen. Das sind keine großen, offensichtlichen Bewegungen. Aber die kleinen, noch unsichtbaren Bewegungen (minor gestures) können irgendwann eben auch zu hochpolitischem Wirken führen. Wenn wir diesen kleinen Bewegungen Raum zum Wirken und Gedeihen geben, verändern wir mit ihnen den Lauf der Menschheit und die Pfade, die wir als Menschen begehen, nachhaltig. 

Es ist also nicht egal, dass Bella das Geld den Schiffangestellten geschenkt hat. Es beeinflusst ihr weiteres Agieren, Fühlen, Denken und die Suche nach ihrem Begehren maßgeblich. Indem sie ohne Plan neue und neuartige Beziehungsweisen auf unvorhersehbaren, unsicheren Pfaden eingeht, bringt sie sich selbst zum Staunen, und ruft Staunen hervor bei jenen, mit denen sie Beziehungen eingeht. Sie wirkt auf andere Menschen in gewisser Weise als Vorbild, und verändert dadurch die Orte, an denen sie sich aufhält, im Sinne dieser minimalen Bewegungen. 

Es darf keine toten Babys geben

Bellas emotionaler Ausbruch auf Alexandrias Treppen durch den Anblick des furchtbaren Leids und der sich durch die Geldhergabe anschließende soziale und wirtschaftliche Abstieg lässt nicht nur ihr soziales Gerechtigkeitsgefühl erwachen. Das Leid der fremden Leute erinnert sie eben auch an ihr eigenes Leid in ihrem vorherigen Leben als Victoria. Hier wird ein entscheidender Impuls gesetzt – wenn auch noch lange nicht auf bewusster Ebene, der sie irgendwann dazu bringen wird, ihrer Körperin*herkunft nachzugehen. 

Die toten Babys in Alexandria lassen sie etwas im vorbewussten Bereich spüren; die minor gesture wirkt somit in ihrer Körperin* noch auf ganz anderen Ebenen: es kommen körperin*gewusste Erinnerungen auf, die ihr vermitteln, dass sie die toten Babys in irgendeiner Weise ganz persönlich betreffen. Noch weiß sie nicht, in welcher Hinsicht. Vorerst nur das: Etwas vibriertEtwas schwingt in ihr. Das bedeutet: Auch etwas von dieser in ihr veranlagten persönlichen transgenerationalen Geschichte bringt sie in diese Weinattacke auf der porösen Treppe in Alexandria. Aber noch weiß sie nichts von ihrem Leben als Victoria. Vielleicht hat sie bereits eine leichte Ahnung, nachdem sie eine Frau in einem Hotel in Lissabon als „Victoria Blessington“ angesprochen hat. Aber ganz sicher weiß sie noch nichts von dem ungeborenen Baby und dem Suizidversuch als schwangere Frau. Nichts weiß sie von der genauen Zusammenstellung ihrer Frankenstein’schen Körperin*; Godwin hat ihr darüber Märchen erzählt und sie im Nichtwissen gelassen. 

Aber sie bekommt im Laufe ihrer Reise Hinweise. Und es gibt erste „minimale Bewegungen“, deren Schwingungen sie nicht vergessen oder verdrängen wird, denen sie vielmehr weiter folgen und in ihrer weiteren Aktivierung helfen wird. Dieses Schwingen und Spüren wird sie leiten und in einem Flow aus Geschehenlassen und Selbst-Initiieren Mosaiksteine zusammensetzen lassen. 

Der Anblick der toten Babys ist einer dieser aktivierenden Momente. Das Geldherschenken wird so auch interpretierbar als eine noch im Unbewusstsein ausgeführte Wiedergutmachung für irgendein in ihr wirkendes Schuldgefühl dem ungeborenen Baby gegenüber. Die unbewussten Anfänge einer Trauer zeigen sich und brechen sich bahn; der Biss in Harrys Hand kann auch vor allem hier begründet sein; und dieser Trauer wird ja überhaupt erst jetzt – in diesem Leben! – die Möglichkeit gewährt, sich zu zeigen.

Bella geht also dieser in gewisser Weise noch vor-ahnungsvollen, unbestimmten Berührung, diesem Erinnerungsvibrieren nach, aber immer alles zu ihrer Zeit. Der Anblick der toten Babys von Alexandria ist eine von vielen sich nach und nach offenbarenden Spuren, mit denen sie am Ende Godwin konfrontiert, woraufhin dieser sie über ihre Körperin*-Entstehung aufklären wird. Aber auch Godwin weiß nichts über ihr vorheriges Leben als Victoria, in welchem ihre Ehe derartig gewaltvoll war, dass sie einzig den Tod für sich und ihr ungeborenes Kind als Option sehen konnte. Um das herauszufinden, muss sie sich noch einmal in die Hände von Alfie, dem Ehemann von Victoria, begeben. 

Sie lernt, dass diese absolute Gewalt in der Ehe in einer europatriarchal geprägten Gesellschaft auf eine Frau wirken darf: die Gewalt ist gesellschaftlich akzeptiert, juristisch und psychopathologisch abgesichert – bei Ausbruchsversuchen aus dieser Gewaltanwendung kann die Frau in psychiatrische Anstalten weggesperrt oder sogar getötet werden – usw. usf.; Alfie klärt sie über die Macht, die er über sie als sein „Herrschaftsterritorium“ verfügt, genauestens auf.

Bella – jene, welche genau diese Victoria-Mutter und Victorias Kind in sich trägt – hat als furchtlose und neurodiverse Frankenstein-Figur weitaus mehr Optionen zur Verfügung als Victoria, und sie weiß diese zu nutzen.

Kunst hat die Fähigkeit, Dinge in den Körper*innen anzuregen, wobei – und das habe ich durch das Schreiben des Textes erst so richtig verstanden – das Kunstobjekt und das durch dieses angeregte persönliche Erinnerungsschwingen nicht in direktem kausalem Bezug zueinander stehen müssen. Ein rein rational tickender Mensch könnte zu Bella sagen: „Aber Bella, die toten Babys von Alexandria haben rein gar nichts mit dir zu tun!“ Aber was würde das nützen oder ändern? Wenn durch Schwingungen längst Prozesse in Gang gesetzt wurden? Berührung hat stattgefunden und lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Bella lässt sich die Lust und den Willen nicht nehmen, den schwingenden, klingenden, vibrierenden, resonierenden Spuren und vorbewussten Erinnerungen zu folgen, die langsam in ihrer Körperin* aufkommen und sich formen, nach oben treiben wollen, und für die sie nach und nach Worte finden wird. Bella lässt all das geschehen; sie gibt sich dafür die notwendige Zeit. So wie es Trevor Hall mit seinem eigenen Lied ging (dazu siehe TEIL 2 dieser Reihe): irgendwann – aber auch nur, sofern die Umstände günstig sind – wird Bella diesen Teil ihres Seins in der Welt verstehen.

Der Film fächert mit den als Frauen gelesenen Figuren Victoria und Bella ein großes Spektrum von Möglichkeiten europatriarchaler Gewaltausübung auf. Und er zeigt auch sehr verschiedene Umgänge mit dieser europatriarchalen Gewalteinwirkung. Opfer von Gewalt sind sie irgendwie beide… auch wenn man bei Bella wohl nie auf das Wort „Opfer“ käme, um das zu beschreiben, was sie erlebt. Victoria ist die zur Handlungsunfähigkeit und Ohnmacht gezwungene werdende Mutter, die den Tod diesem lieb- und leblosen Leben vorzieht. Bella ist Kind dieser Mutter und deren ungeborener Tochter; sie ist beide in einer Person plus etwas darüber hinaus in einer aufregend monströsen Form. Bella, die – mit dem Denken Erin Mannings betrachtet – als neurodivergente Person gelesen werden kann, schenkt mir neue Wahrnehmungsmuster. Ich habe zuvor nie über Autismus und Neurodivergenz nachgedacht und wie die hier stattfindenden Weltwahrnehmungen unsere neurotypische, ins Europatriarchat eingepasste Weltsicht durcheinanderwirbeln könnte. Mit Erin Manning und ihrem Buch Minor Gestures lerne ich das.

Frankenstein-Kreatur?! Ja natürlich, aber bitte mit Liebe!

Bella als Kind mit Godwin

Wie können wir der gehaltvollen europatriarchalen Spirale entkommen, wenn wir selbst so massiv von ihr geprägt sind? Nehmen wir Godwin, den Erschaffer und Vater Bellas: selbst eine Kreatur, die vom gewaltvollen Frankensteinpatriarchat in Verkörperung seines eigenen Vaters, einem Wissenschaftler “durch und durch”, erschaffen wurde. War Liebe im Spiel bei dessen Erziehung von Godwin? Wir können das nicht mit absoluter Sicherheit negieren. Die Grausamkeit, mit der er Godwin verstümmelte und lebenswichtige Organe entnahm usw. usf., entsprangen der Liebe zur Wissenschaft, in welcher Liebe und Emotion des Forschenden zum Forschungsobjekt absolut keine Rolle spielen darf. Um also Wissen zu schaffen, müssen – in der Logik von Godwins Vater – auch Opfer gebracht werden von Menschen, die der forschende Vater vielleicht liebt. Und es muss zudem Leichen geben, viele Leichen! Brauchbares Wissen für einen Mediziner ergibt sich nur, indem man einst lebendige Wesen seziert.

Dieses Verständnis für eine so verquer zugerichtete Liebe kann Godwin wiederum aufbringen; egal wie krass hier traumatische Dynamiken wirken. Es gibt diesen einen Moment größten Schmerzes und Leids mitten in so einer grausamen Versuchsreihe, aus welchem Godwin aber erstaunlicherweise Stärke bezieht, anstatt daran zu zerbrechen. Wie genau das geschieht, erfahren wir nicht; es mutet alles total irre an, aber es ist wohl der Moment, der ihn entscheidend prägt und aus welchem heraus er es schafft, sein ganzes Leben lang Haltung zu wahren und nicht kaputtzugehen. Das Verständnis für das Tun seines Vaters ist ein wesentlicher Baustein dafür, nicht kaputtzugehen. So sehr sich jetzt auch alle Psycholog*innen verzweifelt die Haare raufen.

Aber genau das ist die Prämisse des Films: Godwin ist multipel gebrochen worden vom Europatriarchat, und er hält trotzdem an diesem fest, folgt den Spuren seines Vaters, der den Tod seines Sohnes “zum Wohle der Wissenserweiterung durch die Wissenschaft” in Kauf genommen hätte. Wie kann daraus Gutes erwachsen in der nächsten Generation? In der Kunst war oft die Antwort: gar nicht. Dystopie und Horrorszenarien sind vielfach umgesetzt worden in Film und Theater. Viel schwieriger ist jedoch das Gegenteil. Wie kann so ein Mann ein guter Vater werden? Kann er seine (nicht-leibliche) Tochter außerhalb der europatriarchalen Frankenstein-Logik erziehen? Ist es möglich, der Gewaltlogik zu entkommen, indem er dieselben Werkzeuge zur Tochter-Kreation nutzt wie sein Vater? Die freche Antwort – ganz gegenteilig zu dem, was Audre Lorde sagt (“Die Werkzeuge des Meisters werden niemals das Haus des Meisters niederreißen.”) und ich mit ihr in vielen meiner vorherigen Artikel: ja! 

Ja! Hach. Wie gut, dass es feministische Science Fiction gibt! Nur hier sind derartig außerhalb der Ordnung stattfindende, aufwühlende Denkprozesse möglich. 

Mit der frankenstein’schen Schaffung von Bella hat er nicht die Intention – jedenfalls keine bewusste! -, das System zu stören. Er möchte vorrangig immer noch seinen Vater stolz machen und dessen Forschungsarbeit fortsetzen, wählte deswegen denselben Beruf wie dieser, und entwickelte so wie dieser die Leidenschaft für politisch und ethisch nicht ganz korrekte Experimente an lebendigen und toten Kreaturen.

Aber nun gibt es doch ganz geringfügige Abweichungen in der Parameter-Anwendung in seinem geheimen privaten Forschungslabor; er kommt etwas vom Wege ab. Er agiert intuitiver als ihm selbst bewusst ist, spricht auch selbst von “Schicksal” beim Finden von Victorias Körperin und deren Zustand. Er macht sich an einer weiblichen Körperin und ihrem ungeborenen Kind zu schaffen; und ich spüre förmlich, wie das Blut einiger Feministinnen an dieser Stelle gerinnt. Aber so ist es nunmal, seien wir ehrlich: weibliche Körperinnen entstehen weiterhin im Europatriarchat; es gibt kein weibliches Leben außerhalb, auch wenn wir Frauen uns später bewusst in unserer intellektuellen und emotionalen Haltung dafür entscheiden können, dass das Patriarchat bereits abgeschafft ist, was wiederum eine aktive und effektive Praxis ist, es tatsächlich abzuschaffen.

Godwin verfügt also über die Körperin von Victoria, und er hätte mehrere Optionen gehabt:

Godwin bringt Victoria zurück ins Leben, und mit ihr rettet er auch das Kind in ihr.

Oder er rettet nur das Kind und eignet es sich an.

Aber nein. Keine dieser Optionen wählt er. Er entnimmt das Gehirn der Mutter und setzt an dessen Stelle das Gehirn des Babys. Er probiert etwas Neues. Es ist ein “wissen schaffendes” Experiment; kein wissenschaftliches, da es politisch und ethisch nicht vertretbar ist, also deswegen muss es geheim bleiben innerhalb des Rapunzelturms. Damit nicht genug: er baut nicht nur zwei weibliche Körperinnen in eine Körperin*, sondern er übt dann in der Erziehung der so entstehenden Bella-Person weniger Gewalt an der aufregend gleichen, aber doch neuen Körperin* und ihrer neu erschaffenen Seele – an welche er freilich als guter Wissenschaftler offiziell nicht glaubt! – aus. Dafür lässt er ihr Zuneigung und Liebe zuteilwerden… bämmbämmbämmzisch macht es in meinem Gehirn. Ja wie ist denn nur die Liebe mitten in die Versuchsanreihung geraten, die er selbst als durchaus wissenschaftlich bezeichnen würde?? Die Liebe hat doch in der Wissenschaft wirklich rein gar nichts zu suchen??!

Oder??! Was für eine funkenschlagende Fadenverbindung! Kunst, wie sie leibt und lebt, darf nun entstehen! Denn wir wissen nicht, was geschieht, wenn Liebe und Emotionen in die Wissenschaft Einzug halten dürften! Wir erfahren es hier the very first time mit Bella! Wir sitzen im Kinosessel und haben keine Ahnung, was sie als nächstes tun wird! Wie sie die Welt wahrnehmen wird! Was sie sagen wird! Wie schnell sie lernen wird! Was sie überhaupt lernen wird! Wir wissen es nicht, und Godwin weiß es auch nicht! Alles ist pures Nichtwissen, aus dem aber neues Wissen geschaffen werden kann! Alles muss dokumentiert werden! Max, mach deine Arbeit!

Aber schon bald entzieht sich Bella dem Vater-Wissenschaftler als Objekt der Wissenschaft sowie als geliebte und liebende Tochter und beginnt, die europatriarchale Welt furchtlos zu durchschreiten und nach ihrer Reise ihre ganz eigene kleine Utopie im väterlichen Hause aufzubauen und zu leben. Sie bricht nicht mit dem Vater oder dem Ort ihres Entstehens; genauso wenig wie Godwin zuvor mit seinem Vater. Sie weiß: er hat getan, was er fähig war zu tun mit dieser Vergangenheit, in diesem gewaltvollen System, in diesem Leben. Und sie versteht seine intuitive, “schicksalhafte” Entscheidung für sie und gegen Victoria; trotz all der Täuschung und der Lügen und der daraus resultierenden Gefühle wie Wut und Enttäuschung, die sie ihm gegenüber in Worte zu fassen weiß. Und sie ist dankbar für dieses Leben, und auch das sagt sie ihm. Sie ist fähig, die Komplexität zu halten. Sie ist fähig, zu verzeihen und zu heilen. Sie zeigt uns, wie sie in einem fließenden lebendigen Prozess der europatriarchalen Gewalt und den Traumata furchtlos begegnet. Wie Godwin ist sie nicht fähig, daran kaputtzugehen. Während sie es durchlebt, besichtigt und durchspürt, zieht sie es beinahe gleichzeitig in den Vorgang eines Heilungsprozesses. Während ich mit ihr die riesigen Gänge von Alfies Haus durchschreite, spüre ich Victorias einstige Angst und Lähmung gleichzeitig mit Bellas explorativem furchtlosen Blick. In diesem Sinne heilt ihr Durchschreiten der Gänge bereits.

Sie baut nachhaltige liebevolle Beziehungen auf, obwohl auch sie die Werkzeuge ihres Großvaters wählt. Wie der Vater und Großvater studiert sie Medizin, und auch sie wird wiederum zu einer Frankenstein. Als solche wird sie Alfies Kopf das Gehirn einer Ziege einsetzen, weil er sie zuvor genauso in sein „Herrschaftsgebiet“ verwandeln wollte wie Victoria. Aber mein Herr, lassen Sie mich in Ihr Ziegenohr flüstern: die Zeiten haben sich durch lauter „minimale Bewegungen“ geändert. Ein Leben ist in ein anderes übergegangen, und sie – Bella – ist eine Andere als du dachtest; sie ist etwas Neuartiges, sie ist dir und deiner Gewaltanwendung weit überlegen. Diese Gabe hat sie aufgrund ihrer Körperin*, die ihr der leicht anarchistische Patriarch Godwin geschenkt hat. Was können wir von ihr und ihrer Initiierung von Prozess lernen?

Bella als erwachsene Frau mit Godwin auf dem Sterbebett

Tod Leben Übergang

Und dann noch die Frage, die seit Anbeginn in mir geistert…  ist Victoria eigentlich jemals richtig tot? Also ich meine… so richtig tot, oder was bedeutet „Tod“ in diesem Falle eigentlich, gibt es „Tod“ überhaupt in diesem Film? Oder handelt es sich nicht vielmehr um einen „Übergang“ in ein anderes Leben? Godwin sagt zu Max, dass sie noch nicht tot war, dass er auch ihr Leben und das des Babys in ihr hätte retten können… aber was hätte es dieser ihm unbekannten Frau gebracht, die gerade willentlich ihr Leben beenden wollte? Er weiß, was ihr als einer Frau, die Suizid begehen wollte, in dieser Gesellschaft blüht, sollte er sie retten (Psychiatrische Anstalt usw.) und deswegen sieht er seine Entscheidung gegen Victorias Leben und für Bellas Leben als schicksalhaft und richtig an. 

Dieses Blatt findet Bella in Victorias Zimmer

Victorias „Übergang“ ist jedenfalls durchlässig für das Lebendige, würde ich sagen…  und damit wird es wieder herrlich mystisch: Es geht um Wiedergeburten, um Belohnungen, aber auch um Strafen dafür, das Leben beispielsweise nicht der Seele und der Liebe gewidmet zu haben. Die Strafe in Alfies Falle ist, im alten Körper mit einem Ziegengehirn wiedergeboren zu werden. Wie viele Leben muss Alfie nun als Ziege leben? Wann darf er wieder Mensch sein und will er es dann überhaupt noch? 

Der Film behandelt damit auch epigenetische Fragestellungen und transgenerationale Traumata, die also von Generation zu Generation weitergegeben werden, und berührt nicht zuletzt auch das mystische Thema „Leben nach dem Tod/Leben“. Manche Traumata gehen weit über unser jetziges Leben hinaus, haben ihren Ursprung vielleicht in einem unserer vorherigen Leben. Ich meine das durchaus so ambivalent und unklar, wie es hier steht; das habe ich schon in dem vorherigen Abschnitt zur Herkunft und Wirkungsweise von Amys Liedern klargemacht. 

Aber es kann gern auch eher sozio-historisch gelesen werden á la „die jahrhundertelangen Verfolgungen von und Gewalteinwirkungen auf als Frauen gelesene Personen – beispielsweise als bösartige Hexen – wirkt auch heute noch in den Körper*innen nach“. Ich persönlich fände es zu schön, wenn Kunst es schafft, dass wir wieder durchlässiger werden und weniger dogmatisch, was erlaubt und was nicht erlaubt ist an menschlichen Erfahrungen und sinnvollem Denken. Wissenschaftskritik, wie sie in Poor Things durchdringt, kann uns sensibilisieren für den Gedanken, dass es in einigen Lebensbereichen, die es zu erforschen gibt, durchaus angebracht wäre, einige Parameter in der wissenschaftlichen Versuchsaufstellung mit Leib und Seele zu verrücken, so dass sie dem Lebendigen auf dieser Welt gerechter wird.

Und ich würde mir wünschen, dass wir wieder offener werden hin zu mystischen Assoziationen, auch wenn wir darüber niemals je alles wissen werden und somit konstant mit vielen Unklarheiten lernen müssten auszukommen. Ich weiß, das mögen wir Europatriarch*innen gar nicht. Wieviel bunter und tiefer, sinnlicher und freudvoller aber wären unsere Leben, wenn wir auch mystische Erfahrungen wieder einfacher in das menschliche Erleben integrieren könnten. Poor Things hilft uns dabei, uns dahingehend etwas lockerer zu machen.

Es ist nichts passiert. Nur ein kleines Denkexperiment. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und wer weiß, was die vielen minor gestures gerade so in uns veranstalten, wenn wir der hermeneutischen Sekunde eine Chance geben.

Feministische Utopie im Patio: Bella mit ihren Freund*innen, Ziegen-Alfie und Felicity (Margaret Qualley), ebenfalls mit neurodivergenter Körperin* (Godwin konnte es einfach nicht lassen, nachdem Bella weg war), die alles anders lernt und macht als Bella.

***

Ausblick:

Im letzten Teil dieser Reihe werden einige Beispiele und philosophischen Fadenverbindungen noch einmal aufgenommen und Sensoren und Orte für eine Denk- und Fühlpraxis entwickelt, die es uns ermöglicht, im Kunsterschaffen und Kunsterleben den planetaren Grenzen wieder näher zu kommen. 

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