Forum für Philosophie und Politik
Was bisher geschah:
In Teil 1 habe ich anhand von drei Beobachtungen der letzten zwei Jahre das aufgekommene Begehren in mir erklärt, der Bedeutung von Kunst in meinem Leben nachzuspüren und zu fragen, wie es möglich wird, mit Kunsterleben in die planetaren Grenzen zu gelangen. Für dieses Nachspüren habe ich die Konzepte hermeneutische Sekunde von Caroline Krüger und minor gesture von Erin Manning in Verbindung gebracht, die sehr hilfreich für dieses Anliegen sind.
In Teil 2 ging ich der Frage nach, welche Freiheiten und Grenzen Künstler*innen von der Gesellschaft bekommen, was ihre Aufgaben sind und was passiert, wenn Kunst politisch vereinnahmt wird oder sich Künstler*innen irgendwo auf unsicherem Gebiet zwischen Kunst und Politik befinden. Für diesen Teil habe ich die Dokumentationsvorführung des Films Fragmente aus der Provinz im Herbst 2024 in Esslingen genutzt, kurz über Amanda Gormans Gedicht-Einsatz bei Joe Bidens Inauguration 2021 gesprochen, und ich war in der Lesung „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“ in Esslingen und habe mich sodann imaginär gemeinsam mit den drei Frauen betrunken, um zu wissen, wie sich das gute Leben leben ließe. Mit der Künstlerin Rose B. Simpson und dem Singer-Songwriter Trevor Hall ging ich der Frage nach, wie „icky-shit-Kunst“ vermieden werden kann. Zudem habe ich anhand der japanischen Geschichte Vom Jungen, der Katzen malte, die Frage aufgerollt, ob von Menschen gemachte Kunst ausschließlich für Menschen gemacht wird, und ob hier Reziprozität nicht tiefer und weitergedacht werden muss.
In Teil 3 wurden vor allem die letzten zwei Fragen aus Teil 2 weiterbewegt. Ich bin der Kunst und ihrem Fadenspinnen, -zerstören und -wiederverknüpfen weiter gefolgt und landete dabei bei Marina Abramovícs künstlerischen Transformationen. Zudem habe ich über die hohe soziale Stellung der Dichtkunst in der vedischen Gesellschaft gestaunt. In dieser Kultur stand der Verstand im Dienste des Herzens. Im Podcast Freiheit Deluxe habe ich in einem Interview von Jagoda Marinić mit Antje Rávic Strubel ein Beispiel für ein In-Bewegung-Setzen, ein gelebtes Mehr gefunden. Die am Ende aufkommende Frage, wie sich die Welt uns Menschen über Kunst zeigen kann, ging im 4. Teil weiter nach.
Im 4. Teil habe ich dafür plädiert, dass sich alle Menschen dem Kunsterschaffen zuwenden, weil ich meine, dass Kunst und im Speziellen eigenes künstlerisches Tätigsein ein Tor sein kann, durch das sich die Welt uns Menschen zeigen kann und Beziehung zwischen Welt und Künstler*in entsteht.
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— Aus aktuellen Text-Ausdehnungsgründen splitte ich den fünften Teil noch einmal auf. Meine Gedanken zu einer Szene in Poor Things befindet sich dann in 5.2 —
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Nachdem ich in Kapitel 4 dafür argumentiert habe, dass jede Person sich als Künstler*in sehen können und als solche praktizieren sollte, möchte ich jetzt auf drei Künstlerinnen zu sprechen kommen, die sich in ihrer Begabung sehr stark vom Durchschnitt unterscheiden; die ganz klar eine Gabe in die Wiege gelegt bekommen haben.
Ich weiß nicht viel aus dem Leben vom Amy Winehouse. Um mehr über sie zu erfahren, habe ich zuerst den Film Back to Black und danach noch die Dokumentation Amy gesehen. Besonders die Doku unterstützte mein teils sehr wilden, spekulativen Assoziationen. Relativ neu war für mich, dass sie eigentlich von vielen Menschen umgeben war, die sie liebten und das Beste für sie wollten (Freundinnen, Oma, erster Manager), in den entscheidenden Momenten aber nicht an sie herankamen oder nicht da waren, und Menschen, die sie zwar liebten (Mutter und Vater), aber nicht zu wissen schienen, was sie brauchte und was gut für sie war (Vater) und es einfach nicht geben konnten, aus welchen Gründen auch immer (Mutter). Als ich in der Doku die Mutter einmal neben Amy bei einer Preisverleihung sah, schlüpfte mir der Satz raus, „es ist immer wieder interessant, welche Frau welche Frau gebiert“. Natürlich gebiert eine Frau nicht eine „fertige Frau“, aber als sie so nebeneinanderstanden, war es eben frappierend, wie wahnsinnig unterschiedlich die beiden Frauen waren, was Energie, Charisma usw. anging.
Unter vielen Musikerinnen, die ich liebe und verehre, nehme ich sie als Beispiel, weil viele ihrer Lieder, aber besonders „Back to Black“ so große Resonanzen in mir auslöst. Ihre Musik klingt tief in mir, sehr sehr tief; ich würde meinen, in Tiefen, von deren Existenz ich nur durch diese Art von Resonieren überhaupt etwas weiß. Ansonsten weiß ich aber nichts über diese Tiefen. Dazu später noch mehr.
Sie hat mir so viel geschenkt. Mit ihrer Stimme und ihrer Begabung hat sie vielen Menschen so viel geschenkt. Und deswegen kam in mir die Frage auf: Wie funktioniert Geben und Nehmen in Hinblick auf so ein Geschenk in unserer Gesellschaft?
Ich habe das Gefühl, dass unsere Form der Gesellschaftskonzeption es nicht schafft, einen solchen mit so vielen Begabungen gesegneten Menschen etwas länger im Leben – gar in einem guten Leben – zu halten. Vielleicht ist es nicht unsere Aufgabe, kann schon sein. Aber wenn ich schaue, welche Stellung Poet*innen in der vedischen Kultur hatten, dann bin ich relativ sicher, dass sie so einer Poetin-Künstlerin wie Amy nicht gesagt hätten, „schenk uns deine Lieder, du bekommst ja auch einen Haufen Geld dafür, also krieg deinen Shit selbst zusammen, dafür sind wir nicht zuständig“. In der vedischen Kultur sahen es die Menschen als ihre Pflicht an, für das Wohl jener zu sorgen, die über so eine besondere Gabe verfügten und sie nutzen konnten und wollten. Eben weil sie für ihr Gesellschaftskonstruieren davon profitierten, ein Mehr erhielten; ein Mehr, von dem sie ohne diese Künstler*innen und Weltvermittler*innen nichts erfahren würden; eben weil nicht alle mit so einer Gabe beschenkt werden. Durch ihre Weltvermittlung steht eine Gesellschaft niemals still, weil auch das Vermittelte, also die Welt, niemals stillsteht. Je mehr also vermittelt wird und dieses Vermittelte in kulturelle Praktiken eingebunden wird, desto mehr ist die Kultur in Bewegung. Derartige Vermittler*innen können den Sound, den drum des Universums in sich fühlen; sie haben Zugang zu anderen Sphären und vielleicht auch anderen früheren und vielleicht auch zukünftigen Leben und können diese in das jetzige Leben in Form ihrer Kunst einbringen. (Ja, ich mute euch Leser*innen ein bisschen Mystik und Transzendenz zu.) Aus dieser Art von Künstler*innen sprudelt die Welt förmlich hervor. Als ich vor ein paar Tagen im Rostocker Volkstheater saß und Mozarts „Genie“ inszeniert sah („Mit vier seine ersten Stücke geschrieben, mit zwölf u.a. seine erste Oper“), fühlte ich eine ähnliche Art von „künstlerischem Sprudeln“ bei beiden.
Ich denke mir, dass die vedische Kultur ein Gefühl dafür hatte, dass so begnadeten, begabten, gesegneten Personen viel mehr Tore zur Welt offenstanden, dass sie mehr Einflüssen dieser Welt ausgesetzt waren, mehr sehen, spüren und ausdrücken konnten, in mehr Beziehungen mit der Welt standen und in ganz logischer Konsequenz Grenzen nicht setzen konnten, die für das Überleben auf der Welt – also nicht nur in der europatriarchal organisierten Gesellschaft – aber notwendig sind. Eine solche Person benötigt Schutz. Für sie gelten andere Regeln, denn ihre Weltwahrnehmungssensoren sind viel größer, weiter, tiefer als von vielen anderen Menschen, und sie können dadurch auch in überraschenden Momenten zur Welt hin geöffnet werden – sicher haben viele von ihnen auch eine andere Wahrnehmung von und Zugang zu Zeit und Raum. In diesen Momenten fällt es ihnen viel schwerer, die Schutzmauern hochzufahren, die diese Gesellschaft aber von uns allen – auch von ihnen – für ein gutes Leben innerhalb dieses gesellschaftlichen Rahmens verlangt. So kommt es, dass aus einem Segen schnell ein Fluch für die Künstler*in werden kann.
Wir konnten als Gesellschaft also einer so welt-hochsensiblen Person wie Amy Winehouse keine Heimat geben, kein gutes Leben sichern. Dabei legte sie uns alles zu Füßen und in unsere Herzen, was sie nur geben konnte. Wenn ich an sie denke, überkommt mich weiterhin oftmals ganz unvermittelt ein Schmerz, eine unabgeschlossene Trauer. Ich möchte in einer Gesellschaft leben, die solche Menschen halten kann, einfach weil sie die Fähigkeit besitzen, ihre Flügel weit über die europatriarchalen Grenzen zu schwingen, und zudem über die Gabe verfügen, uns das Gefühl dieser Flüge zu vermitteln, sodass wir auch etwas davon tief in unseren Körper*innen fühlen und verstehen können.
Ich wünschte mir, dass wir dich, Amy, hätten halten können.
Wahrscheinlich ist Britney Spears keine dieser “Durch-und-Durch-Künstler*innen”; beispielsweise in der Form, wie es Amy Winehouse war (Amy würde auch ganz klar „Nein!“ sagen; sie würde ihre Augen verdrehen, die Lippen spitzen und gelangweilt sein; so wie sie es tat, als eine Journalistin sie bezüglich ihrer künstlerischen Ausdruckskraft mit Dido in Beziehung setzte (in der Doku Amy zu sehen). Anfang der 2000er traf Britney jedenfalls den Nerv einer Zeit; die Musikindustrie wusste sie und ihr Können perfekt einzusetzen.
Und nun – etwas mehr als 20 Jahre später – schaut die ganze Welt ihr zu bei ihrem weltlosen Umherfuchteln mit scharfen Messern in knappen Höschen und Blüschen. Oder wer weiß das schon genau: vielleicht ist das welthaltige Kunst, was sie da tut, wir können es nur nicht deuten. Ich glaube jedenfalls eher, hier haben sich zu viele weltlose Fäden verknotet, und niemand hat die Geduld und die Fähigkeit, diese Fäden mit ihr gemeinsam zu entwirren. In diesem Punkt sehe ich sie ähnlich haltlos und einsam wie Amy. Oftmals reicht Liebe (zumindest in unserem heutigen Verständnis) nicht aus; es braucht hochspezialisierte Sensor*innen… nenne ich sie jetzt mal… jene Menschen, die erfühlen können, wo die weltlosen Knoten bei einer Person sitzen und mit der Person in einen Prozess der Lösung und Neuverknüpfung mit welthaltigen Fäden gehen, oder sie dazu befähigen, diesen Prozess auf ihre eigene Weise anzugehen und fortzuführen. Ich komme darauf in der Analyse von Bellas Entwicklung in Poor Things nochmal zurück. Ein weiterer loser Faden an dieser Stelle also.
Wir Europatriarch*innen kennen dieses Abdriften gut. Das Verrücktwerden. Wir tun so, als gehörte es nicht zu uns und also würden wir keinen Rahmen finden für diese Frau und ihr Tun, das in unser Weltbild passen würde. Dabei ist ihre weltlose Performance ein großer Teil unserer kulturellen Praktiken; nur dass diese Praktiken in der gesellschaftlichen Hierarchie nach unten, und von der “Normalität“ – Erin Manning würde vielleicht Neurotypikalität sagen – ausgehend ins Abseits geschoben sind, in das Dunkle, in all die heterotopen Orte wie Krankenhäuser und Gefängnisse und psychiatrische Kliniken.
Anfang der 2000er jedenfalls stand Britney als Pop-Stern im Zentrum unseres europatriarchalen Rahmens; und ich – nur ein paar Jährchen älter als sie – fand sie wegen diesem Mainstream-Fame auch alles andere als cool und ganz sicher kein weibliches Vorbild für mich. Sie war keine, der ich Autorität gegeben hätte, und ganz sicher hielt ich sie nicht für eine „echte“ Künstlerin.
Und nun letzten Sommer… lernte ich ihre Kunst über die somatische Kunstrezeption meiner neunjährigen Tochter noch einmal kennen. Wenn diese in den Sommermonaten des Jahres 2024 Britneys Lieder hörte, bekam sie riesige leuchtende Augen, sang – besser schrie – sie mit, ihre kleine Körperin stand unter Strom und tanzte wie wild, als läge darin ein natürlicher Automatismus verborgen. Der auf Massenkonsum ausgerichtet Beat, Britneys Gesang, ihr Aussehen, ihre Ausstrahlung, ihre Performance gingen ihr ins Blut über. Sie dachte sich eine Choreografie nach der anderen aus. Choreografien, die ein wenig zu viele “sexy” Bewegungen enthielten und mich etwas ratlos zuschauen ließen… muss ich eingreifen? Muss ich jetzt feministisch erziehen, ist jetzt der Zeitpunkt? Ich zögerte und konzentrierte mich ganz auf das, was ich fühlte aus ihrer Perspektive. Ich fühlte, wie Britneys Stimme mein Kind in einen Rausch versetzte und sie unbändig kreativ werden ließ, weit über die europatriarchalen Grenzen hinaus.
Hier waren viele welthaltige und weltlose Fäden miteinander verknotet. Ich nahm mir vor, mich zu gegebenem Zeitpunkt zu bemühen, die weltlosen meiner Tochter gegenüber ins Gespräch zu bringen, wenn sie sich nicht eh von alleine lösten. In dem Moment aber ließ ich Britneys Magie wirken. Und während ich meiner Tochter zuschaute, überkam mich ganz plötzlich eine Rührung und eine Dankbarkeit Britney gegenüber. Mir wurde bewusst, dass sie und ihre Kunst mich gerade beschenkt, indem sie meine Tochter in einen Zustand des Darüber-Hinaus (Erin Manning; ab Teil 1 der Reihe) versetzte. Mit der Dankbarkeit kam der Respekt.
Ich schaue mir nun erneut ihre Messer-Videos an. „Fans sorgen sich um psychisches Wohlergehen“, steht darunter, und ich lese, dass Britney auf Instagram versichert, es handle sich um keine echten Messer, … dann: „Polizei-Einsatz“, … „Eine Gefahr für sich selbst zu sein, ist kein Verbrechen“, hat die Polizei wohl nach dem Einsatz gesagt (rnd). Hmmm. Das klingt alles so falsch, von allen Seiten. Oder? Ich finde hier keine Zugänge.
Also kehre ich zurück in meine Körperin und frage mich: Wie kann ich mich angemessen bedanken? Wer passt auf Britney auf, wer sorgt sich um ihre Welthaltigkeit? Ihre Grenzenlosigkeit ist gefühlt anders gelagert als die von Amy. Amy konnte ihre welthaltigen Fäden, die ständig aus ihr heraussprudelten, nicht in die weltlosen dieser Gesellschaft verankern; sie suchte Halt in den weltlosen Fäden (Drogen), die unsere Gesellschaft zur Verfügung stellt.
Britney wurde von Anfang ihrer Karriere an in weltlose Fäden eingebunden. Und sie kommt mit ihren weltlosen Fäden bis heute nicht an die notwendigen welthaltigen, erdenden Fäden heran. Ich wünschte, ihr würde ein Tiefertauchen gezeigt. Ich wünschte, Sensor*innen könnten sie aus den vielen weltlosen Fäden befreien.
Unsere Gesellschaft verlangt autonome oder autarke Subjekte. Aber Britney ist genau da schwach, wo unsere Gesellschaft besonders harte Europatriarchalisierung im Sinne des autonomen Individuums einfordert: unser aller Aufgabe ist es, uns genau das Fünkchen europatriarchal zugeschnittene Welthaltigkeit zu erhalten, dass wir überlebensfähig und zumindest autonom erscheinen. Dafür machen wir zur Not Yoga, meditieren und manifestieren: im Sinne und zum Nutzen des gesellschaftlichen Funktionierens. Wir dürfen die welthaltigen Fäden kurz in die Hand nehmen und fühlen und Fotos von dem (manchmal dann schon gefakten, imitierten) Moment schießen und ins Internet stellen, aber bitte bitte – sagt das Europatriarchat – legt sie dann wieder zurück! Sonst entgleitet ihr mir, eurem System! Ich gebe euch dafür Fäden in die Hand, die welthaltig erscheinen, und auch davon könnt ihr Fotos machen und ins große weite WWW stellen, das ist doch ein guter Deal, oder? Am besten für mich ist, wenn ihr unechte und echte Fäden nicht mehr unterscheiden könnt, dann kann ich euch weiter in die Zerstörung tanzen! Oh, ich bin so gut darin, seit Jahrhunderten! So gut so gut so gut, it´s all happening. Danke Britney!
Jetzt spreche wieder ich. Britney, hör mir zu: mein Dank ist ein anderer: Ich danke dir für das Darüber-Hinaus, das du in meiner Tochter ausgelöst hast.
Ich fühle, wie du uns weiter beschenken möchtest. Dein Messertanz ist ein Geschenk an uns. Wir nehmen das Geschenk in die Hand und drehen es angeekelt hin und her und stellen es dann in den dunklen feuchten Keller, ins Gruselkabinett. Ich kann mir vorstellen, dass du denkst, du müsstest uns überraschen; beispielsweise mit neuen Fähigkeiten und Fertigkeiten, um im Gespräch zu bleiben, um einen Trend zu setten. Und wir? Wir Europatriarch*innen, die wir den Schein des autonomen Seins zu wahren wissen, lästern. Von oben herab beurteilen wir: „Das, Britney, das ist kein cooler Trend, wird nie einer werden!“ Du bist von uns abgeschrieben und abgeschoben worden ins heterotope Kuriositätenkabinett. Aus diesem heraus sorgst du nicht mehr für magische, artful moments, sondern messerfuchtelnd für vielkonsumiertes, aber geringgeschätztes Entertainment im Spätkapitalismus. Auch hierfür bedankt sich das Europatriarchat.
Ich bedanke mich dafür nicht.
Ich wünsche mir, dass wir dich halten können.
„It’s a weird thing this industry asks of you. At one moment you have to be so vulnerable and so available, so open, and at another you have be really incredibly tuff.”
Christina Aguilera im Video-Intro zu ihrem Lied „Maria” von 2018 (an dem anscheinend auch Kanye West mitgeschrieben hat… oookay… so weird sind die Fäden am Ende wieder verbunden)
Ein drittes Beispiel: Christina Aguilera, eine meiner absoluten Stimm-Göttinnen. „Beautyful“, OMFG!, wie viele Stunden verbrachte ich als Studentin auf dem Fußboden liegend zwischen meinen zwei riesigen Sony-Boxen und ließ das Lied durch mich strömen. „Can’t Hold Us Down“ und Dirrty“ ließen mich dann wieder aufspringen und wild lostanzen. Wenn in Diskos diese Lieder – leider so selten! – gespielt wurden, trat ich in eine Art glückseligen Trance-Zustand ein, Beat, Rhythmus und Stimme vibrierten und ließen neuartige Gefühle und Bewegungen in mir und aus mir heraus entstehen, von denen ich gar nicht wusste, dass sie in mir entstehen und herauskommen konnten und wollten. Und wie sie das wollten!
Nicht viele Menschen bekommen so eine Stimm-Gabe von der Welt in die Wiege gelegt. Ella Fitzgerald, Celia Cruz, Whitney Houston, Mariah Carey schießen mir spontan in den Kopf. In all diesen Stimmen ist die pure Welthaltigkeit enthalten, auch wenn sich in ihrer europatriarchalen Kunstpräsentation hier und da immer auch welthaltige und weltlose Fäden miteinander vermischen (müssen).
Ich sah Christina vor vielen Jahren einmal eher zufällig in einer Talkshow. Da redete sie und begann dann plötzlich einfach so zu singen. Die Töne, die in Perfektion aus ihr sprudelten, schienen ihr keinerlei Anstrengung abzuverlangen; jedenfalls verzog sie keine Mine, während sie in den ihr möglichen vier Oktaven herumtanzte. Ich blieb danach noch lange mit offenem Mund vor dem abgeschalteten Fernseher sitzen. Bis heute bin ich sprachlos. Wie kann jemand so eine Begabung haben? Ich fand in den herkömmlichen Erklärungsrahmen keine Erklärung dafür.
Ich habe mir letzte Woche eines deiner Parfums gekauft, Christina. Irgendwas mit „Moon …“, es gab im Rossmann einen 20%-Rabatt auf alle Produkte, auf denen dein Name stand. Und ich fand es wirklich gar nicht so schlecht und auch nicht so teuer. Ich habe seit 20 Jahren kein Parfum mehr getragen, ich bekomme davon Kopfschmerzen. Für dich habe ich eine Ausnahme gemacht. Ich führte dein Parfum an mir ins Theater, zu „Mozart“. Ich mochte die Schauspielkunst, den Tanz, die Musik, die Kostüme sehr, ich mochte auch den Gesang darin sehr. Aber dieser neuartige Geruch an mir, Christina, verwirrte mich; ich musste ständig an deine Stimme denken. Wer kann es mit deiner Stimme aufnehmen? Der Vergleich war unsinnig und ungerecht. In der Pause rubbelte ich auf dem Damenklo an meinem Hals herum und versuchte, den Duft von mir abzubekommen, mit dem du jetzt sicher viel Geld verdienst… mehr Geld als mit deiner Musik? Ich konnte mich danach mehr in den Hier-und-Jetzt-Gesang im Theater hineinbegeben.
Aber ich ging danach auch mit der Frage nach Hause: Warum, Christina, warum singst du keine Lieder mehr, die mich berühren, wo das doch nun wirklich gar nicht so schwer wäre, wo ich deine Stimme so liebe? Und zu dieser Frage gesellt sich auch jetzt – wie schon so oft zuvor – die Frage hinzu: Wenn eine Person so eine Gabe in die Wiege gelegt bekommen hat, ist sie dann nicht verpflichtet, diese Gabe zum Wohle aller einzusetzen? Wir Europatriarch*innen zücken an dieser Stelle schnell den Freiheitsbegriff: wenn sie nicht mehr mag, dann muss sie nicht. Jeder* und jede*, wie sie will. Aber ich frage nicht im europatriarchalen Rahmen.
Und da ich die Antwort nicht weiß, kann ich mich an der Frage nur imaginär entlanghangeln: Was würde ich mich fragen, wenn ich so eine offensichtliche, aus mir heraussprudelnde Begabung geschenkt bekommen hätte? Komischerweise kommt die Antwort ebenso einfach, schnell und eindeutig aus mir herausgesprudelt: Ja! Ja ja und nochmal ja, ich möchte singen! Ich würde alles ausprobieren wollen mit meiner Stimme, was ich mir vorstellen kann. Ich würde mit ihr in eine Erdhöhle kriechen und hören, wie sie da klingt und was sie da tut. Ich würde mich auf den höchsten Turm dieser Welt stellen und singen, von dort meine göttinnengleiche Stimme der Welt schenken. Ich würde alles an Resonanzen in die Welt schicken und schauen, was passiert. Ja! Ja! Und nochmal ja! Für mich wäre es auch okay, wenn sich ein paar weltlose Fäden mit reinmischen. Denn mir rein welthaltiger Form würde ich wohl momentan zu wenige Menschen erreichen. Denke ich. Mit einer solchen Stimme würde ich aber alle alle alle erreichen wollen, die auch nur in den Genuss kommen wollen würden.
Wie leben mit so einer Stimme in dieser Gesellschaft? Das kann ich auch nur aus meiner heutigen Verfassung heraus beurteilen: Weltlose Fragen zu mir und meiner Kunst würde ich jetzt an mir abprallen lassen, aber vielleicht hätte ich einen anderen Tag Kraft und Geduld für sie. Oder vielleicht würde ich sie einige Wochen oder Jahre durch mich durchlaufen lassen und hätte irgendwann eine kompatible Antwort in Form eines welthaltigen Liedes, das viele minor gestures in mir selbst und den Zuhörer*innen auslöst.
Gerade jetzt, wie ich mich heute und jetzt fühle, hätte ich zudem Lust, Kurse zu geben, damit andere Menschen ihre ganz eigenen und mit anderen verbindenden Töne in sich entdecken.
Ich würde allgemein auf den Respekt meiner Mitmenschen hoffen. Lasst mich sein. Lasst mich schenken. Aber wickelt mich nicht in lauter Blödsinn ein. Nutzt mich nicht aus. Kein Drama. Feiert mich, okay, aber feiert eher, dass solche Schönheit wie meine Stimme in dieser Welt möglich ist. Findet die Liebe zur Welt durch die Resonanzen und Bewegungen, die mein Gesang in euch auslösen. Wenn ihr euch dankbar zeigen wollt, dann: Schenkt mir Geduld. Schenkt mir Erdung. Schenkt mir Toleranz. Schenkt mir Grenzen, die ich mir nicht selbst setzen kann, weil meine Begabung mich ständig und unverhofft in den unmöglichsten Momenten öffnet. Schenkt mir Liebe. Das alles nur, wenn es euch danach gelüstet aus wahrhaftig gefühlten Reziprozitätsgründen.
Ansonsten – wenn ihr das nicht fühlt – auch okay, aber lasst mich in Ruhe und lebt euer Leben. Macht mich nicht fertig. Labert keinen verletzenden Scheiß, der mich verärgern und kaputtmachen könnte, übertragt oder projiziert eure Sorgen nicht auf mich.
Der letzte Absatz entspringt der Angst vor euch und eurer Drama-, Höhepunkts- und Zerstörungslust unter dem Deckmantel der „Sorge um mich, und deshalb sendet ihr mir die Cops, die danach sagen werden, dass ich ruhig eine Gefahr für mich selbst darstellen darf“. Ach, nun bin ich in Britney übergegangen. Oder war es Amy? Ach…
Die toxischen Zirkel sind eng. Fuh. Ich setze mich zu Marina Abramovíc (mehr dazu siehe TEIL 3 dieser Reihe) und atme tief durch.
Mein Hineindenken in eine Person mit der Gabe einer göttinnengleichen Stimme beantwortet nicht direkt die Frage, ob eine Person mit einer großen Gabe oder Begabung verpflichtet ist, sie in ihrer Lebenszeit auch zu nutzen. Wenn sie aus ihr heraussprudelt wie Wasser aus einer Quelle, dann wäre es vielleicht mehr Gewalt, sie am Sprudeln zu hindern. Aber kann eine Gesellschaft wie die unsere eine solche „grenzenlose“ Person halten, sodass sich die Person entfalten könnte, ohne ständig von uns verletzt zu werden? Hier sind die weltlosen und welthaltigen Fäden nicht gut zu trennen.
Künstler*innen müssen mit der Welt verbunden sein, um einerseits Kunst entstehen lassen zu können, und andererseits, um nicht kaputtzugehen und nicht kaputtgemacht werden zu können von dieser Gesellschaft, die oftmals keinen blassen Schimmer hat und haben möchte, was diese Menschen brauchen. Wenn Amy mit ihrem Gesang mein Blut in Wallung bringt, ist sie dann nicht Teil von mir, sogar über ihren Tod hinaus? Müssen wir die Definition von Beziehungsweisen nicht weiter ausdehnen für ein gutes Leben? Und wenn ich also eine emotionale Beziehung zu ihrer Kunst habe, hätte ich dann nicht Verantwortung für sie gehabt, hätte ich mich nicht kümmern müssen? Das klingt albern, oder? Ich hätte mich ja nicht vor ihrer Tür rumtreiben und um ihre Freundschaft betteln sollen, so á la crazy Stalkerin. Das meine ich nicht. Ich kann diese Verantwortung nicht allein übernehmen. Hier reicht weder unser Individuums- noch Gesellschaftskonzept aus, um die notwendige Beziehungsweise und die daraus erwachsende Verantwortung irgendwie zu fassen zu bekommen.
Ich höre noch einmal hinein in „Back to Black“: Was genau hat sie mir mit dem Lied geschenkt? Das Lied gibt mir eine Liedlänge lang Zeit zum Träumen und Trauern. Sie gibt mir die Möglichkeit, Gefühle in mich zu übertragen, in Form einer Übersetzung. Ich kann mich völlig ungeschützt in meinen eigenen vier Wänden in ihrer Kunst baden, grenzenlos werden. Es passiert oft, dass das Lied ein „Herausweinen aus mir“ initiiert. Ich trage nicht aktiv zu diesem Weinprozess bei; „es“ beginnt einfach. Was ist „es“? Das weiß ich nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob das, was das Lied in mir berührt, tatsächlich Spuren dieses Lebens aktiviert, oder ob es nicht vielmehr etwas „außerhalb“ meiner jetzigen Lebensbiographie in Schwingung bringt, das aber weiterhin in meiner Körperin beheimatet ist; etwas, das nach Verbindungen und Erkennen in diesem Leben sucht. Ich verfüge über keine Methoden und Praktiken, um diesem Schwingen, dieser minor gesture, nachzugehen; es gibt nichts in unserem kulturellen Gedächtnis, in unseren kulturellen Praktiken, das ich nutzen könnte. Nichts, wofür ich nicht als weird und esoterisch abgestempelt würde. Da es nicht in der Mitte der Gesellschaft eingewoben ist durch kulturelle Praktiken, müsste ich in die Ränder gehen, und einzelnen Menschen vertrauen, die hier Wissen und Praktiken (meist für Geld) anbieten. Das Vertrauen zu schenken (und Geld auszugeben), ist schwer, denn so ein Wissen wüsste ich eigentlich gern durch vielstimmige kulturelle Praktiken und Erinnerungen abgesichert. Das Wurzelgeflecht eines alten Waldes mit hoher Biodiversität hat mehr Wissen speziell über gemeinschaftliches und gesellschaftliches Zusammenleben als ein einzelner Baum oder Baumgruppe mitten auf einem Rapsfeld (; dieser Vergleich springt mir beim Fahren durch Norddeutschland in die Augen, wo der Raps gerade so schön blüht).
Ich weiß nur, dass das, was mich weinen macht, etwas mit Heimat zu tun hat, von der ich nichts weiß auf bewusster Ebene. Das Gefühl, das Spüren sagt mir nur, dass mir der Grund für das Weinen einmal sehr bekannt war, aber er ist mit jetzt unbekannt und nicht zuordenbar oder verortbar. Ich muss an Elsa in Frozen II denken, wie sie die Melodie hört, die nur sie hören kann, und wie sie einen Ruf, einen Suchauftrag darin erkennt; und sie zudem bestimmen kann, dass der Ruf nicht „böse“ ist/ihr nichts Böses will. „Back to Black“ gibt mir einen Suchauftrag; nur weiß ich nicht, wie und wo ich suchen soll. Sobald ich in Sprache bringen will, was ich fühle, versagt sich mir die Sprache. Ich muss weitersuchen.
Trauer ist das Gefühl, das sich am meisten mit dem Gefühl verbindet, das über mich, oder besser, aus mir herauskommt. Das Lied zeigt mir, wie kraftvoll Trauern ist. Und wie viel Potenzial im Trauern steckt, wenn wir der Spur der Trauer als Bewegungsauslöserin in unserer Körper*in nur öfter und tiefer folgen wollten und dürften. Aber wie so viele wichtige welthaltige Gefühle halten wir die Trauer klein; denn in Trauer verbrachte Zeit gehört zum nutzlosen Zeitverbringen im Kapitalismus (außer, du kannst sie in Geld verwandeln, aber dann zacki zacki und komm schnell wieder raus da).
Durch Amys Lieder lerne ich: Trauer kann nie zu Ende gehen, und Trauer kann ein einzelnes Leben übersteigen; vor allem, wenn ich in diesem Leben nicht darauf komme, was das Gefühl auslöst, trotz meinem Begehren, das mich weiter und weiter in die Richtung forschen lässt. Ich gehe noch einen dreisten Schritt weiter hinein in die Mystik: Ich habe noch dazu das unbestimmte Gefühl, dass auch Amy von Erfahrungen jenseits ihres Jetzt-Lebens singt, auch wenn diese den Erlebnissen in ihren Liebesbeziehungen zuordenbar scheinen. Aber meinem Gefühl nach ist das Ausdrucksvermögen ihrer Trauer, Wut, Euphorie usw. über sie als Individuum hinausgegangen… so, als hätte sie Erfahrungen und Talente anderer – vielleicht früherer – Leben in sich getragen, und ihre Gabe bestand darin, dass sie Zugriff darauf hatte und ihre eigenen Erfahrungen mit diesen Erfahrungen und ihrer Gabe kombinieren konnte, alles einfach so in sich abrufen oder aufnehmen und zudem in ihrer Kunst anderen vermitteln konnte.
Vielleicht so ähnlich wie Mozart; oder überhaupt wie jene Künstler*innen, die nur aus ihren Körper*innen gebären müssen, was sich manchmal schon fertig in ihnen präsentiert. Das ist ihre besondere Fähigkeit. Wie ist das möglich? Das übersteigt jegliches Wissen des Europatriarchats, auch keine Genforschung oder sonstwas kommt da ran. Eine Annährung kann nur über mystische Wissensrepertoires stattfinden. Die vedischen Poet*innen können vielleicht etwas dazu sagen. Oder Hadewijch. Oder irgendwelche Vorfahr*innen. Jedenfalls: Die artfulness in Amys Liedern entspringt diesem Darüber-Hinaus. (Es ist wahrscheinlich nicht das Darüber-Hinaus, das Erin Manning meint…)
Und das ist es aber – die Kraft, Wucht und Perfektion in ihren Liedern – was das Darüber-Hinaus in mir auslöst: es bringt Dinge in mir in Bewegung. Ich fühle mich erinnert. Nur woran? Oh woran nur? Der Faden an meiner Körper*in bricht hier ab.
Und beginnt erneut bei Amy. Sie setzt künstlerisch um, was ihr im Innersten erscheint. In manchen Momenten frage ich mich, woher die Blackness in ihren Liedern entspringt. Ich weiß nicht, welche Definitionen es für Blackness gibt und in wie viele Brennnesseln ich mich mit dieser Begriffs-Nutzung jetzt setze: ich benutze es an dieser Stelle komplett intuitiv als Counterpart zu Bayo Akomolafes Verständnis von Whiteness, welche sich auszeichnet durch das Töten von Beziehungen. Whiteness ist nicht reduzierbar auf „weiße Menschen“. Es ist die Positionierung von Körpern in strenge, nicht vergebende, sterile, unbewegliche identitäre Boxen in einem weltkonstruierenden Projekt. Blackness ist in meinem Verständnis somit auch nicht auf People of Color zu reduzieren; für mich ist es das Herausholen von Gefühlen, Gedanken usw. aus diesen Boxen, und das Denken und Fühlen neben, hinter, unter und über den Boxen.
Und ich frage mich – und das entspringt jetzt wirklich nur der Freude an allerwildester Spekulation verbunden mit tiefster Intuition… –, ob „Back to Black“ und die vielen Erwähnungen des Wortes „Black“ (übrigens auch in einigen anderen Liedern) vielleicht diese Erinnerung an andere oder frühere oder zukünftige Leben aufruft; eventuell ebenfalls in einem vorbewussten Bereich… Und ich glaube eben, das Thema dessen, was sich ihr zeigt, ist Traueraufarbeitung aus anderen?/eigenen? Leben. Und ich habe einfach das Gefühl, dass es mich auch an eine Blackness in mir – verhangen in noch unbewussten minor gestures, minimalen Bewegungen – erinnert.
Und vielleicht wusste Amy davon sogar bewusst, aber gesellschaftlich zumindest bewegt sich das in einem Bereich, für den wir in einer nicht-künstlerischen Sprache/Vermittlung keine Sprache zur Verfügung haben; diese Übersetzung würde uns in unserer jetzigen Verfasstheit nicht gelingen und wäre auch nicht ratsam gewesen, denn sonst wäre ihr „von uns als Gesellschaft“ wahrscheinlich eher die psychiatrische Klinik angeraten worden. Mehr als ihre vielfältigen Drogen-Abhängigkeiten gepaart mit der Bulimie hätte sie uns nicht zumuten können, um nicht zum absoluten Gespött zu werden, das sie am Ende ja eigentlich auch eh schon war.
Vielleicht ist es meine Trauer um ihren Tod und gleichzeitig die Trauer und Wut ob einer unfähigen Gesellschaft, die der Künstlerin den Raum für ihr Kreationenerschaffen nicht halten konnte. Was wäre gewesen, wenn Amy mehr Lebenszeit gehabt hätte, um die notwendige Arbeit machen zu können, und wir sie dabei so unterstützt hätten in ihrer Entwicklung und Entfaltung, wie sie es gebraucht hätte? In der Doku wird angedeutet, wie sehr sie gejagt wurde von Ideen und kreativen Überflutungen, z.B. spricht sie von fertigen Reimen usw. usf. für Rap-Battles mit dem oder im Stile des Wu-Tang Clan. Wie geil wäre das denn bitte geworden???! Um dieses neue Album haben wir uns gebracht, und wer weiß, um wie viele noch! Sie sagt, sie wüsste nicht, woher das kommt, woher, wieso und wie ihr die Ideen dafür einschießen. Ich habe viele Theorien dazu, die im mystischen Bereich liegen, aber ich möchte jetzt auch nicht zu weit gehen in meinen wilden Theorien.
Was wäre, wenn wir verstehen würden, dass aus dem heraus, was wir durch ihre Lieder in uns fühlen, Ideen für das gute Leben entstehen können, wenn wir den minor gestures, die ihre Musik auslöst, weiter folgen? Weil es die Vorstellung vom Ich weitet und uns aus unserer Ich-Zentriertheit, aus unserer Whiteness,herausholt?
Es bleibt die Frage, wie Gesellschaft konzipiert sein müsste, damit die Künstler*innen nicht in welcher Form auch immer in Weltlosigkeit fallen können aufgrund ihrer bewussten oder unbewussten Nähe/besonderen Sensorik hin zur Welt. Meine Idee ist, dass es sein müsste wie in der – sicher von mir hier aufgrund größerer Unkenntnis idealisierten – vedischen Kultur, aber es geht mir ja um die Idee, die in dem Buch The Artful Universe immer und überall durchschlug: dass da Gesellschaft genau andersrum aufgezogen wurde, und dass wir uns davon etwas abschauen könnten: die Künstler*innen fungieren als Sensor*innen und Übersetzer*innen von Welt, und geben so sich selbst allen Menschen, die sich auf die Kunst einlassen und von ihr berührt werden können, immer Denkrichtungen für ein gesellschaftliches Leben-Wirken in den planetaren Grenzen und ein gutes Leben innerhalb dieser mit. Das ist produktives und progressives Bauen an einer Gesellschaft in die planetaren Grenzen hinein.
Ist es einfach, diese Übersetzungen der Künstler*innen und ihre wahrscheinlich je individuelle Rezeption adäquat in Gesellschaftskonzeption zu übersetzen? Nein, ganz sicher nicht. Es wäre die große, immerwährende menschliche Aufgabe, kulturelle Praktiken genau dafür, für diese Aushandlungen, zu finden. Der Prozess allein, das Probieren und das Immer-wieder-vom-Wege-Abkommen führt uns schon in die planetaren Grenzen. Wir lassen uns dafür von Künstler*innen leiten und mit ihnen das Gefühl für die Welt und alle möglichen Beziehungsweisen in und mit ihr wieder Einzug halten in unser politisches Denken.
Wie es weitergeht:
In 5.2 kommen wir zu meinem persönlichen Lieblingsstück dieser Serie: Ich beschaue mir in dem kinematografischen Meisterwerk Poor Things, wie hier die Hauptfigur Bella jedem Vibrieren, jedem Schwingen von minor gestures nachgeht; die durch ein entscheidendes, tiefgreifendes Ereignis ausgelöst werden. Hier kommen – wie auch schon bei der Betrachtung des Wirkens der Musik von Amy Winehouse (auf mich) – mystische Fragen über das „Leben nach dem Leben“ auf. Das ist eine der Fähigkeiten von minor gestures, wenn wir uns beginnen zu trauen, ihnen zu folgen.
Mit diesem deep dive in ein Musterbeispiel des Wirkens der minimalen Bewegungen und der hermeneutischen Sekunde nähern wir uns dann dem Ende und dem Fazit in Teil 6. Hier werden alle philosophischen Fadenverbindungen noch einmal aufgenommen und Sensoren und Orte für eine Denk- und Fühlpraxis entwickelt, die es uns ermöglicht, im Kunsterschaffen und Kunsterleben den planetaren Grenzen wieder näher zu kommen.