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TEIL 4 der Reihe “Kunst auf der Spur”: In welcher Kunst zeigt sich mir die Welt?

Von Anne Newball Duke

Dieses und alle weiteren Fotos: Anne Newball Duke

Was bisher geschah:

In Teil 1 habe ich anhand von drei Beobachtungen der letzten zwei Jahre das aufgekommene Begehren in mir erklärt, der Bedeutung von Kunst in meinem Leben nachzuspüren und zu fragen, wie es möglich wird, mit Kunsterleben in die planetaren Grenzen zu gelangen. Für dieses Nachspüren habe ich die Konzepte hermeneutische Sekunde von Caroline Krüger und minor gesture von Erin Manning in Verbindung gebracht, die sehr hilfreich für dieses Anliegen sind.

In Teil 2 ging ich der Frage nach, welche Freiheiten und Grenzen Künstler*innen von der Gesellschaft bekommen, was ihre Aufgaben sind und was passiert, wenn Kunst politisch vereinnahmt wird oder sich Künstler*innen irgendwo auf unsicherem Gebiet zwischen Kunst und Politik befinden. Für diesen Teil habe ich die Dokumentationsvorführung des Films Fragmente aus der Provinz im Herbst 2024 in Esslingen genutzt, kurz über Amanda Gormans Gedicht-Einsatz bei Joe Bidens Inauguration 2021 gesprochen, und ich war in der Lesung „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“ in Esslingen und habe mich sodann imaginär gemeinsam mit den drei Frauen betrunken, um zu wissen, wie sich das gute Leben leben ließe. Mit der Künstlerin Rose B. Simpson und dem Singer-Songwriter Trevor Hall ging ich der Frage nach, wie „icky-shit-Kunst“ vermieden werden kann. Zudem habe ich anhand der japanischen Geschichte Der Junge, der Katzen malte, die Frage aufgerollt, ob von Menschen gemachte Kunst ausschließlich für Menschen gemacht wird, und ob hier Reziprozität nicht tiefer und weitergedacht werden muss.

In Teil 3 wurden vor allem die letzten zwei Fragen aus Teil 2 weiter bewegt. Ich bin der Kunst und ihrem Fadenspinnen, -zerstören und -wiederverknüpfen weiter gefolgt und landete dabei bei Marina Abramovícs künstlerischen Transformationen. Zudem habe ich über die hohe soziale Stellung der  Dichtkunst in der vedischen Gesellschaft gestaunt. In dieser Kultur stand der Verstand im Dienste des Herzens. Im Podcast Freiheit Deluxe habe ich in einem Interview von Jagoda Marinić mit Antje Rávic Strubel ein Beispiel für ein In-Bewegung-Setzen, ein gelebtes Mehr gefunden. Die am Ende aufkommende Frage, ob Kunst eine Möglichkeit ist, in der sich die Welt uns Menschen zeigen kann, gehe ich nun im 4. Teil weiter nach.

Was die Welt der Künstler*in sagen will

Mit geht ein Interview mit einer Künstlerin vor bestimmt schon zehn Jahren nicht aus dem Kopf. Ich weiß weder, wer sie war, noch was ihre Kunst war, noch wo ich das Interview gesehen habe – höchstwahrscheinlich in der Kulturzeit auf 3sat. Es ist mir bis heute so prägend in Erinnerung geblieben, weil es mich verstörte: mich irritierte, wie wenig diese Künstlerin zu ihrer eigenen Kunst sagen konnte. Sie stotterte viel und hatte keine schönen Worte oder gar Wortneuschöpfungen, die ihrer Kunst eine intellektuelle Aura hätten geben können. 

Die Kunstwelt liebt das ja – und ich damals auch; ich wollte ständig neue Wörter speisen! Auf der Suche nach Intellektualität dachte ich abschätzig: sie hat doch die Kunst GEMACHT! Sie muss doch darüber sprechen können! Sie muss doch sagen können, was sie für sie bedeutet! Und ich weiß noch, dass ich aus dem Gestottere der Künstlerin dann hochnäsig den Schluss zog, dass ihre Kunst dann auch nicht „gut“ (Was immer das wieder für eine Bewertung ist) sein konnte. Wenn sie ihr eigenes künstlerisches Schaffen nicht mal selber in einen relevanten Diskurs einbinden oder mit ihm einen neuen spannenden eröffnen konnte, tzzz, ganz ehrlich!

Eigentlich sagte sie am Ende nur, dass das, was sie mitzuteilen habe, in ihren Kunstwerken stecke, nicht in ihren Worten über ihre Kunstwerke. 

Jetzt – während ich schreibe – bemerke ich zudem, dass ihr sicher die falschen Fragen im Interview gestellt wurden. Man hätte sie nicht sowas fragen sollen wie: „Was bedeutet diese Kunst?“ oder „Was wollen Sie damit ausdrücken?“ oder „Was hat Ihre Kunst mit Ihrem Leben zu tun?“ 

Vielleicht hätte man sie vielmehr fragen müssen, wie die Idee zu ihr gekommen ist, wie sie sich in ihrer Körperin bewegt und manifestiert hat, wie sie vielleicht viele Wochen oder Monate um Ausdruck einer zunächst sich kaum zeigenden, sich im Unbewussten abspielenden „minimalen Bewegung“ oder gar vieler widerspenstiger, konfligierender „minimaler Bewegungen“ (Erin Mannings minor gesture, mehr dazu in Teil 1) gerungen hat. Oder sie hätte erzählt, dass das finale Erscheinungsbild einfach da war, und ihr das Gefühl ganz klar sagte: „Genau so muss das aussehen! Lass es so und nicht anders in die Welt kommen!“ Und durch das Vertrauen in die Eingebung gab es dann auch keine weitere Frage mehr nach Sinnhaftigkeit o.ä., auch wenn sie selbst vielleicht nicht wusste, was das für wen oder was eigentlich bedeutete, oder wer sich wann eine Bedeutung daraus erschließen oder durch ihr Kunstwerk ins Vibrieren kommen könnte usw. 

Oder sie hätte auch erzählen können, dass sich das Ringen eher im Wie; in der Umsetzung abspielte, oder in der komplizierten und nerven- und zeitaufreibenden Finanzierung usw. usf. Vielleicht hätte sie über all das in Hülle und Fülle sprechen können. Diese Worte hätte dann jeder verstanden. 

Vielleicht hätten Menschen wie ich – inspiriert von ihrer Kunst-in-die-Welt-Komm-Bewegungs-Beschreibung – am Bildschirm sodann ausgerufen: „Ach Mensch, dann könnte ich ja aus dem Traum der letzten Nacht auch ein Kunstwerk formen!“ Vielleicht hätte das Gespräch also ein wellenauslösender Steinwurf ins Wasser sein können und hätte viele Menschen inspiriert, ihre je eigenen künstlerischen Adern aufzuspüren und so ihren je eigenen Welthaltigkeiten nachzufühlen. Und das hätte viele Menschen zumindest kurzzeitig aus dem Europatriarchat gerissen. Wir alle brauchen diese Außerhalb-Erfahrungen so dringend, um die Angst vor dem Außerhalb zu verlieren. Wir haben Angst, weil wir denken, da draußen wartet nur Chaos und Tod und Leid. Oder vielmehr: noch mehr Chaos und Tod und Leid als innerhalb des Europatriarchats. 

Aber ich glaube eben, „da draußen“ wartet nicht nur Schlimmes. Da draußen wartet auch ganz geduldig das Schöne. Es wartet Zeit für das Schöne. Zeit für Beschäftigung mit der Welt über Kunst zum Beispiel. 

Jeder Mensch sollte Kunst machen/ zum Kunstmachen befähigt werden.

Ich denke so viel darüber nach, wie wir in die planetaren Grenzen zurückgelangen. All mein Weiterdenken nimmt hier seinen Ausgangspunkt und kommt in verschiedenen Denkbewegungen immer wieder hierher zurück. Ich glaube, dass wenn alle Menschen künstlerisch befähigt würden – und zwar im Erschaffen von Kunst, aber auch in der sensorisch vielstimmigen Aufnahme von Kunst –, wir den planetaren Grenzen sehr viel näherkommen würden, wir sie wieder erfühlen könnten: die Grenzen… aber vor allem den Planeten. 

Was braucht es dafür? Zum einen – wie schon häufig gesagt – unnmäßig viel Zeit, die dem Europatriarchat abgeknapst werden müsste. Zum anderen bräuchte jede Person eine gewisse intensive und direktere Weltzuwendung. Diese Zuwendung ist uns ganz natürlich eingegeben, aber das Europatriarchat verwendet viel Mühe und Zeit darauf, sie uns von klein auf in verschiedensten (oft nicht als solchen erkennbaren) Gewaltformen abzutrainieren (der Film Poor Things erzählt davon, aber dazu in Teil 5 mehr). Damit wir funktionieren, damit wir unseren Lebensunterhalt durch unser Funktionieren im System verdienen können.

Und ich glaube, deswegen geben wir oft auch Kunst die Vorfahrt, die sich durch „politische Relevanz“ auszeichnet, weil diese uns beispielsweise das falsche Leben im Europatriarchat versinnbildlicht, verdeutlicht usw. Aber dass etwas falsch läuft, das wissen wir schon, siehe 1. Teil und Hamlet usw. Können aus dem “Falschsein” Anleitungen für das “Gutsein” gezogen werden? “Das Gegenteil ist genauso falsch”, stand so oder ähnlich lange auf Antjes Twitter-Seite.

Mir ist in den letzten Monaten auf einer tieferen Ebene aufgegangen, dass wir nicht mit Wertungen und Meinungen oder “Gegenteilen” in die planetaren Grenzen kommen, sondern mit bewusst eingesetzten Praktiken, Gefühlen und Denken, die aus dem Europatriarchat herausfallen.

Welthaltige Kunst steht nicht mit beiden Beinen im gesellschaftlichen Rahmen. Sie spielt sich oftmals außerhalb des gesellschaftlichen Rahmens und der politischen Diskurse ab, und kann deswegen von Kunstkritiker*innen und Publikum – insgesamt von uns europatriarchal erzogenen Menschen – leicht übersehen werden. Zum einen gehen wir den “minimalen Bewegungen”, den minor gestures, nicht nach, die diese Kunst auslösen könnte, weil wir das eventuell gespürte Bewegen oder Vibrieren als irrelevant einstufen. „Vibrieren“ ist ja auch nicht objektivierbar und beweisbar usw. usf., und so subjektiven “Gefühlslagen” und „Verlautbarungen“ vertrauen wir nicht im Europatriarchat.

Und selbst wenn wir ihnen erstmal einen Vorschuss an Vertrauen schenken würden und sie aus dem Unbewussten ins Bewusstsein “hochspülen” wollten, wüssten wir auch nicht so recht, wie das ginge. Rituale und Tänze könnten ein Weg sein, aber da wir im Europatriarchat vor allem über verbale Sprache (nur innerhalb unserer Spezies) kommunizieren und nicht über Rituale und Tänze beispielsweise (auch mit anderen Seinsformen), verfügen wir Europatriarch*innen kaum über Methoden (und Hilfen), dem eh schwer Erspürbaren und Gespürten nachzugehen und sie sodann “adäquat” zu kommunizieren. Die europatriarchale Versprachlichung der Welt beinhaltet das nicht wirklich. Und genau diese Leerstelle betrachten wir als eine unserer Zivilisationserrungenschaften, auf die wir immer noch so stolz sind. Mit Rassismus haben wir Europatriarch*innen uns u.a. nicht nur zu Menschen abgegrenzt, für die das Aufkommen und Auftauchen von (auch unbekannten, unbequemen) Gefühlen und Seinsformen zentral ist und ein wichtiger Impuls und Hinweis, mit der Welt immer in Verbindung, in Kommunikation zu sein. Wir haben uns so auch abgegrenzt zu dem Mehr-als-Menschlichen. Wir haben die Wahrnehmung und Kommunikation mit der Welt massiv verkleinert. Wir nehmen so viel nicht wahr und sind – nicht nur! aber auch – deswegen zu einer so großen Zerstörung fähig.

Und ich glaube, es dauert noch ein bisschen, bis bei uns mehrheitlich durchsickert, wie weit und tief die Entkolonialisierung tatsächlich gehen müsste: es müsste die Bereitschaft entstehen, das Dichten und andere Kunstformen vor das rationale Denken zu stellen; oder besser ausgedrückt im Sinne des vedischen Dichters: wir müssten beginnen, “innerhalb unserer Herzen mit der Kraft unseres Verstandes zu suchen” (siehe Teil 3 dieser Reihe).

Momentan gibt es also vielleicht noch keine oder nur wenige versprachlichte Wahrnehmungsmuster, also kollektive Sprachbestände, auf die eine Person zugreifen könnte, selbst wenn sie denn wollte. Wegen all dieser Leerstellen in den aktuellen Wahrnehmungsleistungen unserer Körper*innen wäre es beispielsweise ein schöner Schritt, wenn das Fach „Weltverbundene” oder “Welthaltige Kunde“ in die Schulen Einzug halten könnte. Mit ihm könnte sich das gemeinsam geteilte Grundverständnis von Welt vergrößern; in diesem Zeitbereich dürfte sich jede Person fernab der aktuell geltenden gesellschaftlichen Regeln und Standards aufhalten. Mit ihm könnten auch neue Wahrnehmungsmuster im Kunsterschaffen, in der Kunstrezeption und in der Versprachlichung Eingang finden. 

Daraus könnten sich wiederum Verdichtungen ergeben von gemeinsamen und ganz neuen (und alten) Narrativen, die direkt aus einer menschlichen Verbindung mit der Welt entsprängen; mythische Archetypen könnten aus der Erinnerung auftauchen und bewusst in ein neues kollektives Gedächtnis eingewoben werden; eins, das uns Wege hinaus aus all den europatriarchalen Verstrickungen und Einbahnstraßen und Sackgassen und Abgründen und Katastrophenmetaphern und Traumata aufzeigt. 

Im Verlaufe und im Prozess des (Wieder-)Verbindens mit der Welt könnte sich jede Person fragen, wo und wie sich die Welt ihr wohl am ehesten mitteilen möchte oder wo sie gerne tiefere Verbindungen mit der Welt hätte, auch wenn es mühsam sein könnte. Ich erinnere mich an die Worte eines Freundes zu Schulzeiten. Er sagte damals sinngemäß, dass er fünf Stunden Klarinette für ein Stück üben müsse, für das andere, die mehr Begabung als er hätten, nur zwei oder drei bräuchten. Aber er hätte keine Wahl, und er möchte keine Wahl haben, denn Klarinette ist seine große Liebe, auch wenn sie ihm viel mehr abverlange als anderen Klarinettenspieler*innen. Die Klarinette und die Beschäftigung mit ihr und der Musik – so würde ich es vielleicht heute in Worte bringen – ermöglichte ihm den ihm eigenen Zugang zur Welt. Er fand ihn früh. Vielleicht änderte sich der Zugang, wurde vielfältiger und bekam neue Tore, Türen, Risse und Fenster. Wer die Liebe kennt, die beim Kunsterschaffen und Kunsterleben entsteht, der wird sie immer suchen, und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass er immer wieder fündig wird.

Der Zugang kann leicht sein (dazu im 4. Teil dieser Reihe mehr), oder – wie bei meinem Schulfreund – mühsamer und voller Herausforderungen und Hindernisse. Auf alle Fälle ist es gut zu wissen, bei welchem Weltzugang Strom drauf ist; wie und wo man also gern Zugang zur Welt hätte. 

Viele Leute sehen sich selbst als Menschen ohne künstlerisches Talent. Sie denken wahrscheinlich, Künstler*innen ticken anders, sie sind Menschen von einem anderen Stern. Und sie denken gleichzeitig von sich selbst, dass sie nie so sein könnten. Sie würden diese den Künstler*innen oftmals zugeschriebene Crazyness und Zeit- und Formlosigkeit nie in ihr Leben lassen. Sie würden nicht an das glauben, was sie da produzieren, vor allem, wenn der Prozess des Kreierens sowie das letzten Endes entstehende Kunstobjekt nutzlos ist für das Funktionieren und Geldverdienen und Sinnstiften in dieser Gesellschaft.

Irgendwie, so scheint es, haben wir ein kompliziertes und komplexes System geschaffen, um unsere Körper*in möglichst auf stumm zu schalten, was die Kommunikation mit der Welt angeht. Der Weg, der zu gehen wäre, um den eigenen Kunstausdruck zu finden und sich selbst als Künstler*in zu sehen, kann als zu anstrengend angesehen werden. Was bringt es mir am Ende eines langen Tages? Die Frage grätscht immer dazwischen, oder?

Kunst als Voraussetzung für Gesellschaft

Was bringt es mir? Was wäre, wenn wir den egozentrischen Spin in der Frage etwas abschwächen und eher fragen: Was bringt es meiner Perspektive auf die Welt? Was bringt es meiner Beziehung mit der Welt? Was bringt meine neue Beziehungserkundung mit der Welt dem guten Leben für alle? Und was wäre, wenn das, was unsere Hände und Herzen und Köpfe erschaffen würden, nachweislich welthaltig wäre? Und somit Voraussetzung für unser Denken von Gesellschaft sein sollte? Was wäre, wenn es überlebensnotwendig ist, dass eine Gesellschaft die Flexibilität hat, unser aller künstlerischen Ausdruck zu tragen und zu ertragen? Was, wenn unser Begehren im Kunstschaffen und Kunsterleben unsere Gesellschaft „wie von allein“ in die planetaren Grenzen führt? 

Der Künstler Claus Bury sagt in einem ZEIT-Interview am 2.10.24, dass die meisten Menschen keine Künstler seien. Er argumentiert mit Claude Lévy-Strauss, dass „wildes Denken“ vor allem Bastler und Künstler haben, die sich der domestizierten, auf Nützlichkeit getrimmten Kultur entzögen. Der Gegenspieler sei der Ingenieur (ich belasse es jetzt mal bei diesem generischen Maskulinum in dem ZEIT-Artikel, ich kann es nicht ändern, dass von den Gesprächspartnern weder Künstlerinnen noch alle dazwischen und außerhalb mitgenannt/mitgedacht? werden): „Der Künstler schafft aus sich heraus etwas ganz Neues, darin besteht seine Kreativität. (..) Der Ingenieur verfolgt ein Ziel und überlegt sich, mit welchen Mitteln er es erreichen kann. Der Künstler ist erstmal keinem konkreten Zweck unterworfen. Ausgeflippte Dinge tun, das darf nur er.“

Was würde nun also geschehen, wenn – wie ich vorschlagen möchte – jede Person „ausgeflippte Dinge“ tun dürfte? Zeit dafür hätte? Wenn lauter neue Fäden gesponnen und alte mit alten und neue mit neuen und alte mit neuen Fäden verbunden werden würden – ohne dabei allerdings im Sinne Rose B. Simpsons „icky shit“ produzieren zu dürfen? Ich glaube ganz fest: jede Ingenieur*in braucht dringend ein bisschen erdverbundene, welthaltige Ausgeflipptheit; weil sie dann nie und nimmer auf die Idee kommt, eine „icky-shit“-Atombombe zu bauen, einfach nur, weil sie es kann. 

Ich habe es schon oft in anderen Texten gesagt, aber hier noch einmal: Was nützt uns Menschen unsere Intelligenz, unser Verstand, wenn wir sie nicht für ein Leben innerhalb der planetaren Grenzen einsetzen können? Macht es uns nicht zu den armseligsten und dümmsten Geschöpfen dieser Welt? Was haben wir mit unserem mutterseelenallein eingesetzten Verstand schon verstanden? Wovon haben wir überhaupt irgendeine relevante Ahnung, wenn wir nichts davon wissen und jede Erinnerung in uns unterdrücken und auszulöschen versuchen, wie ein gutes Leben für alle auf einem unendlichen und gleichzeitig begrenzten Planeten möglich ist?  Was könnte ein Klumpen Lehm oder eine Laubsäge – wie Claus Bury dann doch vorschlägt – in den Händen jedes Menschen gegen die weltlose Betrachtung der Welt, die wir doch selbst mit Haut und Haaren sind, ausrichten?

Ich wette, jede kunstabgewandte Person hat eine Horrorstory erlebt, in der sie vielleicht schon als Kind in der Schule hören musste, wie untalentiert sie sei, und dass sie das mit dem Singen oder Malen oder Basteln mal besser gleich lassen könne. Einfach mal nachgraben, wann wo und wie tief welche Verletzung stattgefunden hat, und get over it!, würde ich sagen. Einen Stift und Pinsel und Ton und Laubsäge oder Kamera rausholen und mal ganz tief in die Welt vertiefen bringt in vielen Fällen schon die notwendige Kränkungs-Heilung. Über Kunst lerne ich die Welt kennen, und die Welt lernt mich kennen über meine Kunst, und ich lerne mich in der Welt kennen, und wir zwei Hübschen lernen, miteinander zu kommunizieren.

„Welthaltige Kunde“ kann also unter Umständen gleichgesetzt werden mit dem Prozess des künstlerischen Tätigseins. Kunst im Entstehen lässt sich ein auf Unbestimmtheit und Inkonsistenz. Wilde Blüten dürfen sprießen. Es darf der Zeit entglitten, in Zeitlosigkeit gefallen werden. Es darf sich ein eigens dem Entstehensmoment entsprungener Rhythmus entfalten. Erin Mannings minor gesture, diese „minimale Bewegung in der Körper*in“, möchte ja eigentlich noch gar nicht entdeckt werden, sie möchte noch nicht in Konsistenz gebracht werden. Sie braucht Zeit zum Gedeihen und Formen. Und dann sorgt sie vielleicht irgendwann für das Aufschimmern eines Gedankens. Die „minimale Bewegung“ ist eine Aktivatorin, eine Trägerin. „Sie bewegt das Unbewusste Richtung Bewusstes, macht fühlbar, wie das Unsagbare eventuell ins Sagbare überführt werden kann, bringt Feldeffekte in Resonanz, die sonst in der Erfahrung im Hintergrund liegen. Es ist der Vorwärts-Zwang, der fähig ist, die affektive Tonalität der unbewussten Resonanz mitzunehmen und Richtung Artikulation zu bewegen, die noch ganz unbedarft Richtung Bewusstsein stolpert, in Richtung neuer Existenzformen.“ (S.7; meine holprige Übersetzung) Die „minimale Bewegung“ fühlt sich sehr wohl in der hermeneutischen Sekunde, deren Potenzial Caroline Krüger so eindrücklich dargelegt hat. In der “welthaltigen Kunde” lernen wir die “minimalen Bewegungen” kennen. Wir bekommen Zeit und Raum, unsere Art und Weise zu finden, wie wir uns mit der Welt verbinden können.

Und nichts anderes als dieser Welt-Verbindungs-Wirbel wird uns retten. Keine weltentfremdete Nettonull, oder eine industriell-mechanisch-technokratisch ausgeführte Energie- oder Agrarwende, nichts dergleichen. Wie wäre es stattdessen mit der Frage: Wie sieht eine welthaltige Energiewende aus? I love that question!! Wir haben keine Ahnung, richtig? Wir sind Lichtjahre von einer Antwort entfernt! Wir müssen erst noch viele unsichere, gefahrvolle, magische Räume und Zeiten und Fragen für diese Frage durchlaufen… und wahrscheinlich wird die Ausgangsfrage sich bald falsch anfühlen… denn “Energiewende” ist so ein europatriarchales Konzept! Wenn wir das irgendwann bemerken, dann müssen wir nicht länger an ihm festhalten, wir können es vergessen, und der Kunst vertrauen: sie geleitet uns auf die nächsten welthaltigeren Fragen… wir kommen lieber vielfach vom Weg ab als auf einem weltlosen zu verbleiben… vielleicht ist das vom-Wege-Abkommen das Ziel… okay dann… lasst uns Kunst erschaffen mit all unseren Sinnen! Und wir nähern uns langsam und geschmeidig an an das Vom-Wege-Abkommen; und dann wachsen und gedeihen wir auf lauter tentakulären Abwegen wieder in die planetaren Grenzen hinein.

Wie es weitergeht:

In Teil 5 tauche ich in die Musik von Amy Winehouse, Britney Spears und Christina Aguilera ein und stelle die Frage nach der Welthaltigkeit ihrer Musik. Falls ihr glaubt, ihr wüsstet die Antwort bereits, dann lasst euch überraschen! Ich folge zudem der Frage, ob außergewöhnliche Begabungen – beispielsweise eine „göttinnengleiche Stimme“ – verpflichten. Außerdem kommt in Teil 5 mein persönliches Lieblingsstück dieser Serie: Ich beschaue mir in dem kinematografischen Meisterwerk Poor Things, wie die Hauptfigur Bella jedem Vibrieren, jedem Schwingen von minor gestures nachgeht; die durch ein entscheidendes, tiefgreifendes Ereignis ausgelöst werden. Hier kommen – wie auch schon bei der Betrachtung des Wirkens der Musik von Amy Winehouse (auf mich) – mystische Fragen über das „Leben nach dem Leben“ auf. Das ist eine der Fähigkeiten von minor gestures, wenn wir uns beginnen zu trauen, ihnen zu folgen.

Mit diesem deep dive in ein Musterbeispiel des Wirkens der minimalen Bewegungen und der hermeneutischen Sekunde, nähern wir uns dem Ende und dem Fazit in Teil 6. Hier werden alle philosophischen Fadenverbindungen noch einmal aufgenommen und Sensoren und Orte für eine Denk- und Fühlpraxis entwickelt, die es uns ermöglicht, im Kunsterschaffen und Kunsterleben den planetaren Grenzen wieder näher zu kommen. 

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