Forum für Philosophie und Politik
Was bisher geschah:
In Teil 1 habe ich anhand von drei Beobachtungen der letzten zwei Jahre das aufgekommene Begehren in mir erklärt, der Bedeutung von Kunst in meinem Leben nachzuspüren und zu fragen, wie es möglich wird, mit Kunsterleben in die planetaren Grenzen zu gelangen. Für dieses Nachspüren habe ich die Konzepte hermeneutische Sekunde von Caroline Krüger und minor gesture von Erin Manning in Verbindung gebracht, die sehr hilfreich für dieses Anliegen sind.
In Teil 2 ging ich der Frage nach, welche Freiheiten und Grenzen Künstler*innen von der Gesellschaft bekommen, was ihre Aufgaben sind und was passiert, wenn Kunst politisch vereinnahmt wird oder sich Künstler*innen irgendwo auf unsicherem Gebiet zwischen Kunst und Politik befinden. Für diesen Teil habe ich die Dokumentationsvorführung des Films Fragmente aus der Provinz im Herbst 2024 in Esslingen genutzt, kurz über Amanda Gormans Gedicht-Einsatz bei Joe Bidens Inauguration 2021 gesprochen, und ich war in der Lesung „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“ in Esslingen und habe mich sodann imaginär gemeinsam mit den drei Frauen betrunken, um zu wissen, wie sich das gute Leben leben ließe. Mit der Künstlerin Rose B. Simpson und dem Singer-Songwriter Trevor Hall ging ich der Frage nach, wie „icky-Shit-Kunst“ vermieden werden kann. Zudem habe ich anhand der japanischen Geschichte Der Junge, der Katzen malte, die Frage aufgerollt, ob von Menschen gemachte Kunst ausschließlich für Menschen gemacht wird, und ob hier Reziprozität nicht tiefer und weitergedacht werden muss.
Ich denke, Künstler*innen, die mit der Welt verbunden sind, entwickeln irgendwann ein Vertrauen in das, was ihnen die Welt mitteilt. Oft sind Künstler*innen nur Mediator*innen oder Übersetzer*innen oder Vermittler*innen von Welt. Und jetzt komme ich dem näher, was ich mir von Kunst erwarte: ich möchte, dass sie von einer Künstler*in geboren wird, die der Welt wahrhaftig zuhört, und nicht beispielsweise lediglich reagiert auf Diskurse. Die meisten Diskurse sind Teil der tödlichen Ameisenmühle. Hören wir hingegen der „echten“ Welt zu und nicht immer nur uns Menschen, und schenken wir auch anderen Lebewesen und Seinsformen liebevolle Aufmerksamkeit, werden uns Möglichkeiten des Verlassens der Ameisenmühle aufgezeigt.
Meinetwegen kann sich Kunst ja auch weiterhin mit Diskursen beschäftigen, aber diese Beschäftigung muss der Berührung mit der Welt entspringen. Viele Fäden von sichtbaren und unsichtbaren menschlichen und mehr-als-menschlichen Beziehungsweisen und Diskursen usw. sind verknüpft und in Bewegung. Kunst kann die existierenden Fäden durchaus aufnehmen und sichtbar machen, aber sie muss die darin enthaltenen „weltlosen (Diskurs-)Fäden“ zurück an die Welt binden wollen oder bei „Bindungsunfähigkeit“ loslassen, und nicht weiter in bestehende oder neue tödliche Fadenverbindungen knüpfen.
Kunst kann erstmal auch nur Fadenverbindungen auftrennen. Also keine Angst, Ijoma Mangold und Hanno Rauterberg (siehe Ende Teil 1): Zerstörung (allerdings sicherlich niemals aus „grundlosem Furor“) wird weiterhin wichtige Aufgabe von Kunst sein; an Stellen, die immanent wichtig sind. Hier gerne mit verwandelter gesellschaftlicher Wut in Kunst. Aber was zum Beispiel Ijoma Mangold und Hanno Rauterberg ganz vergessen, ist, dass Kunst nicht nur die Aufgabe hat, aufzu- oder zu zerstören, sondern auch zu heilen, wieder zusammenzusetzen. Sie hat die Kraft, das Ganzheitliche aufzuzeigen, welthaltige Verbindungen herzustellen. Brüche, die durch Kunst hergestellt werden oder auf welche mit Kunst hingewiesen werden, stehen immer in Erwartungshaltung, dass sie in welthaltigen Verbindungen wieder zusammengesetzt oder in welcher Art auch immer weiter im Prozess gehalten werden. Hanno Rauterberg kritisiert Marina Abramović – einst „furios und radikal“ – quasi, weil sie jetzt „Sanftmut predige“: „Reiskörnerzählen, Langsamgehen, Meditation ist ihr neue Kunst.“ Er bedauert, dass sie sich nicht weiter ins eigene Fleisch schneiden lässt, sich die Haare ausreißt usw.
Vielleicht ist es auch wieder so eine europatriarchal angehauchte dichotome Denkweise, dass Schmerz und Schönheit, Liebe und Angst oder Zerstörung und Heilung völlig unterschiedliche Dinge sind und nicht zusammengehören und sogar gleichzeitig auf verschiedenen Bewusstseinsebenen oder eben nacheinander gefühlt werden können, und dass dies unabdingbar ist. Aus Medusas Hals nach ihrem Kopfabschlag entsteigt u.a. Pegasus; er konnte nur durch ihre Zerstörung in die Welt kommen. Und mit Demeters Gang in die Unterwelt auf der Suche nach ihrer Tochter Persephone werden die Jahreszeiten initiiert und zelebriert. Diese Mythen sind Archetypen; sie sind welthaltig. Ihre Form ist kunstvoll, und wenn wir es zulassen, wenn wir sie (aus-)leben, erinnern sie uns in irgendeiner Weise an unsere eigene (kunstvolle) Welthaltigkeit, an eine andere Form des In-der-Welt-Seins als lediglich jener im europatriarchalen Rahmen. Archetypen tauchen auch immer wieder in unserer modern verfassten Weltsicht auf: in dem Film Barbie beispielsweise steckt eine Menge vom Inanna-Mythos: die Astrolog*innen Demetra George und Chris Brennan widmen den teils verblüffenden Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen eine ganze Folge in The Astrology Podcast und rätseln, ob Greta Gerwig den Mythos bewusst eingespannt hat oder er eventuell in ihr arbeitete, ohne dass sie sich dessen bewusst war.
Kunst ist ein sich weiterspinnendes Gespräch, ein Fadenspinnen. Dieselbe Künstler*in kann ihre eigenen Fäden nach vielen Jahren weiter verspinnen – so wie Marina Abramovíc –, oder aber eine andere Künstler*in nimmt die Fäden auf (im Falle von Marina Abramovíc’s Kunst wurde das sicher vielfach getan). Wenn eine Künstler*in eine Fadenverbindung aufgelöst hat, kann es eine andere als ihre Aufgabe empfinden, die einstmals aufgetrennten Fäden in weltlose und welthaltige zu sortieren, und die welthaltigen nun wieder sinnvoll anders und neu zu verbinden. Fäden lassen sich in Wut, Raserei und Rage schwer verbinden. Langsamkeit – so schrieb ich schon in den letzten Texten hier und hier – trägt im Europatriarchat eine rebellische, ja gar revolutionäre Provokation in sich, denn sie trägt das Potenzial in sich, den europatriarchalen Rahmen zu sprengen. Genauso wie ein gewisses Außer-Takt-Geraten. Und wenn wir uns an den Beginn des ersten Teils erinnern: die gesellschaftliche Abmachung ist die, dass der Kunst die Freiheit zugestanden wird, sich nicht nach dem europatriarchalen Rhythmus und Uhr richten zu müssen.
Kunst ist Kommunikation mit der Welt. Was ist Welt? Wir Menschen sind auch Welt, und die lebendige Welt ist immer in Bewegung, und wir Menschen müssen in dieser Bewegungs-Dynamik neue Beziehungsweisen mit und in der Welt finden und aufbauen. Ohne diese sind wir verloren und verlassen nie die tödlichen Pfade, so wie Hamlet.
„Die Welt denkt durch uns“, sagt der Philosoph Bayo Akomolafe in einem Talk, „und die Welt stellt experimentelle Fragen darüber, was es bedeutet, am Leben zu sein, was es bedeutet, Mensch zu sein, was es bedeutet, du und ich zu sein.“ Kunst ist manchmal eben „nur“ Übersetzung von Welt und deren Fragen in Menschenbewusstsein oder auch ins Unbewusste; Kunst ist eine Quelle für die Möglichkeit des „Wahr“-Nehmens von Welt für Menschen. Die Künstler*in ist dann lediglich jene, die Welt durch ihre Körper*in geschehen lässt, sich mit ihren Sensoren zur Verfügung stellt und durch das Gebären, das In-die-Weltbringen (einen Ausschnitt von) Welt anderen Personen erlebbar macht. Solche Kunstwerke ermöglichen Berührung, eben weil durch sie die Welt erlebbar wird, die wir in der ein oder anderen Weise auch immer in uns tragen. Das Vibrieren in der je eigenen Körper*in kann wieder ganz andere Welt-Verbindungen in der jeweiligen Betrachter*in auslösen und aufrufen, die wiederum nach In-die-Weltkommen begehren. Kunst gebiert Kunst sozusagen. Je mehr Menschen Ausdruck von Welt in Kunst zulassen, desto mehr erfahren wir über die Welt und unser Sein in ihr. Die Welt verwandelt sich von toter Materie in lebendiges Sein.
Wie schade ist es, wenn das Zittern und Vibrieren an einem Kunstwerk endet, statt weitere Knospen zu treiben. Wenn wir im Alltag nicht für den Erhalt des Vibrierens und dem Nachspüren sorgen können, dann kümmern wir uns zu wenig um die Welt. Dann nehmen wir in unserem Alltag die Kommunikation mit der Welt nicht ernst genug. Dann sorgen wir für Beziehungs-Zerstörung. Tote Materie bleibt dann tote Materie.
Im Laufe des letzten Jahres bin ich auf die Stellung der Dichtkunst in der vedischen Gesellschaft gestoßen, und das hat mir sehr imponiert und passt sehr gut in meine Intuition und Argumentation. Ich las verschiedene Kapitel in The Artful Universe (1998) von William K. Mahony. Darin heißt es beispielsweise (meine Übersetzung):
„Visionäre Poeten hörten die urzeitliche, heilige Welt im Hintergrund aller Existenz klingen; sogar einer Existenz, die für immer am Rande des Kollapses schwebte. Sie gaben dieser Welt eine Stimme in poetischen Liedern, die solche Kraft in sich trugen, dass sie sogar die oft schwankende Macht der Gottheiten des Lichts und des expansiven Lebens in ihren Kämpfen gegen die Dämonen der Dunkelheit, der Trägheit und des Todes stärkten. Der erfolgreiche Poet verband dabei die menschliche Gemeinschaft mit der heiligen Welt.
Es war ein zentrales Anliegen der vedischen Gemeinschaft, fähig zu sein, einen solch inspirierten Visionär zu erkennen. Der Wettbewerb unter den Sehern (seers) in poetischen Wettbewerben wurden zusammen mit der Performance von großen öffentlichen Ritualen abgehalten. Die Entwicklung der vedischen Rituale war eng und untrennbar verbunden mit der Hoffnung, dass die bitteren Ungewissheiten des Lebens und des Todes in dieser Weise reguliert und kontrolliert werden können, dass so die zugrundeliegende Harmonie und Balance des Universums erhalten werden konnte. In gewisser Weise waren die Performances der vedischen rituellen Zeremonien Versuche, den Kampf zwischen Sein und Nichtsein zur routinisieren und so Kontrolle über die Kräfte des Todes zu erlangen, indem sie ihnen die Kräfte des Lebens dazustellten. Im vedischen Verständnis war die Kraft der Transformation von den Kräften des Chaos‘ gezeichnet. So, wie die Brillanz des Lichts am stärksten aus den Tiefen der Dunkelheit scheint, so muss auch die Gründung des Sinns und der Bedeutsamkeit der Welt genau aus der Erfahrung der machtlosen und unzusammenhängenden Bedeutungslosigkeit erwachsen.
The Atharvaveda spricht davon, dass die Existenz in der Nichtexistenz begründet liegt, und dass der universale Pfeiler, auf dem der Rest aller Dinge in der Welt ruht, aus beidem besteht: dem, was ist, und dem, was nicht ist. Das Aufkommen und die Entwicklung von vedischer visionärer Dichtkunst, dem sakralen Drama, der Meditation, beinhaltete nicht nur – aber in gewisser Weise hing sie davon ab – so eine Erfahrung von Wechselbeziehung von Existenz und Nicht-Existenz. Im Sinne ihrer Intuition und ihrer imaginären Kraft sah der Visionär die mysteriöse und kraftvolle Einheit, welche die Fülle der Existenz mit den Tiefen der Nichtexistenz verband.
‚Innerhalb ihrer Herzen mit der Kraft ihres Verstandes suchend‘, so heißt es in einem vedischen Lied, ‚fanden die Dichter die Verbindung von Sein und Nichtsein.‘ (…) Die tiefe Wechselbeziehung aller Dinge, auch der Existenz und der Nicht-Existenz – das ist der brahman – war für die vedischen Visionäre eine mysteriöse, versteckte Struktur und Kraft. Das ist der Grund, dass brahman nicht von normalen und gewöhnlichen Formen des Denkens verstanden werden konnte, oder in einer einfachen Sprache beschrieben werden konnte. Diskussionen und Auseinandersetzungen, die Natur des brahman betreffend, nahmen oft die Form von Fragen, Rätseln, Puzzeln und esoterischen Bildern an.“ (11f.)
Dichten ist eine Kunst, mit der hinter das gewöhnliche Weltverständnis gefühlt werden kann, hinter die Welt der physisch-materiellen Form. Und Kunst, so wie ich Kunst verstehe – egal in welcher Ausdrucksform – erschafft im besten Falle Rätsel und Fragen, die mehr oder weniger das Sein und Nichtsein auf dieser Welt betreffen.
In der vedischen Kultur hatten Dichter, Seher und Visionäre (inwieweit darin auch Frauen mitgemeint sind, kann ich jetzt nicht sagen) wegen dieser Gabe, diese für andere versteckte „heilige Welt“ in Worte zu übersetzen, eine hohe gesellschaftliche Stellung. Ganz anders als bei uns im Europatriarchat. Bei uns gilt ein Elon Musk als Visionär; welcher im Grunde das komplette Gegenteil darstellt: „Mit der Kraft seines irrlichternden Verstandes suchend, sein Herz komplett außen vor lassend“, könnte man sagen, und deswegen auf dem Weg in die Zerstörung, statt auf dem Weg der schwierigen und anstrengenden Suche nach Balance zwischen Sein und Nicht-Sein. Eine Gesellschaft, die auf solche „Musk-Visionäre“ baut, kann – konsequent weitergedacht – sich selbst nur in den Tod manövrieren, denn hier wird keinerlei Balance auch nur versucht zu halten.
Eine meiner Wetten ist, dass mit der zunehmenden Zerstörung der Welt, wie sie jetzt konstituiert und in Bewegung ist, diese Kunst des Dichtens, diese Fähigkeit der Kontaktaufnahme mit der „heiligen Welt“ wieder viel mehr Gewicht und Bedeutung bekommen wird.
Zwei Frauen, die für den Erhalt des Vibrierens und dem Nachspüren sorgten, erlebte ich beim Hören des Podcasts Freiheit Deluxe in der der Podcastfolge mit Antje Rávic Strubel vom 3.12.2021. In dieser Folge erwähnte Jagoda Marinić nebenbei auch die italienischen Philosophinnen und ihre philosophische Praxis. Das ist nicht unwichtig, denn ich spürte, dass sie sie nicht nur erwähnt, sondern diese Praxis – nicht nur in dieser Podcastfolge – anwendet. Aber besonders diese Podcastfolge blieb mir gerade deswegen immer im Gedächtnis und hat mich sehr berührt, weil sich zwei Frauen gegenseitig Autorität geben und in ein Mehr verwandeln können. Jagoda Marinić erklärt, wie sehr sie die Literatur von Antje Rávic Strubel zum Klingen und Vibrieren und Nachdenken und Nachspüren gebracht hat. Letztere lauscht den Worten der anderen über ihre eigene Literatur oft nur andächtig und fügt deren Kommentaren öfter gar nichts hinzu. Am Ende des Gesprächs drücken sie sich gegenseitig ihren Dank aus:
Jagoda Marinić: „Ich danke dir sehr, dass du warst und uns Raum und Zeit gegeben hast und eben auch Einblick in deine Gedankenwelt. Es hat mich sehr gefreut, es hat mir auch große Freude bereitet.“
Antje Rávic Strubel: „Ja mir auch. Ich fand es sehr schön. Ich fand es total schön, wie du mein Buch gelesen hast. Und Sachen aufgebracht hast, die bisher in den Rezensionen oder in anderen Gesprächen noch nicht angesprochen worden sind.“
Jagoda Marinić: „Das freut mich sehr, und es hat mich auch wirklich bewegt, das zu lesen. Also ganz vielen Dank für dieses Buch.“
Antje Rávic Strubel: „Ja, danke.“
Kommunikation ist hier keine Einbahnstraße; und so kann etwas Neues entstehen. Das Vibrieren im Gespräch zeigt an, dass diese Form der Kommunikation nachhaltig ist. Zwei Frauen umtanzen ein literarisches Werk und literarisches (Er-)schaffen wie ein Lagerfeuer, ich setze mich dazu, tanze mit, lausche und tauche meinen Blick ebenfalls tief ins Feuer. Diese tiefe liebevolle Beschäftigung mit einem künstlerischen Werk – über Gefühle und resonanzauslösende Lesemomente und eben nicht über kalten Intellekt oder (oftmals durch journalistische Fragen ausgelöste) Dramakreation – findet sich sehr selten in der öffentlichen Diskurslandschaft. Ich liebe diesen behutsamen, liebevollen Umgang miteinander, und diesen radikal auf Resonanz ausgerichteten Blick auf die Kunst.
Wenn ich auftauche aus so einer intensiven Beschäftigung mit Mensch und Kunst wird mir umso schmerzvoller, aber auch klarer bewusst, dass unser europatriarchales Gesellschaftskonstrukt keine Lösungen für ein gutes Leben innerhalb der planetaren Grenzen bereithält. Wirklich nicht. Wir haben es wirklich versucht. Aber mit jeder Lösung, die wir innerhalb des gesellschaftlichen Rahmens anbieten, machen wir noch viel mehr kaputt, wir vertrauen immer noch der „falschen“ Welt. Wir trauen nicht er Kunst und den richtigen Prophet*innen, weil wir noch nicht einmal wissen, warum wir ihnen vertrauen sollten. Also tauchen wir auf, obwohl es uns abgetaucht so gut ging und wir im Abtauchen Wegweiser hätten finden könnten. Aber nein, wir tauchen auf, und dann zerstören wir weiter und belassen in Schweigen, was lebendig sein und in Sprache, in Kommunikation, in Bewegung, in Beziehungsweisen sein sollte und kommen muss. Und so wissen und lernen wir auch nicht, wie Heilung gelingen kann, denn sie liegt außerhalb unseres Gesellschaftssystems.
Deswegen ist es so wichtig zu verstehen, dass die wahren Lösungen noch unter der Erdoberfläche liegen und auf das Keimen warten. Keine Ahnung wo wann wie was. Wir müssen halt zuhören, ohne der Welt unsere Denkkonstrukte überzustülpen. Deswegen brauchen wir hier wirklich gerade nicht den Ingenieur, der durch alle möglichen europatriarchalen Schulen gelaufen ist und geeicht ist auf den Millimeter. Es muss vielmehr wachsen, was die Welt wachsen lassen möchte. Die Künstler*in ist mit ihrem Kunstwerk fähig, uns davon das ein oder andere zu vermitteln, zumindest kann sie uns einen klitzekleinen Hauch davon eingeben.
Und dann müssen wir uns kümmern: um das, was erscheint, was wächst, was weht, was auch immer das sein wird und wie klitzeklein es auch war. Und dann beginnen die Fragen, ganz neuartige, ungewohnte Fragen: Was soll das? Wofür ist das? Was will uns die Welt damit sagen? Nicht mehr die ewig falsche Frage: Was will uns die Künstler*in damit sagen. Denn sie weiß es vielleicht selbst nicht, weil sie nur Übersetzer*in ist. Wir müssen lediglich in sie und ihrer Kunst vertrauen.
Wir müssen uns von der Welt inspirieren lassen und ihre weirden Dinge und Gedanken in die Welt bringen, auch wenn wir nicht wissen, was sie von uns will. Der Sinn von Kunst zeigt sich vielleicht anderen Seinsformen früher und uns Menschen erst sehr viel später. Oder auch nie. Dann war die Kunst vielleicht gar nicht für uns bestimmt; dann war es lediglich menschliche Aufgabe, sie in die Welt zu bringen. Nehmen wir Menschen einfach mal Abstand, so wie Erin Manning sagt (siehe Ende Teil 2). Das nimmt gleich auch so viel europatriarchalen Druck von unseren Schultern. Kunst kann uns ganz behutsam beibringen, wie es sich anfühlt, wenn wir nicht die Macker vom Dienst sind, sondern lediglich Hüter*innen dessen, was in der echten, lebendigen Welt ist. Denn jene, die hüten, sind zwar unabdingbar (also keine Angst: die Welt braucht die Menschen!), aber sie müssen nicht ständig und immer im Fokus stehen und Prio Nummer eins sein.
So geht’s weiter:
Im 4. Teil plädiere ich dafür, dass sich alle Menschen dem Kunsterschaffen zuwenden. Denn im künstlerischen Tätigsein zeigt sich die Welt der Künstler*in und entsteht Beziehung zwischen Welt und Mensch/Künstler*in.
In Teil 5 tauche ich tief in die Musik von Amy Winehouse, Britney Spears und Christina Aguilera ein und stelle die Frage nach der Welthaltigkeit ihrer Musik. Falls ihr glaubt, ihr wüsstet die Antwort bereits, dann lasst euch überraschen! Außerdem kommt in Teil 5 mein persönliches Lieblingsstück dieser Serie: Ich beschaue mir in dem kinematografischen Meisterwerk Poor Things, wie hier die Hauptfigur Bella jedem Vibrieren, jedem Schwingen von minor gestures nachgeht; die durch ein entscheidendes, tiefgreifendes Ereignis ausgelöst werden. Hier kommen – wie auch schon bei der Betrachtung des Wirkens der Musik von Amy Winehouse (auf mich) – mystische Fragen über das „Leben nach dem Leben“ auf. Das ist eine der Fähigkeiten von minor gestures, wenn wir uns beginnen zu trauen, ihnen zu folgen.
Mit diesem deep dive in ein Musterbeispiel des Wirkens der minimalen Bewegungen (minor gestures) und der hermeneutischen Sekunde nähern wir uns dem Ende und dem Fazit in Teil 6. Hier werden alle philosophischen Fadenverbindungen noch einmal aufgenommen und Sensoren und Orte für eine Denk- und Fühlpraxis entwickelt, die es uns ermöglicht, im Kunsterschaffen und Kunsterleben den planetaren Grenzen wieder näher zu kommen.