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TEIL 2 der Reihe “Kunst auf der Spur”: Freiheiten und Grenzen der Künstler*in

Von Anne Newball Duke

Foto (und alle folgenden): Anne Newball Duke; aus dem Buch Der Junge, der Katzen malte (1993, nacherzählt von Arthur A. Levine). Die Bilder im Buch sind von Frédéric Clément.

Rückblick: In Teil 1 erkläre ich anhand von drei Beobachtungen der letzten zwei Jahre das aufgekommene Begehren in mir, der Bedeutung von Kunst in meinem Leben nachzuspüren und zu fragen, wie es möglich wird, mit Kunsterleben in die planetaren Grenzen zu gelangen. Für dieses Nachspüren habe ich die Konzepte hermeneutische Sekunde von Caroline Krüger und minor gesture von Erin Manning in Verbindung gebracht, die sehr hilfreich für dieses Anliegen sind. 

Was darf die Künstler*in?

Richten wir unser Augenmerk auf die Rolle und Aufgabe der Künstler*innen in unserer Gesellschaft: sie erfüllen eine ganz spezifische Aufgabe, und dafür bekommen sie vom Rest der Gesellschaftsmitglieder mehr Freiheiten als andere Gesellschaftsmitglieder zugesprochen. Sie dürfen beispielsweise tagsüber schlafen und nachts arbeiten, obwohl sie keine Schichtarbeiter*in sind. Alle anderen Menschen – außer Schichtarbeiter*innen und Künstler*innen und vielleicht noch Mütter von Neugeborenen und Personen im Urlaub – werden schwer verurteilt, wenn sie kerngesund am Dienstagmorgen um10 Uhr noch im Bett liegen. Da kann was nicht stimmen!! 

Da sie mit ihren Werken unsere „normal-menschlichen“ Horizonte erweitern und uns inspirieren sollen, dürfen und müssen sie sogar gesellschaftliche Rahmen überschreiten. Aber wohin? Denn irgendwie gibt es irgendwo in dieser Überschreitungszone doch Grenzen: „Bitte nicht zu weit nach rechts, bitte nicht zu politisch korrekt, nicht zu weit links, dafür bin ich zu gut-bürgerlich, und ich zahle schließlich mit meinem Jahres-Theater-Abo usw.“, sagt vielleicht die ein oder andere Kunstliebhaber*in. Ich kann hier durchaus noch mit Ijoma Mangolds Kritik (siehe TEIL1) mitgehen oder diese zumindest nachvollziehen: Wir Kunstaufnehmenden wollen inspiriert werden und bei Kunstaufnahme nicht ständig an Grenzen oder ins Misstrauen gestoßen werden, ob jetzt hier gerade Antisemitismus oder Rassismus oder Misogynie oder so abgehen könnte. Also wenn schon Skandal, sagen wir, dann zwar ordentlich und mit krawumm, und doch bitte irgendwie in die richtige Richtung; welche auch immer es gerade ist und mich hoffentlich nicht allzu sehr persönlich juckt. Gesellschaftliche Verkrustung, die andere und vielleicht auch mich unnötig klein gehalten hat, die darf und soll und muss sogar durch ein Kunstwerk aufgebrochen werden. Das ist unser Anspruch an Kunst. Bitte Künstler*in, frisch ans Werk, erfülle diesen! 

Ich fühle, dass die Vermutung oder der Verdacht aufkommen könnte, dass die Freiheiten für Künstler*innen mit all diesen Anforderungen an sie und ihr Werk mit diesem „Wunsch nach Richtigkeit“ dahinschwinden. Sie müssen viel bedenken und sich anscheinend vorher entscheiden, wem sie „dienen“ wollen: der Stärkung oder Sichtbarmachtung von marginalisierten Gruppen beispielsweise. Oder abstrakten Ideen wie der Moderne, inklusive dem Fortschritt. Ijoma Mangold meint, die Kunst ist restriktiviert worden, seit wir sagen: Menschen dürfen nicht von ihr verletzt werden. Und ich bin hier sogar mit ihm einer Meinung: auf Kunst darf kein restriktiver Impetus wirken; sie darf weder vom Verstand noch von (imaginären) Tests „an allen Menschen und Gruppen“, ob sie ja nie niemanden verletzen, durchgescannt werden müssen. Dieser Scan – so meine ich – obliegt alleinig der Künstler*in und ihrer Welthaltigkeit. Wenn welthaltige Kunst Menschen verletzt, dann ist das vielmehr ein wichtiger Indikator, dass hier unbedingt welthaltige Beziehungsweisen gesponnen werden müssen; dass hier eventuell Verknüpfungen und Fäden fehlen und aufgenommen werden sollten. Was ich unter Welthaltigkeit verstehe, sickert hoffentlich im Laufe des Textes immer mehr in das Verständnis. 

Und Kunst darf eben auch kein Anhängsel für irgendeine politische Partei oder Mission werden. So beobachte ich beispielsweise den Pianisten Igor Levy voller Bewunderung. Aber ganz tief in mir auch voller Verwirrung. Denn da ganz tief in mir bekomme ich Kunst und Politik nicht zusammengesetzt. Oder sagen wir so: Ich mag seine politischen Aussagen, aber kann das nicht mit seiner Klavierkunst zusammensetzen. Für mich ist das zufällig ein und dieselbe Person. Oder? Ich weiß, dass ich anderer Meinung war, als ich noch „rationaler“ unterwegs war. Ich komme im 6. Teil noch einmal darauf zurück. 

Oder nehmen wir ein anderes Beispiel, das Gedicht „The Hill We Climb“ von Amanda Gorman, das sie zur Inauguration von Joe Biden 2021 vortrug. Ich hatte merkwürdigerweise nie Interesse an dem Gedicht… vielleicht, weil ich immer – ohne der Spur genauer zu folgen – das Gefühl hatte, dass Kunst kein Schmuckstück auf der politischen Bühne sein sollte… ein Kunstwerk kann durchaus einer politischen Richtung nahe sein oder in einer bestimmten politischen Gruppe besonders viel Vibrieren auslösen oder sowas in der Art, aber sie darf dann nicht instrumentalisiert werden. Die Kraft der Kunst liegt nicht darin, dass sie von Politiker*innen angeeignet und auf die politische Bühne geholt werden kann. Die Kraft der Kunst liegt in ihrer Subversivität und dass niemand – keine Politiker*in, keine Partei jemals sicher sein kann, wie ein Kunstwerk wann auf wen wirkt. 

Ein Kunstwerk trägt in diesem Sinne immer rechts und links in sich; oder sagen wir: welthaltiger Kunst kann rechts und links egal sein; sie schert sich nicht darum, wie und von welcher politischen Richtung sie aneigenbar ist. Zu dieser Aussage komme ich auch durch folgendes Erlebnis:

Ende des letzten Jahres war ich in einer Vorführung des Dokumentar-Films „Fragmente aus der Provinz“ mit anschließender Diskussion mit dem Regisseur Martin Weinbart. Im Publikum saß auch ein bekanntes AFD-Gemeinderatsmitglied der Stadt, welcher sich in der anschließenden Diskussionsrunde sehr positiv über den Film äußerte und sich mit viel schwelgerischem Pipapo beim Regisseur für den Film bedankte; er werde ihn auch unter seinen Parteifreunden usw. weiterempfehlen. Danach beim Jacke-Anziehen kam ich noch kurz mit Bekannten aus der Partei Die Linke ins Gespräch. Sie drückten ihren Schock und ihre Bedenken gegen den Film aus, allein weil dieser AFD-Mann sich derartig positiv über den Film geäußert hatte. Es könne also mit dem Film etwas nicht stimmen, er könne nicht gut sein, wenn er von Rechten aneigenbar wäre. Nun, dachte ich später beim Nachhausefahren auf meinem Fahrrad: die Rechten eignen sich seit Jahrzehnten linkes Denken an; muss man nur mal Martin Sellners Bücher lesen, da wird ein Gramsci nach dem anderen zitiert. Linke Guerilla-Taktiken erblühen neu in rechtem Gewand. Rechte nennen sich jetzt gar selbst Kommunist*innen. Die Strategie ist nicht neu; in Chile zu Zeiten der Diktatur wurden im politisch-diktatorischen Diskurs aus politisch Linken Terrorist*innen. Überall und wahrscheinlich auch zu allen Zeiten wurde das gemacht. Von der Welt entkoppelte Sprache zur Einverleibung, Nihilierung, Verwirrung usw. usf. Und kaum haben wir uns versehen, schwupps befinden wir uns schon in einer Diktatur, nur weil wir uns von Wortnutzungen und Meinungen von Rechten haben beeindrucken und beeinflussen lassen. Wie konnte das nur passieren?

Kommen wir zurück zum Umgang mit der Filmbewertung des AFD-lers: Ich lasse mir von einem rechten Typen, der eh alles dreht und wendet, wie es ihm gerade in den Leute-bezirz-und/oder-empör-Kram passt, nicht sagen, was ein guter Film und was ein schlechter Film ist, und ob ich von einem Film inspiriert sein darf oder nicht! So weit kommt es noch, dass ich mich derart eingrenzen lasse. 

Auch ich habe meine Kritik am Film, aber zunächst einmal bin ich dankbar: dankbar, dass jemand sich des Themas angenommen hat und bereit war, ins Risiko zu gehen und offen zu sein für neue Richtungen und Prozesse mitten im Filmprojekt. Ich weiß genau das am meisten zu schätzen: dass der Regisseur ein Interesse hatte, dem er gefolgt ist, und im Verlaufe des Projektes durch unerwartete Erfahrungen, die sein Denken verändert haben, auch bereit war, den Inhalt anzupassen. Vielleicht ist er gerade dadurch am Ende angreifbarer geworden. Oder vielleicht ist vielen dadurch nur offensichtlicher geworden, was er alles nicht im Blick hatte. Aber er hat sich gewagt, und allein deswegen gab es viel zu sehen und zu denken und zu besprechen. Ich kann mir keine lebendigere Diskussion vorstellen, als wie wir sie nach der Vorführung hatten. Was will ich mehr?

Was passiert, wenn die Künstler*in schon vorher weiß, was an Deutung rauskommen muss? Oder: Wo ist die ostdeutsche Alice im Wunderland?

Im November 2024 war ich innerhalb der Esslinger lesart in der Lesung „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“. Als eine noch in der DDR geborene und bis zum 11. Lebensjahr in ihr aufgewachsenen Person hatte ich hohe Erwartungen: vor allem an einen ganz speziellen ostdeutschen Humor, den ich nicht beschreiben kann und den ich fast vergessen habe; den – wenn er denn mal kurz aufflackert – ich aber trotzdem so schmerzlich vermisse hier tief im Westen. Über das Sieben-Nächte-Besäufnis zu hören war mir so wichtig, dass ich mich nach einem familienintensiven Ausflugstag noch vor die ausverkaufte Veranstaltung stellte in der Hoffnung, jemand würde mir zwei Tickets verkaufen. Im November mit all den Krankheiten nicht so abwegig, und so war es dann auch.

Ich hatte das Buch von Annett Gröschner, Peggy Mädler und Wenke Seemann nicht gelesen, bevor ich zur Lesung bin. Vielleicht waren meine Hoffnungen allein aufgrund des Titels etwas überhöht: Ich erwartete nichts weniger als eine besoffene Albernheit, aus der völlig verrückte, aber am Ende doch tiefgründige Ideen für den idealen Staat erwuchsen. Denn immerhin haben sich drei ostdeutsche Frauen sieben Nächte lang betrunken; ob imaginär oder ganz in echt, ist für mich ja zweitrangig. Ich erwartete Crazyness, Albernheit und Ausgefranstheit.

Ich hatte dann aber das Gefühl, dass alle drei individuellen Erzählungen zu einem konsistenten sieben-Punkte-Plan führen mussten, welcher bei Erfüllung im idealen Staat münden würde. Dieser Plan glich doch sehr all den anderen linken Utopien, die gerade so entworfen werden. Sorry, aber ich musste ein bisschen gähnen. Statt verrückten Gesellschaftsideen gab es seitenlange Erklärungen in angeblich einfacher Sprache, was Dialektik ist. Alles gut, ihr dürft das tun! Aber hier entsteht nichts Neues! Diesem hoch abstrahierten rational-intellektuellen Denken kann kaum wer folgen, schon gar nicht jener Teil des Publikums, der ein Glas der von euch netterweise angerichteten DDR-Bowle gereicht bekommen hat. 

Bowle nach DDR-Rezept in der Lesung

Ich bin eine davon, und noch bin ich leider nicht betrunken genug, aber in richtig betrunkenem Zustand würde ich euch gern lallend mit Carla Lonzi sagen: „Ich spucke auf Hegel, und ich spucke auch noch auf Marx und Adorno! Tiefschürfende Analyse von Kapitalismus und Gesellschaftskritik und Dialektik usw. hin oder her, drauf gespuckt, hicks, sry, da is keine Anleitung drin für das gute Leben für alle, wirklich nicht, ich frage euch jetzt mal was ganz anderes, weil ihr die Pferdemetapher auch gebracht habt: Wusstet ihr zu Beginn, wohin ihr reiten wolltet auf euren Rössern? Weil es macht gaaaanz stark den Eindruck, dass ihr das von Anbeginn wusstet, und das ist das, was mich echt langweilt. So als wenn ihr euch immer gegenseitig ermuntern müsst: ‚Schaut, liebe Denk-Kameradinnen, da hinten sind die sieben Punkte, und dahin müssen wir es schaffen, über die sieben Berge vorbei an den sieben Dialektiken und den sieben Fakten zur Treuhand, und wir dürfen diese sieben Zielpunkte nieeeemals aus den Augen verlieren, nienieniemals, ok? Weil sonst… trinkt lieber weniger!! Weil sonst haben wir nichts anzubieten außer wilde Gedanken bei einem allzu unzuintellektuellen Besäufnis!‘ Und danach nehmt ihr noch eine Sprachnachricht an euch selbst auf, die ihr vor jeder der einzelnen der sieben Nächte abspult: ‘Wir müssen trotz Suff immer noch ernstzunehmende Journalistinnen bleiben.’ Tja, ich muss euch sagen, das ist leider ein unauflösbarer antagonistischer Grundwiderspruch, wirklich, ist euch das nicht aufgefallen? Im Suff wäre euch das aufgefallen. Deswegen my guess: Ihr habt zu wenig getrunken!! Richtig? Ihr seid nie über den Melancholie-Schwips gehupft! Ok, das ist wirklich very intellektuell-ostdeutsch, zugegeben, aber dadurch wart ihr nie im dunklen Reich der Hyänen und Drachenkämpfer*innen, nehmt euch ein Beispiel an Alice im Wunderland!

Psssscht leise, ich rede, ich bin noch nicht fertig, ich sage euch noch eins… hier… warte… hicks… guckt mal ihr Schönen, guckt mich an, in meine herumeiernden Augen, die keinen Fokus mehr in eure schönen Augen halten können, guckt mich trauriges Beispiel einer sturzbetrunkenen ostdeutsch geborenen Frau an… und deswegen weiß ich auch, wovon ich spreche: je weiter vorangeschritten die sieben Nächte, desto irrlichtener und wilder und dunkler hätte es werden müssen im hintersten Fitzelchen des Brandenburger Hinterlandes! Ihr saht doch die Sterne, habt ihr gesagt! Warum habt ihr sie nicht genutzt?!? Sie nicht befragt? Ihr wart umgeben von Dunkelheit, welche die Kraft hat, neues Denken zu gebären! Warum dann also diese Klein-Linksbürgerliche-Sieben-Punkte-Gesellschaft? Warum nicht stattdessen ein unendlicher Sterneplan, der alle Universen und Plurimultiversen und Wesen und Nicht-Wesen dieser Welt inkludiert? Kommt, meine Schönen, die Sunny… ja die aus dem Film Solo für Sunny (den Titel muss ich euch nicht dazusagen, das ist ostdeutsches kollektives Gedächtnis, ich weiß, ich sage es den westdeutschen Leser*innen), ich find die so cool, die singt nur für uns heute Nacht, wir fangen nochmal an mit dem Denken! Ich komm mit ins Brandenburger Hinterland! Her mit der Bowle! Her mit der Dialektik. Die kommt weg! Lass los, nein, nein, keine Diskussion, die Dialektik wird vom Pferd geschmissen! Runter da vom hohen Ross! Die braucht kein Mensch und erst recht kein Tier und kein Mond und kein Stern! Lasst los! Lasst lohooosss, pass auf, gleich schmeißen wir die Bowle um, mensch, lass los, aua mensch, du schneidest dich noch an der Dialektik! 

Und läge sie dann endlich in der Brandenburg’schen Mottergatsche, die Dialektik – sag ich euch… – dann hätten wir uns nur ganz kurz dialektik-nackig gefühlt, aber dann hätten wir uns endlich auf die Bowle gestürzt und hätten sie mal richtig geschlürft, so wie sich das gehört für vier ostdeutsche Frauen, die sich betrinken wollen, direkt aus dem Topf oder von der Kelle, und dann wären wir unter Lachkrämpfen zusammengebrochen, und das unendliche Freiheitsgefühl hätte uns noch schneller besoffen werden lassen, mit freiem Blick auf die Sterne, mensch, was wäre da möglich gewesen.“ 

Nun gut, weil Alkohol und die Hoffnung auf Kontrollverlust angekündigt war, habe ich vielleicht Kunst erwartet, wo es doch „nur“ solides links-journalistisches, utopisches Handwerk zu holen gab an diesem natürlich trotzdem sehr sehr schönen Abend in Esslingen. Nichts für ungut. 

Kunst darf kein „icky shit“ sein

Soeben sprach ich noch von grenzenloser, sternenumwobener Freiheit, und schon möchte ich wieder eingrenzen. Aber wir können Komplexität halten und die verschiedenen Töne hören. 

Denn natürlich soll Kunst uns auch “ausrichten“. Wir können uns in keine neuen lebendigen Gesellschaftsformen vordenken und vortasten, wenn wir keine Vorstellung davon haben, wie solche riechen, schmecken, aussehen usw. könnten. Wohin und wo lohnt es sich für mich, gefühlstechnisch und denkerisch vorzudringen? In welcher Denkrichtung sollte ich wirklich nicht länger verweilen? Dieses Vortasten ins Ungewisse – sei es gut oder schlecht oder beunruhigend oder berauschend oder was auch immer –, das ist für mich die Hauptaufgabe von Kunst mit ihren Freiheiten der Überschreitung.

Und dabei darf Kunst, darf die Künstler*in auch nicht komplett frei sein. Denn unter dem Label „Kunst“ kann auch viel Bullshit produziert werden. Es gibt diesen schönen Postkarten zierenden Spruch: „Ist das Kunst oder kann das weg?“ Letzten Herbst schmiss ein Reinigungsteam wohl wieder in irgendeiner Ausstellung zwei Coladosen weg, die aber zur Ausstellung gehörten. Skandal, wie dumm und kunstunbeflissen sind die denn!? Die hätten doch bitte schon erkennen können, dass die Dosen vom Künstler handbemalt gewesen waren! 

Oder ist es alles ganz anders? Haben die Reinigungsfachkräfte intuitiv richtig gehandelt? Diese Coladosen: Ist das Kunst oder kann das weg? Oder ist das Wegschmeißen der Coladosen durch die Reinigungsfachkräfte erst der wahre Kunstakt? Und wenn ja, kann der auch weg?

Darf ich als Künstler*in alles entstehen lassen, nur weil ich kann? Woher weiß ich als Künstler*in, dass mein Kunstwerk wichtig für die Welt ist? 

Der chilenische Schriftsteller Omar Saavedra Santis sagte einmal in einem Interview sinngemäß, dass der Grund, dass er seine Bücher schreibt, jener sei, dass sie sonst im Regal fehlen würden. Diese Antwort ließ mich nie los, seit circa 15 Jahren geistert sie in meinem Kopf herum, sie wirkt bis heute wie ein gutes Kunstwerk auf mich. Was meinte er damit? Ohne sein Buch im Regal und das dadurch immer mögliche Herausnehmen und Aufschlagen des Buches fehlt sein Blick auf die Welt? Es fehlt dann sein Beitrag zum großen Puzzlewerk, wie man die Welt sehen kann? Es fehlt dann sein Geschichtenfaden? Einen Faden, den man unbedingt ansehen und dem man folgen und bestenfalls einbauen sollte in sein eigenes Geflecht von Weltnarrativen? 

Die Skulptorin Rose B. Simpson sagte in einem Interview mit Joshua Schrei im Emerald Podcast, dass sie als Künstlerin nicht jeden „icky shit“ („ekligen Scheiß“) in die Welt entlassen dürfe, nur weil ihr eine bestimmte Idee durch den Kopf gewandert sei. Kunst kann gut für die Welt sein. Aber nicht jede Kunst ist gut für die Welt. Sie sagt, 95% der aktuellen modernen Kunst mache sie „physisch krank“. Zukünftige Lebewesen würden sicher einmal denken: ‚Wow, die Menschen sind wirklich richtig kaputt im Kopf gewesen!‘ „Als Künstlerin muss ich mir dessen bewusst sein, was ich in die Welt setze. Und wie das, was ich mache, die Menschen beeinflusst, die um mich herum sind und die ich auch in gewisser Weise repräsentiere. Was ich in dieser Kunstwelt mache, beeinflusst meine Gemeinschaft, meine Leute. Und weil ich hier geboren und aufgewachsen bin, weiß ich, was meine Leute negativ beeinflusst. Ich setze mir Grenzen. Ich kann nicht einfach alles machen. Und ich denke, wie gesegnet ich bin, dass ich diese Grenzen in mir habe. Ich kann bestimmte Dinge einfach nicht tun. Meine Intention muss superklar und sauber sein. Ich kann nicht einfach irgendeinen ekligen Scheiß (icky shit) in die Welt bringen, nur weil ich es kann, weil es möglich ist. (…) Ich muss sehr vorsichtig sein, das zu navigieren.“ 

Und ich würde mit Rose B. Simpson meinen, dass viele Kunstwerke nicht auf das gute Leben ausgerichtet sind. 95% Kunst-Abfall könnten daher rühren, dass die kreativen Gedankenströme der Künstler*innen gefangen sind in „falschem Grenzenerhalt“: Hält sich die Künstler*in gefühls- und gedankentechnisch nur innerhalb der Grenzen der Moderne auf, dann ist das zu wenig. Die Lösungen für all die Gewalt und Ungerechtigkeit usw. im Europatriarchat finden sich nicht innerhalb dieser Gesellschaftsform. Es reicht nicht aus, diese Gesellschaft verbessern; beleuchten, flicken, ins Groteske ziehen, paraphrasieren, die Löcher stopfen, die Gewalt unterbinden und Zerstörung (noch) sichtbar(er) machen zu wollen. Moralische Imperative kommen schon von so vielen anderen Gesellschaftsmitgliedern bis hinein in den Burnout; schaut euch nur die Klimaaktivist*innen an! 

Wenn Künstler*innen das tun, agieren und wirken sie wie Politiker*innen oder Aktivist*innen, nur mit anderen Mitteln; ein bisschen kreativer halt. Sie schaben die Gesellschaft an ihren Rändern aus und wärmen sich in diesen Rändern, sie drehen jeden Stein um, um Gewalt zu zeigen und anzuprangern beispielsweise. Aber ohne dass sie es wollen, stopfen und nähen sie in ihren Versuchen auch immer wieder die Gewalt mit ein. Warum passiert das, obwohl sie ganz sicher das Gegenteil bezwecken? Ich glaube, weil sie sich in ihrem künstlerischen Sein nicht mit der Welt verbinden. Ohne Weltverbindung sehen sie die Welt weiter vermittelt durch die von der Moderne völlig eingenommenen Menschenaugen. Sie sind dann im Grunde Politiker*innen, Psycholog*innen, Anwält*innen und Polizist*innen usw. im Rahmen des gegenwärtigen Gesellschaftssystems.

Kunst, die mich inspirieren kann, hat aber eine andere Aufgabe. 

Sie hat zu fragen: Wie geht gutes Leben auf dieser Welt? Und das muss vormoderne Denken und uralte Erinnerungen mit einbeziehen. Was geschah in einer Zeit, in der wir Menschen uns noch nicht von all den anderen Beziehungsweisen mit der Welt lossagten im Glauben, wir wären was Besonderes? Die Kunst war zu der Zeit eine andere. Sie war weltverbundener, sie suchte nach Kontakt, sie war nicht allein auf rein menschlichen Ausdruck und Wahrnehmung ausgerichtet.  

Kunst, Tänze, Rituale, Gemälde waren nicht nur für Menschen gedacht, sondern auch für Gött*innen oder Dämon*innen. So erzählt Joshua Schrei in einer Podcastfolge von The Emerald die Geschichte vom Jungen der Katzen malte: Ein junger Priesteranwärter malte Katzen an alle Tempelwände und auf jedes Reispapier, das er finden konnte, bis sein Meister wirklich genug davon hatte und ihn fortschickte. Und der Junge ging fort, und fand einen alten verlassenen Tempel auf einem Hügel, in dem es viele leere Wände gab… und Tinte. Und so begann er wieder, seine geliebten Katzen ganz nach seinem Herzbegehren an die Wände zu malen. Und als er in dieser Nacht schlafen ging, hörte er schreckliche Geräusche, denn in dem Tempel wohnte ein uralter Dämon, und der Dämon liebte nichts mehr als junge Tempeldiener zu fressen. Der Junge, der in einer kleinen Kammer in der Ecke lag, hörte das Schreien und Gurgeln und versuchte weiter zu schlafen. Als er am nächsten Morgen erwachte und in die Tempelhalle kam, schaute er auf die Gemälde seiner geliebten Katzen, und ihnen tropfte das Blut aus den Mäulern. Und der Dämon lag tot auf dem Boden. 

Kunst beschützt. Kunst erfüllt Aufgaben in der Welt, und sie gehen weit über das menschengemachte aktuelle Gesellschaftskontrukt hinaus. Sie berühren eine Welt, die in, zwischen, unter der europatriarchalen Weltkonstruktion verborgen liegt, die sich in den Rissen dieser Konstruktion zeigt. Kunst berührt die wirkliche Welt; sie vergrößert die Risse in der europatriarchalen Konstruktion. 

Erin Manning unterscheidet zwischen art und artfulness; die Übersetzung fällt mir noch schwer; ich stehe erst in den Anfängen, ihre Konzepte zu verstehen. Momentan glaube ich, meint sie damit eher das Wirken von Kunst; also wenn ein Kunstwerk dieses gewisse „Darüber-Hinaus“ (more than, what else) in der Wirkung entfalten kann; vielleicht nur für eine Person im Publikum, und vielleicht auch nur für einen kurzen Augenblick. Artfulness ist daher seltener als Kunst. Sie hängt von so vielen Neigungen ab, von so vielen impliziten Kollaborationen zwischen Intuition und Sympathie (und auch Sympathie hat bei ihr eine eigene Definition). Und mehr als alles andere hängt sie davon ab, dass der Mensch „aus dem Weg geht“ (S. 63). Artfulness ist die Art und Weise, wie aktuelle Kunst sich selbst fühlbar macht, wie sie ankommt und wie sie immer ihre Landung überschreitet.

Kunst kommt aus der Tiefe des Begehrens. In einem Gespräch zwischen Joshua Schrei und Trevor Hall, einem Singer-Songwriter, erzählt letzterer in der Podcastfolge von The Emerald „All of My Lessons Come in the Form of a Sound“, dass ihm manchmal Melodien und Liedtexte in den Sinn kämen, deren Bedeutung er zum Zeitpunkt des Entstehens nicht verstünde. Bei einem seiner Lieder sei ihm erst Jahre nach dem Entstehen – in einem ganz bestimmten Moment – der Sinn seiner eigenen Worte für ihn selbst klar geworden; sie hätten erst dann körperlich in ihm gematcht, sozusagen Resonanz ausgelöst. Diese Ungleichzeitigkeit von einerseits Dinge in die Welt bringen, die in einem aufkommen, die man aber selbst vielleicht noch gar nicht versteht, und andererseits dem Gefühl des „Matches“, des tieferen Verstehens zu einem ganz anderen Zeitpunkt, finde ich wahnsinnig spannend und eröffnet viele Fragen von Zeitlichkeit/Synchronizität und Berührung an sich. Aber dazu vielleicht ein andermal mehr.

Zu Recht könnte man jetzt fragen: Wenn sich noch nicht mal die Künstler*in im Moment des In-die-Welt-Bringens eines Kunstwerks des Sinns bewusst ist, steht das nicht im Kontrast dazu, was Rose B. Simpson sagt, dass man klar und sauber haben muss, was man als Künstler*in in die Welt setzt? Und eine zweite Frage schließt sich an: wenn ich zum Zeitpunkt des Entstehens gar nicht den Sinn dessen weiß, was ich in die Welt setze, wie kann ich dann wissen, ob meine Kreation „politisch korrekte“ Kunst ist?

Dazu im dritten Teil mehr.

Wie es weitergeht:

In Teil 3 werden vor allem die letzten zwei Fragen aus Teil 2 weiter bewegt. Ich folge Kunst und ihrem Fadenspinnen und lande dabei bei Marina Abramovícs künstlerischen Transformationen. Zudem verliere ich mich in vedischer Dichtkunst, da sie Aufschlüsse gibt über die Gründe für die hohe soziale Stellung, die Dichter*innen in dieser Gesellschaft hatten. In dieser Gesellschaft stand der Verstand im Dienste des Herzen. Interessant, oder? Wenn wir bedenken, wie das Verhältnis bei uns ist? Im Podcast Freiheit Deluxe erkenne ich in einem Interview von Jagoda Marinić mit Antje Rávic Strubel differenzfeministische Praktiken, die ein Beispiel für ein In-Bewegung-Setzen, ein gelebtes Mehr ergeben. Die am Ende aufkommende Frage, ob Kunst eine Möglichkeit ist, in der sich die Welt uns Menschen zeigen kann, gehe ich im 4. Teil weiter nach.

Im 4. Teil frage ich mich, welche Fähigkeiten es braucht, damit sich die Welt der Künstler*in zeigt und die Künstler*in den übrigen Menschen in ihrer Kunst vermitteln kann, was die Welt uns Menschen und anderen Seinsformen zu sagen hat. Und da ich das so wichtig finde, dass Menschen wissen wollen, was die Welt ihnen zu sagen hat, fordere ich alle Leute dazu auf, selbst (wieder, weiter) Kunst entstehen zu lassen. 

In Teil 5 tauche ich tief in die Musik von Amy Winehouse, Britney Spears und Christina Aguilera ein und stelle die Frage nach der Welthaltigkeit ihrer Musik. Falls ihr glaubt, ihr wüsstet die Antwort bereits, dann lasst euch überraschen! Außerdem kommt in Teil 5 mein persönliches Lieblingsstück dieser Serie: Ich beschaue mir in dem kinematografischen Meisterwerk Poor Things, wie hier die Hauptfigur Bella jedem Vibrieren, jedem Schwingen von minor gestures nachgeht; die durch ein entscheidendes, tiefgreifendes Ereignis ausgelöst werden. Hier kommen – wie auch schon bei der Betrachtung des Wirkens der Musik von Amy Winehouse (auf mich) – mystische Fragen über das „Leben nach dem Leben“ auf. Das ist eine der Fähigkeiten von minor gestures, wenn wir uns beginnen zu trauen, ihnen zu folgen.

Mit diesem deep dive in ein Musterbeispiel des Wirkens der minimalen Bewegungen und der hermeneutischen Sekunde, nähern wir uns dem Ende und dem Fazit in Teil 6. Hier werden alle philosophischen Fadenverbindungen noch einmal aufgenommen und Sensoren und Orte für eine Denk- und Fühlpraxis entwickelt, die es uns ermöglicht, im Kunsterschaffen und Kunsterleben den planetaren Grenzen wieder näher zu kommen. 

Ausschnitt aus einem Bild aus dem Buch Der Junge, der Katzen malte.

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