Forum für Philosophie und Politik
Seit langer Zeit – seit etwa zwei Jahren – möchte ich einen Text darüber schreiben, was mich an Kunst genau interessiert. Vielleicht, weil ich intuitiv schon länger glaube, dass das breitere Verständnis dafür, was Kunsterschaffen und Kunsterleben in Körper*innen in Bewegung setzen kann, wichtig sein könnte für das Gelangen in die planetaren Grenzen und deswegen viel mehr Aufmerksamkeit verdienen und viel mehr genutzt werden müsste.
So begann ich, Ideen, Gedankensplitter und (Kunst-)Erfahrungen bewusster als zuvor hinterherzuspüren. Bis dato lag oft nur etwas auf der Zunge oder umflog mich der Hauch eines Gedankens, den ich zu oft sprachlich nicht greifen konnte; so wie es mir mit Träumen auch manchmal geht. Viel zu oft ließ ich diesen Hauch verfliegen. In den letzten Monaten bin ich nun an diesen Geschmäckern, Gefühlen und dem jeweiligen „Hauch von …“ intensiver drangeblieben.
Dieser Text ist – wie immer bei mir – nur eine Momentaufnahme, es ist thinking in the making, würde Erin Manning vielleicht sagen. Die Künstlerin und Philosophin Erin Manning war die Entdeckung des letzten Jahres für mich. Ich kannte sie nicht, als ich den Text begann. In meiner Suche nach Mitdenker*innen bin ich auf sie gestoßen, und war wirklich mehr als erstaunt: sie beschäftigt sich in ihrer Philosophie und in ihrer Kunst genau mit diesem klitzekleinen Hauch einer Bewegung in der Körper*in, der durch Kunsterschaffen und Kunsterleben entstehen kann, und hat ihm sogar ein ganzes Buch gewidmet: The Minor Gesture (2016). Diese Idee der „minimalen Bewegung“ ist sehr gut mit Carolines Konzept der hermeneutischen Sekunde verknüpfbar, und deswegen schwingen beide in vielen Textteilen mit – wenn auch nicht immer explizit erwähnt.
Erin Manning hat so viel zu sagen zu Kunst im Entstehen (art in the making)! All meine schweren Gedankengeburten und kleinen Heureka!-Durchbrüche der letzten Wochen und Monate hatte sie wohl schon etwa 20 Jahre zuvor. Seitdem entwickelt sie aus ihnen kontinuierlich ihr philosophisches Denken weiter; Kunst und Philosophie rühren sich bei ihr gegenseitig an.
Ich möchte daher jetzt ihr Konzept der minor gesture kurz vorstellen. Mit ihm werde ich mich sodann durch den Text und meine Kunsterlebnisse schlängeln und es für mich selbst fruchtbar machen.
In Carolines hermeneutischer Sekunde gibt es den Moment der Offenheit, noch bevor das Vorverständnis einsetzt. Kunst kann auch nur genau in so einem Moment wirken. Und ich glaube, dass wir Europatriarch*innen (ich arbeite weiter mit dem Konzept „Europatriarchat“ von Minna Salami) für ein Kunsterleben – sei es bei der Erschaffung oder bei der Rezeption – diese Offenheit in unseren Körper*innen zulassen und aktiv herstellen müssen.
Spirituelle Angebote beispielsweise, die ähnliche Offenheiten brauchen und herstellen können, lehnen wir häufig dankend ab, weil wir zu viel Angst vor Verlust unseres sorgsam gehüteten Verstandes haben. Je mehr wir von ihm haben, desto besser navigieren wir durch ein Leben im Europatriarchat. Dabei könnten ein paar welthaltige spirituelle Erfahrungen unseren Verstand wieder auf neue Spuren und in die planetaren Grenzen bringen. Aber gut, that‘s another Story.
Jedenfalls; gesellschaftsvertraglich abgemacht ist, dass wir Kunst ein kurzzeitiges Eindringen in unsere Körper*innen gönnen dürfen. Das, was Erin Manning mit der minor gesture meint, ist diese klitzekleine oder minimale Bewegung in der Körper*in, die durch diese Offenheit möglich wird. Es geht hier noch gar nicht um Lernen; höchstens um das Erlernen und Nutzen oder auch das Erlernen des Ausdehnens dieser zugelassenen Öffnung. Es geht noch nicht einmal um das Wahrnehmen der „minimalen Bewegung“ – so habe ich Erin Manning verstanden – sondern um das, was die Körper*in sodann von allein in Gang setzt, ohne dass diese Bewegung oder Bewegungen unbedingt den bewussten Zustand erreichen müssen.
Die hermeneutische Sekunde bietet die Möglichkeit an, Neues in die Körper*in aufzunehmen. Wir können also neue Dinge wahrnehmen, die in unseren Wahrnehmungsmustern zuvor nicht vorhanden waren, für die wir erst einmal vielleicht auch keine Worte haben. Ich mag diese Vorstellung sehr. Unsere Wahrnehmungsmuster sind sehr eingepasst ins Europatriarchat, und die hermeneutische Sekunde offeriert für den Moment ihres Wirkens eine Wahrnehmungserweiterung, die – so nehme ich zumindest ganz frech an – jeder Person ganz eigene, ganz persönliche Wege hinausweist aus der europatriarchalen Zerstörung.
Erin Manning schlägt vor, dass wir nicht mehr so sehr nach agency, also Handlungsmacht einer Person fragen, sondern eher darauf achten sollten, welchen Vorschlag das Geschehen selbst macht (S. 143), dieses flüchtige Im-Moment-Sein. Sie nennt das agencement. Das gibt dem Moment, dem Dazwischen und Außerhalb die ganze Wirkungskraft, nicht nur den agierenden Personen und ihren eventuell vorgefertigten Meinungen, mit denen sie beispielsweise in ein Gespräch oder eine Kunstausstellung gehen. Synonyme für agencement sind „Unterbringung“ (accomodation), „Anpassung/Justierung“ (adjustment), „Arrangement/Bearbeitung/Anordnung“ (arrangement), „Zusammensetzung/Komposition/Aufbau“(composition), „Kontexturierung“ (contexture) (S. 134), und sie alle enthalten den Sinn der Mobilisierung. Und dieses „Bewegung-Richten“ hat einen unbestreitbaren Effekt auf die Bedingungen der Erfahrung in ihrem Entstehen (ebd.).
Vielleicht unterschätzen wir sowieso, dass viele Körper*in-Welt-Kompositionen nichtlinear und unvorhersehbar geschehen, ohne dass wir also mit unserem bewusst-willentlichen und wissentlichen Agieren beteiligt sind. Das heißt ja nicht gleich, dass freier Wille nicht existiert; das anzunehmen, kann uns in der europatriarchalisierten Weltwahrnehmung vorerst gar nicht passieren, in welchem wir diesem eine derart hohe, existentielle Stellung zugewiesen haben. Nur könnten wir diesen zumindest ein bisschen mehr in dieses unbeleuchtete Feld der hermeneutischen Sekunde oder der minor gestures hineinbewegen und über den Gedanken nachdenken, dass der freie Wille vielleicht nicht immer die Erfahrung definiert. Das hat natürlich direkte Auswirkungen darauf, wie politisches Denken auch gedacht werden kann. Erin Manning knüpft hier an Felix Guattaris Ecosophy an, welche die humanistischen Bias Intention und Wille zugunsten komplexer Intervalle einer ökologischen Welt in Bewegung verlässt (S. 127).
Die minor gesture ist dabei eine Art Aktivatorin, welche die aktuell verfügbaren (technischen, praktischen, denkerischen usw.) Möglichkeiten und ihr potenzielles Darüber-Hinaus miteinander verbindet. Kunst kann also eine Bewegung eines Gedankens innerhalb dieser Verbindung aktivieren. Erin Manning bringt hier ein Beispiel aus dem Tanzen: Eine Tänzerin verfügt über viele Techniken (und technique ist bei ihr definiert als wiederholte Praktiken, die einen Prozess einschwingen oder einstellen) für den künstlerischen Ausdruck. Was dieses Ereignis zu einem Kunstereignis macht, ist nicht die Qualität der Bewegung selbst, sondern die Qualität des Darüber-Hinaus (what else, more than) innerhalb ihres Bewegung-Bewegens, der Betonung, der Intensität, der Farbe dessen, was die Bewegung hinterlässt. Aus der perfekten Technikbeherrschung können so kurze Zwischenspiele des Mehr-Als kreiert werden. (Ich zitiere/übersetze und rätsle gleichzeitig immer noch an ihren Konzepten und Konnotationen… ich hoffe, ich verstehe es richtig; falls nicht, korrigiere ich im Laufe eines irgendwann einsetzenden Besserverstehens, oder gern kann auch eine Leser*in Hinweise geben.)
Ich glaube, hier gibt es auch eine direkte Verbindung dahin, wie das Mehr entstehen kann, das im differenzfeministischen Denken eine wichtige Rolle spielt. Zum Begriff des Mehr z.B. hier: Dorothee Markert:Wachsen am Mehr anderer Frauen (2002) Zwei weitere Bücher, die überhaupt meine Gedanken in den letzten Jahren entscheidend beeinflusst haben und in diesem Text sicher immer mitschwingen, sind unverbrauchte worte von Chiara Zamboni (Übersetzung aus dem Italienischen von Dorothee Markert) und Sprache ohne Worte von Peter A. Levine (Übersetzung aus dem Amerikanischen von Karin Petersen).
Erin Mannings Differenzierung zwischen bewussten und unbewusst ablaufenden Gedanken ist für das Verstehen der minor gesture wichtig:
„Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen bewusstem Gedanken und dem Gedanken, der sich während dem Erfahrung-Machen bewegt. Der bewusste Gedanke ist nur der Höhepunkt eines weitaus komplexeren Denkens; eins, das sich zum Wahrnehmungsfeld ausrichtet, aber sich selbst noch nicht herausgreift für das bewusste Urteilsvermögen (discrimination). Der unbewusste Gedanke ist überall in der Erfahrung aktiv. Er bewegt sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Er schneidet hindurch. Er öffnet. Er verschiebt. Er ist nicht im Körper oder im Verstand, sondern durch die Verkörperlichung (bodying), wo Welt und Körper mit-komponieren in (an?) einer wohligen Ökologie.“ (S. 115f.)
Dieses „weitaus komplexere Denken“ findet im Grunde innerhalb des Vorverständnisses statt, von dem Caroline bei der hermeneutischen Sekunde spricht; dieser Moment der Offenheit ermöglicht überhaupt das Erfahrung-Machen, die minor gesture mitten im Prozess. Ohne Offenheit gibt es keine neue Erfahrung.
In diesem Sinne muss ich mich im Moment der Betrachtung eines Kunstwerks im Zustand der hermeneutischen Sekunde befinden. Ich lasse ab von Verstand und Ego und all meinem Vorwissen. Ich vertraue meiner Körperin und ihrem Wissen und lasse sie die Arbeit tun. Ich überlasse ihr Raum und Zeit, damit sie in Ruhe Fadenverbindungen prüfen, aufnehmen, weglegen kann. Wenn etwas funkt, wird sie mir Signale senden.
Das Kennenlernen von Erin Mannings Denken fühlt sich für mich ein bisschen so an, wie ich glaube, dass sich die Molekularbiologin Lena (Nataly Portman) in Annihilation beim Betreten des wundersam mutierten Waldes gefühlt haben muss: Die Mutationen sind bereits in der und auf der Welt, aber für sie ist es komplett neu.
Es fühlt sich an, als habe ich mich zuvor durch ein Dickicht gekämpft und bin nun durch mein intensives Spurensuchen auf ihren Pfad gestoßen; einen Pfad, den sie mit vielen anderen Menschen und Nicht-Menschen (Kunstwerken beispielsweise) bereits viele Jahre zuvor geschlagen oder gefunden und ausgebaut hat. Und das ist die unglaubliche und ein wenig süchtig machende Kraft und das Wunder der Philosophie: sie gibt dir oftmals ganz unvermittelt Kenntnis von Seelenverwandten, deren Denken zu einem ganz anderen Zeitpunkt einmal in dieselbe Unruhe-Richtung schoss. Ihr Denken begleitet mich und mein Denken von nun an und schenkt mir auch in schweren Zeiten Heimat; so wie auch schon das von vielen anderen Denker*innen.
Die schönsten Momente sind eigentlich die, in denen Denkwelten ineinanderwachsen, und der eigene Gedanke sich mit dem anderen verwebt. In dem bereits erwähnten Science Fiction-Film Annihilation von 2018 vom Regisseur Alex Garland, mit Nataly Portman in der Hauptrolle, ereignen sich einem Wald zwischen Meer und Sumpfgebieten Alien-artige Mutationen: es gibt u.a. Pflanzen, deren Blüten eigentlich von unterschiedlichen Pflanzenarten abstammen, aber nun in Mutationen von einem Wurzelgeflecht und einem Stengel ausgehen. Das ist ein schönes Bild für einen philosophischen Denkmoment, in dem man auf je ganz eigene Art eins wird mit anderen Denkwelten; sozusagen von den Blütenköpfen tief in die Wurzeln hinein. Es sind Momente, in denen man durch die Hilfe anderer Denkwelten dem eigenen Weltverstehen ein Stückchen näherkommt, bzw. nicht nur näherkommt… in denen man einfach einen kurzen Moment lang „wahrhaftig versteht“ durch das Gedanken-Verwachsen.
In ganz allgemeiner Form über die unendlichen Kunstformen, Konnotationen, Diskurse und Sinne usw. des Wortes „Kunst“ zu schreiben, wäre uferlos. Ich hangle mich daher an drei Beobachtungen entlang, die sich nach und nach in mir verfestigt haben und die mich dazu gebracht haben, meine Gedanken in diesem Text zu sammeln.
Irgendwann während eines Ausstellungsbesuches fiel mir urplötzlich auf, dass mich die dort gezeigte Kunst gar nicht berührt. Das ist mir früher auch schon so gegangen, und ich fand das nie ungewöhnlich. Ich fand das eher normal, und setzte mich mit der Kunst fast immer rein intellektuell auseinander. Ich hatte nie auf Berührung geachtet, sondern mehr auf „Kopfdinge“: kann ich die Kunst mit dem politischen Weltgeschehen zusammensetzen, kann ich daraus meine Meinung oder Ansichten verstärken oder verändern? Kann ich als gute Bildungsbürgerin durch rationales Durchdringen etwas zum Verständnis beitragen mit meinem (Kopf-)Wissen? Also war ich immer sehr erpicht auf die mit Informationen zur Künstler*in und Kunstwerk vollgeschriebenen Wände von Ausstellungsräumen: sie gaben mir Orientierung. Da ich 15 Jahre mit Literatur- und Kulturwissenschaften beschäftigt war, fanden sich an den Wänden auch immer Begriffe, Neologismen, neue Paradigmen aus der Wissenschaft. Mich interessierte eher dieser Transfer, die Nutzung und die Reisen und Bedeutungsverschiebungen von Begriffen, und wie Kunst Wissenschaft befruchtet, wie sie sich gegenseitig Worte und/oder Forschungsfelder schenken. Alles sehr kopflastig. Es war ein anders gelagertes „Funkenschlagen im Gehirn“ als das, was mich heute interessiert.
Ich mag es zwar weiterhin, ein Kunstwerk wie eine Zwiebel schälen zu können und im besten Falle verschiedene Einflüsse von Forschungsrichtungen und anderen Kunstepochen und Künstler*innen darin erkennen zu können. Aber irgendwas hat sich verschoben. Denn die Langeweile kam sogar über mich, wenn das Thema der Ausstellung mich eigentlich ansprach. Und langsam dämmerte es mir: Ich möchte mich nicht mehr allzu lange mit meinem rationalen Verstand um das Kunstwerk bemühen müssen. Ein bisschen ist weiterhin durchaus okay und oft notwendig, um sich hineinfühlen zu können. Wenn ich aber meinen Verstand gar nicht ausschalten darf, weil ich sonst das Kunstwerk nicht verstehe und ich gar nichts aus der Ausstellung mitnehmen kann außer ein intellektuell-dampfendes Hirn, dann bin ich mittlerweile raus, bevor es dampft.
Nun stellte sich die Frage ganz neu, was Kunst eigentlich – da sie mir ganz offensichtlich als intellektuelles Futter nicht mehr reicht – „für mich tun soll“. Und mir fiel auf, dass mich Kunst nur noch interessiert, wenn sie mich entweder irgendwo in der Körperin berührt (in meinem Barbie-Artikel spreche ich z.B. von der Berührung, die sich durch Tränen zeigen) oder mein Gehirn zum Funkenschlagen bringt. Das war eine bemerkenswerte Veränderung.
Ich suche jetzt Kunsträume auf, wenn ich selbst nicht genau weiß, was ich von einer Sache halten soll und mir neue Perspektiven erhoffe. Ich erhoffe mir weniger Antworten auf die in mir drängenden Fragen, sondern eher neue Fragen oder Denk- und Fühlanstupser; oder vielleicht noch nicht mal das: ich erhoffe mir einfach ein gewisses Vibrieren, ein Räsonieren. Wenn ich dann in einem vielleicht stunden-, tage-, monate- oder gar jahrelangem Hinterherspüren dem nahekomme, was das Vibrieren ausgelöst hat, lerne mich und mein Sein in der Welt besser kennen. Und dann sehe, höre, fühle, denke ich im besten Falle die Welt mit neuen Sensoren in Blicken, Ohren, Denkorganen und Empfindungen.
Über Vibration und Nachhall irgendwo in der Körperin gerät mein Verstand in Wallung. Das heißt, ich muss mich dem Kunstwerk ausliefern, mich ihm öffnen; sonst ist kein Nachhall in mir möglich. Und das Kunstwerk muss mich aber auch hier und jetzt dazu einladen.
Kunst hat erinnernde und visionäre Kraft: sie kann Fäden verknüpfen und zusammenspinnen, die noch nie verbunden waren, oder aber es vor sehr langer Zeit einmal waren und durch Gewalt oder sonstige Vergessensprozesse getrennt wurden. Vielleicht bringen uns jene Kunstwerke, die Fäden wieder verbinden, eher ferne Erinnerungsgefühle, die kaum je in Worten auszudrücken sind, weil sie vielleicht sogar außerhalb unseres eigenen Lebens liegen. Indem verbuddelte Fäden in uns selbst wieder aufgenommen werden, können wir befähigt werden, uns alter Weisheiten und (auch kollektiver) Wissensbestände zu erinnern und sie für alle möglichen Zukünftigkeiten zu aktualisieren.
So ein „erinnerndes“ Kunsterlebnis bringt etwas in mir zum Vibrieren; vielleicht an einem Körperinnenort, der noch nie durch Bemerkbarmachung aufgefallen wäre – in der Schulter, in der Hüfte, wo auch immer. Auch in den altbekannten Körperinnenorten finden jetzt andere Prozesse statt. Mein Gehirn zum Beispiel hat sich auch damals bei rein intellektueller Beschäftigung gefreut, aber jetzt sind die Funkenschläge dort freud- und lustvoller, weniger ego-getrieben, viel mehr an Herz-Austausch mit anderen Menschen interessiert. Das Schaudern durch die Beine habe ich immer wahrgenommen und genossen, aber nie einbezogen in meine Gedanken. In den letzten Monaten habe ich herausgefunden, dass es bei mir meist bedeutet, dass etwas – warum auch immer; viele Erklärungen dafür befinden sich immer noch im mystischen Bereich – gerade „richtig“ und „wahr“ für mich ist. Es zeigt an, dass ich mich ganz in einem Jetzt befinde, in dem Dinge, Gefühle, Gedanken (meine eigenen, aber auch die anderer Lebewesen und Seinsformen) des Jetzt-Moments mit anderen Lebenszeiten miteinander in mir verbunden werden und räsonieren dürfen.
An diese erste Beobachtung schließt sich die verallgemeinernde Frage an, was passiert, wenn ein Kunstereignis von der Kunstbesucher*in ganz bewusst nicht mit dem Besuch selbst oder ein paar Gesprächen beendet wird, sondern die aufgekommenen oder begonnenen Gefühle weiter wachsen dürfen und sich in einem Prozess, der eben so lange dauert, wie er dauert – vielleicht lebenslang – den Weg ins Bewusstsein bahnen dürfen. Das ist zeitaufwendig, und die Zeit hat niemand usw. Aber dieser Text geht nicht über gesellschaftliche Privilegienfragen, wer wann wie sich Kunst überhaupt aussetzen kann und dann auch noch die Zeit besitzt, sich weitergehend mit ihr zu beschäftigen. Wen diese Fragen interessieren, der wird in diesem Text nicht fündig werden; da gibt es sicher andere soziologische, sozio-ökonomische oder politologische o.ä. Studien dazu.
Meine Unruhe fließt in die somatisch-philosophische Erkenntnissuche. Mir geht es um die Möglichkeiten an „neuen“ Gefühlen und Gedanken, die Kunstwirken in der Körper*in in Gang setzen könnten, wenn wir ihnen nur intensiver hinterherspüren und sie für unser politisches In-der-Welt-Sein einsetzen würden. Es geht um die Unabgeschlossenheit von Kunstwirken. Intellektuelle Beschäftigung schließt ein Kunstwerk nach verschiedenen diskursiven (oft Drama- und Höhepunkt-orientierten) Behandlungen ab und ein durch Zu- und Einordnung, Vergleich, Kategorisierung, Kritik usw. Der öffentliche Diskurs geht sehr selten in einen Prozess des Darüber-Hinaus, das ist zumindest mein Empfinden.
Die zweite Beobachtung ist Teil der ersten. Hier geht es spezifisch um Kunst, die sich mit dem Klimanotstand und dem Artensterben auseinandersetzt, damit ich – angeregt von ihr – „weiterkomme“ in meinem Denken von Klimanotstand und sich mir neue Herangehensweisen in der Klimaarbeit, im Klimaaktivismus ergeben.
Mir fiel aber mit der Zeit auf, dass wenn sich Kunst mit den Themen Ökologie und Klima auseinandersetzt, es mich oft „künstlerisch“ seltsam ungerührt oder sogar leicht angenervt hinterließ. Oftmals berührte mich lediglich der Fakt, dass sich eine Künstler*in mit dem Thema so intensiv auseinandergesetzt hat, dass das Thema also jetzt und hier mit dem Kunstwerk öffentlich zur Disposition gestellt wird. Aber die Art der Auseinandersetzung riss mich selten vom Hocker. (Eine Ausnahme war beispielsweise die Ausstellung „Baden-Baden Satellite Reef – Coral Islands, Deep“ von Margaret und Christine Wertheim im Museum Frieder Burda in Baden-Baden 2022; Donna Haraway schreibt über dieses Kunstwerk in Unruhig bleiben.)
Insgesamt befinden wir uns – zumindest in der modernen und westlich geprägten Gesellschaft – wohl noch relativ am Anfang von „Klimakunst“ oder „Kunst im Zeitalter des Massenaussterbens“, und deswegen ist es wohl so, dass viele dieser so gelabelten Kunstwerke lediglich Betroffenheit, Schock und Katastrophenalarm auslösen (wollen). Und am Ende der Ausstellung bekommt man vielleicht noch eine Broschüre in die Hand gedrückt, wie man den persönlichen Footprint verringern kann: Flieg weniger und iss mehr vegetarisch, sowas in der Art. Die Langeweile und Müdigkeit stürzt sich über meine Körperin. Das ist keine Kunst – zumindest nicht dieser Part der Ausstellung, das ist purer und hilfloser Fingerzeig von oben. Viele der Lösungen, die wir jetzt für richtig befinden und propagieren, um das Ende der Zivilisation, wie wir sie kennen, abzuwehren, werden sich früher oder später als falsch oder wirkungslos herausstellen. Ich gelange immer mehr zu der Erkenntnis, dass Herangehensweisen über „Klima“ oder „Massenaussterben“ eh keine adäquate Beschäftigung mit der Welt erlauben, schon gar keine künstlerische. Ich komme darauf am Ende noch einmal zurück.
Die Funktion von Kunst darf nicht mit der von Unterricht oder Lehre verwechselt werden. In einer Kunstausstellung möchte ich mich nicht fühlen wie im „Klimafit!“-Kurs, der in den letzten Jahren vorrangig von VHSen angeboten wurde (und die ich selbst geleitet habe; also ich weiß, wovon ich rede), sondern da erwarte ich offenes, wilderes Denken und Inspiration. Ich finde es langweilig, wenn ein Kunstwerk mir entweder Gefühle vermittelt wie „Du bist böse, du bist Schuld! Asche auf dein Haupt und tu endlich was! Du weißt nicht was? Dann lies die Broschüre!“ Oder wenn es kaum Kommunikation auslöst außer „Es ist alles ganz schlimm!“ oder „Ich fühle mich so klein und kann eh nichts ändern“.
Mich deprimiert es, wenn Kunst nicht inspiriert, sondern mein Gehirn und meine Gefühle vielmehr ausschaltet, und meine Energien zu einem traurigen Seufzer zusammenschrumpeln lässt. Tim Morton schreibt, dass ökologische Achtsamkeit sich bei uns immer noch fast ausschließlich als Tragödie präsentiert – und ich schließe hier künstlerische Auseinandersetzungen mit ein. Mein ganz persönlicher Anspruch an ein Kunstwerk ist es aber, dass es meine Gefühls- und Denkwelt rausholt aus den ewig gleichen tödlichen Mustern. Und dass ich mit diesen neuen Blickwinkeln neue Gefühls-Denkpfade begehen und auf diesen mit neuen Fragen und Antworten in kommende (Klima-)Gespräche gehen kann.
Im Frühling 2024 war ich hier in Esslingen in der Ausstellung The Senses of Plants; in der verschiedene Künstler*innen „recherchebasiert angelegt, nicht-anthropozentrische Perspektiven auf die Sinne, Vermögen und Intelligenz von Pflanzen“ zeigten. Ich fand jede Ausstellung für sich sehr spannend, aber ich wurde am Ende das Gefühl nicht los, dass im Mittelpunkt der meisten künstlerischen Arbeiten oft nicht die Pflanzen standen, sondern technische Geräte und Apparate, mit denen u.a. versucht wurde, die Gefühle der Pflanzen zu messen, ihre Reaktionen auf gewisse Einflüsse, ihre Töne und Bewegungen darzustellen usw. usf. Oder nicht wirklich zu messen oder dazustellen, sondern eher die Absurdität von solchen Apparaten aufzuzeigen, mit denen wir uns Zugang, Berührung und/oder Kommunikation mit Pflanzen und ein besseres Verständnis von Pflanzen erhoffen. Aber auch diesem Falle sind Apparate in zentraler Manier involviert. Apparate (auf die Spur der „Apparate“ komme ich wahrscheinlich auch durch das Anlesen von Karen Barads Buch Agentieller Realismus, 2012) – als unsere Armverlängerungen, externalisierten sensorischen Fähigkeiten, unser erweitertes Gehirn usw. – lassen uns Pflanzen singen hören. Apparate lassen uns sehen, wie Pflanzen spielen. Usw. Und wie gesagt, ich bin dankbar für diese wundervolle Ausstellung, aber am Ende fremdelte ich, weil mir durch diese Pflanzenbewusstsein-durch-Apparate-Vermittlung vielleicht einmal mehr vor Augen geführt wurde, wie weit entfernt wir noch immer – selbst in der künstlerischen Auseinandersetzung – von nicht über technische Apparate vermittelter Kommunikation mit Pflanzen sind.
Sind das Erfühlen unserer direkten und/oder unsichtbaren und unfühlbar gemachten Beziehungsweisen mit den Pflanzen ohne technische Apparate überhaupt möglich? In ihrer Videoinstallation „Matrix Vegetal“ (2021/2022) thematisiert die Künstlerin Patricia Domínguez mögliche Wege der Kommunikation zwischen menschlichen und mehr-als-menschlichen Lebewesen in Form von botanischer Science Fiction. Obwohl ich es vom Konzept her genial fand, konnte ich auch hier nichts fühlen und es schlugen keine Funken; vielleicht, weil ich mich nicht genug auf das Video in dem Moment einlassen und ihm folgen konnte. Ich wollte einen anderen Tag zurückkommen, um das Video noch einmal zu sehen und wirken zu lassen, weil ich das Gefühl hatte, dass es eines der wenigen künstlerischen Werke in der Ausstellung war, in welchem die Kommunikation mit Pflanzen – oder die Vermittlung/Darstellung von Kommunikationsfähigkeiten und Intelligenz von Pflanzen – nicht schon konzeptionell über technische Apparate angegangen wurde. Ihre Vermittlung fand über Videokunst statt, mit welcher sie direkte Kommunikation mit Pflanzen erfahrbar machen wollte; das ist für mich nochmal etwas anderes als die vorher genannten Apparate-Beispiele. Aber ich war dann doch nicht noch einmal in der Ausstellung, und so weiß ich nicht, ob sie mich noch gecatcht hätte.
Letzten Endes weiß ich nicht, was mich an der Vermittlung über Technik derartig stört. Und vielleicht ist das auch noch nicht der Endpunkt meines Gedankenprozesses. Donna Haraway sagt, wir können Technik ganz im Sinne des Überlebens und für das Hinausnavigieren aus dem Kapitalozän nutzen. Technik ist ja nicht per sé schlecht. Bei mir blieb jetzt beim Betrachten all der „Kunst-Apparate“ nur hängen, wie sehr auch der künstlerische Zugang oft noch die europatriarchale Trennung zwischen Menschen und Nicht-Menschen widerspiegelt oder imitiert.
Ich halte bis dato so viel fest: (Klima-)Kunst muss mich berühren oder mein Gehirn in einen Zustand von Unklarheit und unabgeschlossener funkenschlagender Grübelei versetzen. Kunst, die das schafft, ist für mich jene, die uns in die planetaren Grenzen bringt; und dabei ist es egal, ob das Kunstwerk in irgendeiner Form die Themen „Klima“ oder „Massenaussterben“ auch nur streift. Sie hat sich verbündet mit der Welt, mit dem mehr-als-Menschlichen, und sie schafft es vielleicht, die Menschen selbst aus dem Fokus zu nehmen. „Echte“ Kunst möchte nie hervorbringen, was schon erkennbar oder imaginierbar ist, schreibt Erin Manning in The Minor Gesture. Sie ist keine Metapher, sondern Metamorphose, aktive Über_setzerin des Täglichen im Täglichen. (S. 84)
So verstandene Kunst kann – so übersetze ich mir das – sich an den Puls der Welt oder unserer Körper*in (die ja auch Welt ist) begeben und tiefere, für uns kaum spür- und greifbare Zusammenhänge erfühl- und erfahrbar machen, die aber ganz und gar nicht so weit weg sind; eben im Täglichen enthalten; nur nicht erspürt und in gewisser Weise nicht „genutzt“, da nicht in Bewegung gesetzt. Sofern so ein „Erspüren“ stattfindet als eine „neue“ Erfahrung (die durchaus eine alte, erinnernde oder zukünftige sein kann), kann etwas „Neues“ entstehen; ein neues „Tägliches im Täglichen“.
Richtige Narrative – so Tyson Yunkaporta – kommen von richtigen Beziehungen untereinander und mit der Welt, die wir bewohnen. Ein echtes Kunsterlebnis kann keine Einbahnstraße und keine Sackgasse sein, denke ich diesen Gedanken bezogen auf Kunsterschaffen und Kunsterleben weiter. Je mehr Kunst in uns arbeiten darf oder unsere Körper*innen in aktives Tun bringt, von dem wir vielleicht erstmal gar nicht viel mitbekommen außer vielleicht Vorahnungen und weirde Träume, desto mehr Austausch und Sprache-Finden ist vonnöten. Jedes Individuum für sich allein wird die richtigen Beziehungsfäden nie zusammensetzen können; vielmehr braucht es den Willen vieler Menschen zu einer Neuausrichtung des kollektiven Gedächtnisses durch Bewegung-Zulassen außerhalb des europatriarchalen Rahmens. Kunst hilft, denn sie kann neue welthaltige und dringend notwendige Beziehungen initiieren, indem sie neue Fäden spinnt, alte hervorholt, verbindet usw. usf., welche uns sodann nahezu ganz natürlich in die planetaren Grenzen führen können.
Im Frühjahr des letzten Jahres hatte ich eines schönen Tages erste Frühlingsblumenzwiebeln aus- und wieder eingetopft. Dafür hatte ich eine alte, noch unberührte ZEIT genommen, die Nr. 17 vom 20. April 2023. Die Zwiebeln lagen auf dem Artikel „Alles so schön keimfrei hier. Warum die Künstler sich nicht mehr trauen, die Bürger zu erschrecken und gesellschaftlichen Konsens aufzustören“, verfasst von Ijoma Mangold.
Ich nahm die Frühlingsblumenzwiebeln von dem Artikel, schüttelte die Erde auf das Wohnstuben-Parkett und begann zu lesen. Am Ende hatte ich ein Triangle of Sadness auf der Stirn: fast nichts von dem, was Ijoma Mangold sich von Kunst erwartet, räsonierte in mir. Zunächst einmal, Grundfehler Nummer eins: warum denkt er Kunst erst ab dem Zeitalter der Moderne? Ab dem Moment, ab dem der Mensch die eh schon seit Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden von ihm europatriarchal entworfene Welt noch zügiger und straffer und kontrollierter und fortschrittlicher und klarer an Verstand an die Rohre der Dampfmaschine anschloss? Die Kunst sah dabei zu und pushte das Vorhaben! Kritische Stimmen innerhalb des rasant Fahrt aufnehmenden Fortschrittnarrativs wurden gern gesehen, denn das machte doch eine pluralistische und demokratische Gesellschaft aus, zu der wir uns mehr und mehr entwickelten! Irgendwann liefen wir nur noch ins Theater, um zu sehen, wie zerstörerisch wir eigentlich drauf sind. Eine – auch künstlerisch gesehen – einzige Hamlet’sche Abwärtsspirale.
Irgendwann blieb aber gar nichts mehr übrig von den positiven Geschichten, und uns schwante, dass uns die eigens von Homosapiens modellierte moderne, entzauberte, größtenteils leblose Materie-Weltkonstruktion mittendrauf auf die „echte“ pulsierende, lebendige Welt in den Abgrund reißen wird. Und da befinden wir uns aktuell: das Wissen dazu sickert langsam durch und schwappt aus dem Unterbwussstein hervor: von außen und innen werden wir darauf gestoßen, wenn wir so mutig sind, unsere Sinne darauf zu lenken. Wenn es dann darum geht zu überlegen, wie wir die Spirale verlassen können, dann zucken wir hilflos mit den Schultern, oder aber wir geraten aus Gewohnheit und weil wir alle anderen Zugänge und Auswegspfade verlernt haben, in den alten europatriarchalen Bewegungswind. Unser Blick verwandelt die Welt von einem Augenblick in den anderen wieder in tote Materie, mit welchem die lebendige Welt wieder verschlingbar und zerstörbar wird. Unsere Zeigefinger richten sich dann auf Räume und Ressourcen, und der Glaube füllt unsere Herzen und unser Tun, dass wir mit einer solchen Eroberung vielleicht die Zerstörung aufhalten können. Unsere Vorstellung von Rettung bisher: Wir bauen weiter in gewohnter Fortschritts-Manier Solaranlagen auf Sklavenschiffe; so drückt es Bayo Akomolafe im Spaceship Earth Podcast vom 14.11.24 aus.
Seit Jahren und Jahrzehnten schauen wir uns dieses Trauerspiel in den deutschen Theatern in Endlosschleife an. Wir werden anscheinend nicht müde, durch das künstliche (und jetzt auch echte!, wie in der Opern-Performance „Sancta“ an der Stuttgarter Oper diese Saison) Blut der deutschen Theaterbühnen gezogen zu werden. Mit welchem denkerischen Gewinn? Welcher Körper*inteil welcher Zuschauer*in wurde noch nicht erschreckt und aufgestört? Sobald auf einer Bühne mal wieder brutaler Sex abgeht und das Blut spritzt und fließt, abgerissene Arme durch die Luft fliegen und die Schauspieler*innen ihre schauspielerischen Fähigkeiten durch Todesschreie beweisen, kommt mir zuerst die Albernheit und dann die Langeweile. Wir wissen doch mittlerweile alle, dass etwas faul ist im Staate Dänemark. Ich muss wirklich nicht mehr sehen, mit welchem Handwerkszeug der Staat aufgebaut wurde und mit welchen blutbeschmierten er ganz sicher auch nicht zerstört wird, auch wenn (fast) alle am Ende tot sind.
Wenn Leute genau das immer noch sehen wollen, was die Gesellschaft auf die tödlichen Gleise gesetzt hat, dann bleiben die altbekannten Diskurse angeheizt, kommt Leben über schockierende Inszenierungen in die Bude. Die Emotionen Erschrecken und Verstören freuen sich; sie sind eh viel gefragt in diesen Zeiten. Ich derweil bin müde. Ich war die meiste Zeit meines Lebens aufgewacht, im Sinne von aufgestört. Ich war gefühlt immer überreizt. Doch irgendwann waren meine Aufstör-Reize ausgereizt. Dann kam die Albernheit. In einem Theaterstück von Sybille Berg in Stuttgart irgendwann zwischen 2016 und 2018 (nichts für ungut, ich mag sie und ihre Arbeit normalerweise sehr, aber…) noch vor Corona bekamen meine Freundin Christina und ich einen Lachkrampf. Nur mit Mühe und viel gegenseitigem gutem Zureden setzten wir uns in die zweite Hälfte des Stückes… und bereuten es dann doch. Irgendwie… hatten wir keinen Bock auf noch einen blutig-abgerissenen Arm mehr und noch eine laut-schrille Video-Installation im Hinter-Vordergrund whatever; wir waren müde von der Schrille und davon, dass uns alles nur sinnlos um den Verstand flog.
Danach mied ich das Theater jahrelang. Es zeigte mir nichts Neues. (Anders als das Kino im Übrigen, das mit immer neuen Bewegungen, Rhythmen, Inhalten und Formen aufwartet.) Nur das ewig Alte, teils mit schrägen Vorstellungen von Feminismus eingebaut. Wie kann sich eine Ophelia emanzipieren? Und kann sie im Hamlet eventuell mal nicht sterben? Vielleicht habe ich die ein oder andere coole Inszenierung verpasst, aber die letzte Hamlet-Inszenierung im Oktober 2024 in Düsseldorf, die hatte trotz großspuriger Ankündigung nichts Neues zu bieten. Vielleicht ist es ja einfach nicht möglich, dass sich eine Ophelia in diesem Theaterstück aus dem europatriarchalen Zwangskorsett befreit. Hamlet zeigt keine neuen Welten auf. Außer Hamlets vielgepriesenes, angeblich „patriarchal-ungewöhnliches“ Zaudern. Aber wenn er sich nach dem Zaudern für dieselbe Gewalt entscheidet, aus der er entkommen wollte, wenn er keine ordentliche Körperarbeit gemacht hat in dieser Zauderzeit, dann kommen wir wieder vom selben zum selben.
Das einzige Königreich, das meine Hoffnungen hält, ist das von Anna und Elsa. Wir dürfen gespannt sein, ob sich die beiden Schwestern in einem dritten Teil der „Eiskönigin“ weiter mit immer neuen mutigen Gefühlen, Sinnen und Versprachlichungen in Richtung neue und unbekannte Welt vorantasten, in der sie beide vollends frei sein können (hier habe ich über Frozen 1 und 2 geschrieben). Oder ob diese wilden Frauen, die dabei sind, das Europatriarchat im Königinnenreich Arendelle abzuschaffen, am Ende doch wieder hübsch einpatriarchalisiert werden. (Bitte nicht!! Am liebsten möchte ich an einem dritten Teil mitschreiben, damit das ja nicht passiert!!! Hollywood oder Disney, please give me a call, I’ve got some really good ideas!!)
Ich erwarte also etwas anderes von Kunst als Ijoma Mangold. Oder Hanno Rauterberg. Dieser will in einer der neueren ZEIT vom 19.9.24 auch die Wut zurück in die und in der Kunst. Besser die vagabundierende Wut der Gesellschaft in Kunst verwandelt, sagt er, als weiter wild vagabundierende Wut in der Gesellschaft. Klingt gut, aber geht das auf, stimmt hier die Wechselbeziehung zwischen Kunst und Gesellschaft, wie er sie unterstellt? Kunst sozusagen als Boxarena? Und nach einem Theaterbesuch gehen alle wutlos, ausgepowert und glücklich nach Hause? Jegliche Gründe für die Wut sind mit der Kondensierung in Kunst und dem purem Zuschauen des Kunstwerks verflogen?
Etwas Wahres ist dran, aber nicht in einer so insinuierten 1:1-Übertragung; eher wäre dann vom Publikum Köper*innenarbeit gefragt, die sie zur Wurzel oder vielmehr zur (Auf-)Lösung der Wut führt. Ich nehme diesen Gedankenfaden im Folgenden immer wieder auf.
Dann sagt Hanno Rauerberg noch, der Kunst sei ihr Grundrecht, der „grundlose Furor“, abhanden gekommen. Ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll mit meinem Unbehagen. Warum sollte denn Furor grundlos sein? Aus was speist sich denn dann der Furor, woher kommt er? Worauf bezieht er sich, wenn er ohne Grund in der Luft hängt? Selbst Dadaismus oder Surrealismus waren nicht grundlos. Wirklich: ich verlange mehr von Kunst, ich traue ihr sehr viel mehr zu als „grundlosen Furor“, ich sehne mich nach so viel mehr! Ich denke vielmehr, „gundloser Furor“ ist das, was ohne Offenheit entsteht. Er ist für mich eine patriarchale Sackgasse für die Gefühle, er führt in die Zerstörung. Grundlos ist Furor eine sehr beschränkte, eindimensionale Emotion. Wie gesagt: ich habe generell nichts gegen begründete Wut und Zerstörung in der Kunst, aber das ist doch nur eine von vielen künstlerischen Ausdrucksformen. Denn für die Heilung beispielsweise, zu welcher Kunst auch beitragen kann, braucht es weitaus mehr Ausdrucksformen, Emotionenzugänge und Wahrnehmungsrezeptoren, mehr Möglichkeiten für minor gestures.
Kunst soll mich nicht (nur) erschrecken innerhalb meiner modernen Verfasstheit. Sie soll mir vielmehr neue Gefühls- und Denkwege aufzeigen, und zwar durch neuartige Berührungen, die neue Emotionen in meiner Körperin lokalisieren helfen und mein Gehirn zum Funkenschlagen bringen. Ich möchte, dass Kunst mich auf neue vibrierende, lebendige Pfade setzt, in welchen Blut in den Adern und Wasser in den Bäumen dieser Welt pulsiert.
Der Text in insgesamt 6 Teilen entfaltet sich dann ähnlich den Blüten der Annihilation-Pflanze.
In Teil 2 gehe ich der Frage nach, welche Freiheiten und Grenzen Künstler*innen von der Gesellschaft bekommen, was ihre Aufgaben sind und was passiert, wenn Kunst politisch vereinnahmt wird oder sich Künstler*innen irgendwo auf unsicherem Gebiet zwischen Kunst und Politik befinden. Für diesen Teil nutze ich die Dokumentationsvorführung des Films Fragmente aus der Provinz im Herbst 2024 in Esslingen, ich spreche kurz über Amanda Gormans Gedicht-Einsatz bei Joe Bidens Inauguration 2021, und ich war in der Lesung „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“ in Esslingen, was mich dazu bewegte, mich imaginär dazuzugesellen und mit den drei Frauen Annett Gröschner, Peggy Mädler und Wenke Seemann ein ordentliches ostdeutsches Trinkgelage zu veranstalten. Mit der Künstlerin Rose B. Simpson und dem Singer und Songwriter Trevor Hall gehe ich der Frage nach, wie „icky-Shit-Kunst“ vermieden werden kann. Zudem rolle ich anhand der japanischen Geschichte vom Jungen, der Katzen malte, die Frage auf, ob von Menschen gemachte Kunst ausschließlich für Menschen gemacht wird, und ob hier Reziprozität nicht tiefer und weitergedacht werden muss.
In Teil 3 werden vor allem die letzten zwei Fragen aus Teil 2 weiter bewegt. Ich folge Kunst und ihrem Fadenspinnen und lande dabei bei Marina Abramovícs künstlerischen Transformationen. Zudem verliere ich mich in vedischer Dichtkunst, da sie Aufschlüsse gibt über die Gründe für die hohe soziale Stellung, die Dichter*innen in dieser Gesellschaft hatten. Der Verstand stand hier im Dienste des Herzen. Interessant, oder? Wenn wir bedenken, wie das Verhältnis bei uns ist? Im Podcast Freiheit Deluxe erkenne ich in einem Interview von Jagoda Marinić mit Antje Rávic Strubel differenzfeministische Praktiken, die ein Beispiel für ein In-Bewegung-Setzen, ein gelebtes Mehr ergeben. Die am Ende aufkommende Frage, ob Kunst eine Möglichkeit ist, in der sich die Welt uns Menschen zeigen kann, gehe ich im 4. Teil weiter nach.
Im 4. Teil frage ich mich, welche Fähigkeiten es braucht, damit sich die Welt der Künstler*in zeigt und die Künstler*in den übrigen Menschen in ihrer Kunst vermitteln kann, was die Welt uns Menschen und anderen Seinsformen zu sagen hat. Und da ich das so wichtig finde, dass Menschen wissen wollen, was die Welt ihnen zu sagen hat, fordere ich alle Leute dazu auf, selbst (wieder, weiter) Kunst entstehen zu lassen.
In Teil 5 tauche ich tief in die Musik von Amy Winehouse, Britney Spears und Christina Aguilera ein und stelle die Frage nach der Welthaltigkeit ihrer Musik. Falls ihr glaubt, ihr wüsstet die Antwort bereits, dann lasst euch überraschen! Außerdem kommt in Teil 5 mein persönliches Lieblingsstück dieser Serie: Ich beschaue mir in dem kinematografischen Meisterwerk Poor Things, wie die Hauptfigur Bella jedem Vibrieren, jedem Schwingen von minor gestures nachgeht, die durch ein entscheidendes, tiefgreifendes Ereignis ausgelöst werden. Hier kommen – wie auch schon bei der Betrachtung des Wirkens der Musik von Amy Winehouse (auf mich) – mystische Fragen über das „Leben nach dem Leben“ auf. Das ist eine der Fähigkeiten von minor gestures, wenn wir uns beginnen zu trauen, ihnen zu folgen.
Mit diesem deep dive in ein Musterbeispiel des Wirkens der minimalen Bewegungen und der hermeneutischen Sekunde nähern wir uns dem Ende und dem Fazit in Teil 6. Hier werden alle philosophischen Fadenverbindungen noch einmal aufgenommen und Sensoren und Orte für eine Denk- und Fühlpraxis entwickelt, die es uns ermöglicht, im Kunsterschaffen und Kunsterleben den planetaren Grenzen wieder näher zu kommen.
Liebe Anne, schön, das hat Spass gemacht zu lesen und zündet Gedanken und Impulse.
Ein Gedanke zum Furor und zum verspritzten Blut in der Kunst: ist es nicht Ausdruck genau dieses Bedürfnisses nach verkörperter Berührung, warum die so lange Konjunktur hatten in der Kunst? Es ist ja auch wahrscheinlich einfacher, durch Horror, Leid, Schmerz etc spürbar unser Nervensystem in Reaktion zu bringen als durch kleinere Irritationen, wie ein “da stimmt doch was nicht” Gefühl oder sogar ein positives Mitschwingen. Weil letzteres ja der Normalzustand sein sollte, für den wir Menschen gemacht sind, die Resonanz mit der Gemeinschaft um uns rum. Die Körperin schickt dann nicht aktiv Alarmsignale, sondern lässt sich erst mit bewusster Aufmerksamkeit erspüren…
So, und zu Deinem Unbehagen mit dem Erschrecken der Leute durch die Kunst, fällt mir noch ein, dass es ja nun auch ganz unmöglich ist, im erschrecken Zustand Neues zu zu lassen, zu denken oder zu fühlen. Wenn es also DARUM geht ist das Erschrecken das genau ganz falsche Mittel.
Die Verbindung von Kunst mit dem Konzept der hermeneutische Sekunde spricht mich sehr an. Zum Einen fühle ich das auch, dass Kunst die hermeneutische Sekunde im Erleben/Wahrnehmen von Werken quasi einlädt. Zum anderen finde ich, dass auch das Sprechen über Kunst die Tür aufmacht, Dinge zu teilen die nicht hauptsächlich auf kognitives Wissen basieren. Beim Thema Kunst ist es viel mehr als bei anderen Themen sozusagen “gesellschaftsfähig” und geradezu gefordert, nicht direkt Erklärungen zu haben, Dinge einzuordnen, sie in Kategorien von Bekanntem zu stecken (also all das was unser Hirn ja tagein tagaus tut)
Die Verbindung zu den planetaren Grenzen greife ich noch nicht ganz- ich vermute einen Zusammenhang dazu, dass Kunst es ermöglichen kann, bisher Ungedachtes/Ungefühltes zu denken oder zu fühlen…bin also gespannt, was in den nächsten Teilen dazu noch kommt und ich freu mich drauf!