Forum für Philosophie und Politik
Von Annette Meinecke
Der Text von Dorothee Markert „Mein Antisemitismus“ in der Rubrik „erzählen“ lässt mich nicht unberührt. Die Geschichte erinnert mich an ein Erlebnis, das auch heute noch ein Schamgefühl in mir auslöst und wofür ich den Preis der „schmerzlichen Selbsterkenntnis“ zahlte.
Draußen begann es zu dämmern, ein kalter Wind kündigte den nahen Winter an. In meinem Salon sorgte der Kaminofen für gemütliche Wärme, aus meiner großen Steinguttasse ließ heißer Tee Zimtgeruch aufsteigen. Über die Lautsprecher der Boxen lief Karls Jenkins, Palladio. Musik, die ich erst vor wenigen Tagen entdeckt hatte und seitdem in Dauerschleife hörte.
Gerade als ich mich in meine Sofadecke einwickeln wollte und ein Buch zur Hand nahm, klingelte es. Ungewöhnlich.
Ich erwartete niemanden. Meine Freudinnen hatten es sich schon längst abgewöhnt, spontan auf einen Kaffee vorbeizukommen. Auch ich konnte mich kaum noch erinnern, wann ich zum letzten Mal unangekündigt zu Besuch gekommen war. Neugierig ging ich zur Tür und öffnete.
Vor mir stand ein kleiner, älterer Herr. Brauner Wintermantel, graue Tuch Hose, graue Schiebermütze. Hinter einer goldumrandeten Brille strahlten zwei hellblaue, schräg stehende Augen, und in seinem rundlichen Gesicht zeigten sich die Züge eines Menschen mit Down Syndrom.
Ich lächelte freundlich zurück in der Annahme, dass er Spenden für den Träger der nahgelegenen Wohneinrichtung für Menschen mit Behinderung sammeln würde. Ich griff zu meinem Mantel an der Garderobe, in dessen Seitentasche noch das Portemonnaie steckte „Muss auf`s Klo“ stieß es aus dem älteren Herrn hervor. Mein Lächeln gefror, fiel in sich zusammen, mein Rücken wurde steif. Bilder stiegen auf, die ich nicht zu deuten wusste. Ich stand, wie neben mir. „Das ist jetzt schlecht“ stammelte ich.
Der ältere Herr lächelte, winkte, drehte sich um und ging. Beschämt blieb ich im Türrahmen stehen, konnte nicht glauben, wie ich reagiert hatte. Was hatte mich gehindert, diesem Mann die Toilette anzubieten? Ich selbst kannte es nur zu gut, wie es sich anfühlte, eine öffentliche Toilette zu suchen und keine zu finden. Der ältere Herr war schon längst aus meinem Blick verschwunden, als ich die Haustür schloss und mich auf das Sofa im Salon fallen ließ.
In Gedanken versunken saß ich da, als mein Sohn den Kopf zur Tür herein steckte. Ich hatte nicht bemerkt, dass er hereingekommen war. Er war in Eile, wollte nur kurz was abholen. „Na, alles klar?“, fragte er mit leicht besorgtem Blick, als er mich so auf dem Sofa sitzen sah.
„Mir ist gerade etwas Seltsames passiert.“ Ich berichtete von dem älteren Herren und von meiner Reaktion auf seine Bitte.
„Na, da hast du echt nicht gut performt, Mama“, kommentierte er meine Darstellung. Schweigen. „Weißt du, was das Schlimmste war“, ordnete ich meine Gedanken, „das Schlimmste war, dass er lächelte, als ich ihm seine Bitte abschlug. Hätte er geschimpft, mich beleidigt oder mir sein Unverständnis um die Ohren gehauen, wäre es jetzt für mich leichter.
„Wie nachhaltig doch Freundlichkeit ist“, sagte mein Sohn beim Rausgehen.
Vielen herzlichen Dank für diese Erinnerung, auch ich kenne diese schmerzenden Erkenntnisse
Wir lernen.
Herzlich
Adelheid