beziehungsweise – weiterdenken

Forum für Philosophie und Politik

Rubrik denken, dichten, erinnern, erzählen, hervorbringen

LIEBE NEU GEDACHT – DIE ALTE MINNE DER MYSTIKERIN HADEWIJCH, Teil IV

Von Heike Schmitz

Minnt die Minne! – In der hohen Schule der Minne die Sturmwut (orewoet) erlernen

Nehmen wir es wieder und wieder in den Mund: das Wort Minne. Nach all den zu erleidenden Durchgängen. Neu und alt zugleich. Der sanfte Klang des Wortes verhüllt heftige Stürme. 

Und so möchte ich schließlich noch auf ein Wort zu sprechen kommen, das am Anfang meiner Beschäftigung mit Hadewijch stand. “In der hohen Schule der Minne lehrt man die Sturmwut (der Minne), denn sie bringt diejenigen ins Irren, die gut verstanden haben“, so schreibt sie in einem ihrer Lieder. Es war diese “Sturmwut” – “orewoet” heißt sie in Hadewijchs Texten – die mir bei der ersten Lektüre sofort ins Auge gefallen war, denn ich hatte mich zuvor mit Freuds und Breuers “Studien über Hysterie” beschäftigt. Deren Patientin Emmy von N. hatte ihre Anfälle als “Sturm im Kopf” beschrieben. Was mich damals umtrieb, war nichts als eine Intuition, eine Frage: War eine andere Sprache zu finden, vor jener der Psychologie, Psychoanalyse, die den so genannten “Hysterikerinnen” und ihren jüngeren Schwestern, den “Anorektikerinnen”, zu ihrer Sprache verhelfen und somit eine Schicht freilegte, eine Art seelische Wahrheit, jenseits der Pathologie? “Orewoet” gibt es nicht im Altflämischen, erfunden hat es wohl Hadewijch oder Beatrijs von Nazareth, in deren “Sieben Arten der Minne” es ebenfalls vorkommt. Wie die Mystikerinnen waren die Hysterikerinnen Sprachschöpferinnen, fanden und erfanden neue Worte für ihr Empfinden. So hat Anna O. Freud das Stichwort geliefert für seine noch zu entwickelnde Methode, die auf Gespräch beruhende Psychoanalyse: Sie war es, die es “talking cure” nannte. Und wie die Mystikerinnen so fielen die Hysterikerinnen in extreme Anspannungszustände, die den ganzen Leib erfassten. In Hadewijchs “Liste der Vollkommenen” findet sich eine ausführliche Beschreibung, was die “orewoet” mit einer macht – eine ‘Jungfrau namens Gerenina’ hat es erfahren – wie Hadewijch selbst. 

“Sie stand in jedem Augenblick innerhalb von neun Jahren unter einem so großen Andrang der Minne, daß sie sich auf keine Art Ruhe gönnen und die Minne auch nicht vergessen konnte. Die bereitete ihr oft solche Schmerzen, als ob bei ihr Geburtswehen begönnen und ihr alle ihre Gliedmaßen zu bersten schienen. Und sie wurde (im Innern) so weit, daß sie wähnte, alle Höllenbewohner zu verschlingen, um ihnen durch die Neuheit ihrer Minne ein Ende (ihres Daseins als Höllenbewohner) zu bereiten und einen jeden Erdenbewohner, wie es ihm geziemt, zu ernähren und zu behüten. Sie verschlang auch alle Himmelsbewohner und verklärte sie in einer neuen Herrlichkeit und umgab sie mit ihren Thronen. Und sie war oft so stark, daß sich ihr nichts in den Weg zu stellen vermochte, und oft so dreist, daß sie allen Liebhabern (minnaren), lebenden und toten, geradewegs ihr Recht verschaffte. Ihre Hände waren immerzu so verkrampft, daß sie wähnte, daß niemand auf Erden das lebend hätte aushalten können, wenn sie nicht die lebensspendende Minne, die unsterblich ist, erhalten hätte.” Danach kommt Gerenina zur Ruhe und erreichte einen Zustand “selbstverlorener Minne” in der die Minne in ihr bis zur Vollkommenheit heranwuchs.

Wohl nie zuvor war Gott-Minne mit einem so weiblichen Leib geminnt und vorgestellt worden wie in der Sprache der Beginen. “Orewoet“, das ist ein Sturm, der den ganzen Leib erfasst, ein Wehen, Geburtswehen, die alle Glieder durchfahren. In dieser Körper-Sprache, die sie somit in die Geistesgeschichte einschrieben – auch wenn sie daraus wieder verschwand – wird das Gebären spirituell und das Spirituelle gebärend. Es ist ein erfahrender, kein vorgestellter Leib, in dem Gewalten wirken, durch die sie minnend, denkend, schreibend reift. Fast scheint es, als ob Augustine, die berühmte Hysterikerin, Patientin des Pariser Arztes Charcot, dessen Vorlesungen auch Freud besucht hatte, ganz ähnliches erfährt. Künstler, Dichter, Ärzte kamen zu Charcot, um sich diese Frauen mit ihren Anfällen von ihm vorstellen zu lassen. Georges Didi-Hubermann beschreibt in seinem Buch “Die Erfindung der Hysterie” Augustines Zustand – hier nur ein Auszug:

“Die Empfindung eines bitteren Brennens in allen Gliedern, die Muskeln bis zum äußersten gespannt, das Gefühl, aus Glas und zerbrechlich zu sein, eine Angst, ein Zurückschrecken vor der Bewegung, eine unbewusste Verwirrung im Gang, in den Gesten und Bewegungen. (…) Das Gefühl von etwas Unbestimmtem: Augustine sagte, es komme ihr so vor, wie wenn ein Luftzug von ihren Füßen bis zu ihrem Bauch aufsteige, dann von ihrem Bauch bis zu ihrem Hals.” Es ist von Schmerzen und starken Verkrampfungen die Rede, von stechendem Schmerz in den Eierstöcken, von Todesmüdigkeit und einem zusammengeschnürten Hals.

Sehr einfach gesagt, weil der Vergleich hier sonst zu weit führen würde: Während erstere ‘zu sich’ zu kommen scheint, wirkt letztere unter den Blicken des Publikums als ‘nicht bei sich’. Die eine kommt zur ‘Wahrheit der Minne’, die andere verliert sich als “Kranke” in lügenhaften theatralischen Gesten, die die Ärzte mithilfe von Tabellen, Fotos und Diagrammen in eine Ordnung zu bringen versuchen. In ihrem in den 1980er Jahren erschienen Durchgang durch die Geschichte der Hysterie hat Christina von Braun von dem “Kampf der Hysterie (und der Magersucht, H.S.) um die Synthesis von Kopf und Körper” gesprochen und davon, dass die hysterischen wie anorektischen Patientinnen diesen Kampf verlören. Die Gründe dafür entwickelt sie in einem Durchgang durch die Geistesgeschichte, in der es das Anliegen des Logos gewesen sei, sich zu materialisieren, und dieser habe aus dem Körper der Frau einen Kunst-Körper geschaffen, gegen den sich – ohne es zu wissen – diese Frauen mit ihren psychopathologisch beschriebenen Symptomen zur Wehr setzten. 

Emmy von N.s “Sturm” ist einer, der ihr zu Kopfe gestiegen ist. Die hysterischen Körper gebärden sich in beinahe parodistischer Weise in Kopf und Körper gespalten, den sie unter den Augen des Arztes in Szene setzen. Was tun sie da? Es ruft mit allen Gliedern: Sieh her, ich habe das Band verloren, das ich meinte! – so wäre es mit Hadewijch zu lesen. Die verlorene “Synthesis von Kopf und Körper” lässt sie toben ohne zu wissen warum – eben als hätten sie das Wort für ihre Gründe nicht: hieße es nicht Minne? Wie eingesperrt in ihr “Kranksein”, wissen sie nicht, wie sie wachsen, reifen, leben können – wie jenes erwachsene Herz erlangen, von dem Hadewijch schreibt. Nach ihren Anfällen bricht Augustine todmüde zusammen. Die beobachtenden Ärzte erfinden dafür die Sprache der Psychopathologie und machen sich ihr Bild davon, auch mit neuen Techniken, denn in der Pariser Klinik gab es zu Augustines Zeit das größte und modernste Fotolabor der Stadt. Die Patientinnen wurden abgelichtet.

‘Zur Welt kommen – zur Sprache kommen’ – noch einmal sei Bachmann zitiert. Es wäre bei Hadewijch zu finden, wie es leibt und lebt im Schreiben, wie der Geist der Minne einen sublimierten Körper zur Sprache bringen kann. Sie dichtet, denkt, minnt und meint aus einem leiblichen Erfahren heraus, schreibt vom Wachsen, das einem Gebären gleicht, denkt geistiges Reifen wie eine Schwangerschaft:  

Furcht ist der erste Monat, gerne zu leiden um der Vollkommenheit willen der zweite; der dritte Monat erhöht die Zahl, so dass man alles tragen kann und weiß, dass man Minne trägt; der vierte Monat ist die süße Natur, darin die so würdige Kreatur, wie die Minne es ist, wachsen soll; der fünfte Monat begeht die süße Bürde, die man empfangen hat; der sechste Monat ist Vertrauen, aus dem man allen Reichtum empfängt; der siebte Monat ist Gerechtigkeit, die alle Arbeit zunichte macht; der achte Monat ist die Weisheit aus Minne, und ihr Wesen auf allen Wegen kennen; der neunte Monat ist, als ob Weisheit alles verschlingt, was sie in Minne minnt. Dann kommt der Minnen gewaltige Zeit, und stürmt die ganze Zeit auf die Weisheit, dass man mit allem, was man ist, der Minne genügt und sich ihr fügt, so wird zum neunten Monat das Kind geboren, das die Demut empfangen hat.

So wären wir zum Schluss bei der Demut angekommen, die der Anfang von allem ist, auch bei Gerenina. 

So tief soll man in Demut sinken, 

über alles Denken der Menschen hinaus

die in die Welt geboren sind,

soll die Größe der Minne da hinein kommen.

Diese mutige Demut, diese ‘Niedrigkeit’ – “nederheit” – braucht es zum Prozess des Wachsens bis zur Niederkunft. Ohne sie wird niemand der Minne würdig, ihrer Kraft, das Leben immer wieder zu erneuern. Zum Auftakt ihrer Lieder besingt Hadewijch oft die Natur, wie sie alljährlich im Frühling neu aufblüht, während der Mensch sich um sein Lebendigsein bemühen müsse, um das der lebendigen Minne gemäße Zusammenspiel von Minne und ‘Redene‘. Sie fordert auf, im Denken den Grundlagen unseres Lebens gerecht zu werden. Und dieses sei noch hinzugefügt: es sind Frauen wie Männer, die ihr Leben nach der Minne ausgerichtet haben. Beide finden sich in Hadewijchs “Liste der Vollkommenen”. Neben Beginen, einer mächtigen Witwe, Jungfrauen, Nonnen und Klausnerinnen werden dort ebenso Männer aufgelistet: Heilige, ein Mönch, ein Mann namens Konstanz, ein Honorius, “zwei Dietrich, drei Klaus, drei Heinrich, drei Walter….” sowie “ein sehr mächtiger Witwer“, ebenso “ein verstoßener und dabei erleuchteter Priester” und in Paris lebend “ein vergessener Meister einsam in einer Zelle (…..). Er weiß mehr Gutes von mir als ich selbst von mir weiß“, fügt Hadewijch hinzu. Auch Männer haben ihr Leben nach der Minne ausgerichtet, sind “wie die Minne gekleidet”. Und aus der Liste geht hervor, dass Hadewijch Kontakt zu vielen hatte, nach Thüringen, England, Seeland, Dänemark, Flandern, Brabant, Holland, Friesland, Sachsen, Köln und auf die andere Seite des Rheins.

Minnt die Minne!” ruft Hadewijch aus. Ihr Geist ging nicht auf in dem, was wir “Fortschritt” nennen. Der Geist, der das Wort “Minne” vernichtete, macht aus Menschen Kunst-Körper, Maschinen, bindet die Leiber immer inniger an die Technologien, die sie beobachten und überwachen, und versetzt das Gebären aus dem Körper der Frau, aus dem leiblichen Resonanzraum des Denkens und Empfindens. Der Sehsinn, in seiner beobachtenden, kontrollierenden Gestalt und mit seiner ihm eigenen Distanz, hat den Sieg errungen über das Schmecken in Berührung. Er dominiert unsere Beziehungen. Ließe sich mit Minne das Band erneuern?

Wie Hadewijch von der Minne schreibt, erinnert sie daran, geboren, höllisch lebendig, immerzu verletzlich, begehrend, brauchend zu sein, darin der Lebensfreude fähig. Von der Minne schreibend, die ihr all das antut, erweist sie sich noch einmal als eine Schwester im Geiste mit der 800 Jahre später schreibenden Elke Erb, die von der Poesie sagt, sie sehe in ihr

“(….) eine leibliche Schwester (…), etwas, das mir begegnet, eine Leiblichkeit, die mir begegnen könnte. Also fast eine Dame, fast eine leibliche Sache, so dicht. Ich käme doch nie darauf, etwas wie eine solche leibliche Schönheit, oder was es auch immer ist, als Objekt einer Erkenntnis zu fassen.” 

Brauchen wir es vielleicht, um auf diesem bedrohten Planeten unser Abhängigsein vom abgründigen Grund allen Lebens zur Sprache zu bringen, es in den Mund zu nehmen und zu empfinden und neu zu bedenken, wonach es schmeckt: das Wort MINNE?

“Sturmwut der Minne (orewoet van minnen)

das ist ein reiches Lehen. 

Wer das kennen lernen möchte,

sollte nichts von ihr einfordern.

Diejenigen, die zuerst zwei waren,

lässt sie eins werden

das bezeuge ich der Wahrheit entsprechend.

Sie macht, dass das Süße sauer

und der Fremde zum Nachbarn wird, 

und sie erhöht den Niedrigen.

Sie macht den Starken krank

und den Kranken gesund.

Sie macht denjenigen, der gerade läuft, krumm.

Sie heilt denjenigen, der verwundet war.

Sie zeigt den Unwissenden

die weiten Wege,

auf denen viele umherirren müssen.

Sie lässt sie verstehen,

was man lernen soll

in der hohen Schule der Minne.

In der Schule der hohen Minne

erlernt man Sturmwut (orewoet).

Denn sie lässt diejenigen umherirren,

die gut verstanden haben.

Wem zuerst Unglück widerfuhr

den lässt sie Glück erfahren.

Sie lässt ihn Herr über alles werden,

worüber Minne selbst Herrin (“vrouwe”) ist.

Ich bin mir dessen sehr sicher

und ändere dazu meine Meinung nicht mehr.

LITERATURHINWEISE:

Die Texte Hadewijchs:

Hadewijch: Lieder – Originaltext, Kommentar, Übersetzung und Melodien, hg. von Veerle Fraeters, Frank Willaert und Louis Peter Grijp, De Gruyter: Berlin/Boston 2016.

Hadewijch: Das Buch der Visionen – Text, hg. von Gerald Hofmann, frommann-holzboog: Stuttgart-Bad Cannstatt 1998.

Hadewijch: Buch der Briefe, hg. von Gerald Hofmann, EOS Verlag: St. Ottilien 2010.

Hadewijchs Lieder online:

https://www.uantwerpen.be/en/research-groups/ruusbroec-institute/library/digital-publications/hadewijch-songs

Weiterführende Lektüren:

Didi-Hubermann, Georges: Erfindung der Hysterie – Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot, Wilhelm Fink Verlag, München 1997.

von Braun, Christina: Nicht ich: Logik Lüge Libido, Neue Kritik: Frankfurt am Main 1988.

Gillen, Eckhart: Hysterie, Psychoanalyse und der psychische Automatismus der Surrealisten – Jean Martin Charcot, Siegmund Freud und André Breton, in: Lilian Haberer, Karina Nimmerfall (Hg.): Movement, Handlungsfelder des Ästhetischen und Politischen in der Kunst, Festschrift für Ursula Frohne, edition metzel: München 2020.

Elke Erb: Kastanienallee, Residenz-Verlag: Salzburg und Wien 1988.

Brigitte Oleschinski: Reizstrom im Aspik – Wie Gedichte denken, DuMont: Köln 2002.

Autorin: Heike Schmitz
Redakteurin: Jutta Pivečka
Eingestellt am: 20.02.2025
Tags: , , ,

Kommentare zu diesem Beitrag

  • Anne Newball Duke sagt:

    Liebe Heike,
    “Brauchen wir es vielleicht, um auf diesem bedrohten Planeten unser Abhängigsein vom abgründigen Grund allen Lebens zur Sprache zu bringen, es in den Mund zu nehmen und zu empfinden und neu zu bedenken, wonach es schmeckt: das Wort MINNE?”
    Ich suche auch nach etwas ebenso Unfassbarem, was ich momentan erstmal “Welthaltigkeit” nenne, das über Gefühle und Intentionen und andere Einflüsse und Erfahrungen (eben auch mystische; oder viele – meist über derartige Erlebnisse zunächst geschockte – Wissenschaftler*innen sprechen lieber von “awakening”) als rational-materielle Eingang in die Körper*in findet und uns stärker an die Welt bindet und dann auch die (teils ja oft ungewollte) Ausrichtung von der Zerstörung nimmt, einfach weil das Hasten und Eilen in weltlose Richtungen unmöglich werden würde.
    Ich wollte dich fragen, wenn das nicht zu persönlich ist, aber ich kann es nur durch deine Liebe zu Hadewijch indirekt erkennen und würde gern mehr von dir direkt ;) wissen: Was ist Minne für dich, was gibt sie dir, hast du sie entdeckt? Hast du das entdeckt, was das Wort einmal enthalten hat für jene, die leiblich-mystische Erfahrungen mit diesem Wort in Einklang bringen konnten?

  • Anne Newball Duke sagt:

    Achso, ich bin gleich voll eingestiegen und habe das Kompliment und das Dankesagen vergessen:) Ich liebe deine Ausführungen, dein tiefes Versunkensein in dieser Form der Wahrheitsfindung, oder wie könnte man das nennen. Es klirrt und knistert, oder?, und es enthält so viel davon, was wir jetzt bräuchten, oder? Es wirkt aus der Zeit gefallen, aber eigentlich ist es das, was sich einzig weltrettend (oder besser menschenrettend, weil die Menschen haben diesen Weltzugang verloren oder zumindest massiv eingeschränkt und verlieren dadurch die Welt) anfühlt, oder? Das ist auch dein Gefühl, habe ich das Gefühl, und es ist auch meins. Ich wüsste gern mehr von dir darüber.
    Vielen vielen Dank für die tollen Texte, made my days!

  • Heike Schmitz sagt:

    Liebe Anne,
    es freut mich zu hören, dass die Minne zu dir übergesprungen ist! Sie ist’s ja auch wert, über sie nachzudenken. Ja, selbst wenn, wie du sagst, es “so aus der Zeit gefallen” wirkt – aber vielleicht ist es das gar nicht, ist es ein Wort, mit dem sich Gedankenspiele entzünden lassen gegenüber jenen, die angeblich gar nicht aus der Zeit gefallen sind, die nämlich unsere Zukunft zu bestimmen gedenken bzw es schon längst tun. In den frühen Phantastereien des Silicon Valley heißt es: “Computer unterdrücken unsere animalische Präsenz. Wenn du mit Hilfe eines Computers kommunizierst, kommunizierst du wie ein Engel.” (Stewart Brand) In diesem Sinne scheint mir “Minne” – so wie ich sie zu verstehen versucht habe – als ein sehr aktuelles Wort, das fehlt, um sich gegen diese Unterdrückung der “animalischen Präsenz” auszusprechen. Die Beginenmystik ist und bleibt vielleicht eine andere als die Mystik der Tech-Giganten. Die “neue Avantgarde” des Silicon Valley hat sich in ihren frühen “Hippie-Phasen” der Mystik und ihrer Metaphern bedient, hat sie mit Termini der Informationstheorie und Kybernetik verbunden. Also warum dann nicht auch ganz “avantgardistisch” einen anderen Mystikbegriff – mit der Minne der Beginen – entwickeln, mit dem die Leiblichkeit und Abhängigkeit unseres Daseins dem entgegen gehalten werden könnte? Mut haben zu den Intuitionen, die als Suchende im Suchen so auftauchen – ohne eine in Minne durch und durch Erfahrene zu sein wie Hadewijch. Dank dir, liebe Anne, für deine Leseeindrücke!

  • Jutta Pivecka sagt:

    Liebe Anne, ich weiß nicht, ob du Heikes Vortrag zu Minne und künstlicher Intelligenz: “Die zwei Augen der Liebeskraft. Minnen und Denken”, den wir von bzw vor einigen Jahren auf YouTube eingestellt hatten, gehört hast, daher hier noch einmal der Link: https://bzw-weiterdenken.de/2019/12/minne-und-kuenstliche-intelligenz/ . Vielleicht erweitert dies noch mal die Perspektive, wenn es auch nicht alle deine Fragen beantwortet. :-)

  • Liebe Anne, vielleicht hast du aus meinen letzten Zeilen herausgelesen, dass ich der – wenn ich dich recht verstehe – Frage nach persönlichen Erfahrungen eher ausweiche. Tut mir leid, wenn ich so deine Fragen nicht wirklich beantwortet habe, wie Jutta auch bemerkt hat. Auf dieser Ebene, die du andeutest, kann ich es nicht zur Sprache bringen und nicht für mich in Anspruch nehmen. Aber du bist vielleicht auf diesem Weg.

  • Fidi Bogdahn sagt:

    Ich warte hier immer sehnlichst auf die Kommentare… Danke euch allllllen!
    Diese Seite heißt „bzw“; und wenn ich das ausbuchstabiere, bedeutet es mir:
    In all meinen Beziehungen im Leben weise und das heißt für mich, nicht eng
    sondern weiter zu werden -auch im Denken, also letztlich im Sein.
    Auf diesem Weg befinde ich mich… und früher verschicken wir von unterwegs Ansichtskarten; da hätte ich dann darauf geschrieben
    “Mit Worten vermag ich es nicht genau er zu erfassen, was ich bei meiner Wanderung mit Freuden empfinde: es ist die Verbindung des Denkens „der Italienerinnen“ und der „Minne“.
    Ja, das und nichts weniger ist für mich heute Politik!

  • Anne Newball Duke sagt:

    Liebe Heike,
    huch, ist schon ein Monat vergangen? Jedenfalls, wenn auch ziemlich spät: vielen Dank für deine Antwort; gerade die zweite ist ja auch leicht mystisch, hehe ;). Naja, ich bin auf dem Weg, aber ich stolpere und stochere doch noch sehr herum. Es ist schwer loszulassen. Es ist gefühlt ein weiter Weg, obwohl es doch alles da und in uns angelegt ist.
    Ja, das In-Sprache-bringen ist das schwierigste an diesen Erfahrungen. Das kann wohl nur die Dichtkunst; oder überhaupt Kunst vermitteln. Oder eben die Mystikerinnen ;)
    Ich war am Wochenende in einer sehr schönen Ausstellung hier in Esslingen von Serena Ferrario. In einer Ecke eines ihrer großen Bilder stehen verschiedene Gedanken… einer ist: “Wahrlich keiner ist weise, der nicht das Dunkel kennt”, Klingt wie ein Hadewijch-Satz, oder? Und gleich darauf kommt auch ein Zitat von ihr: “Wenn die Seele allein steht – in der uferlosen Ewigkeit, weit geworden, gerettet durch die Einheit, die sie aufnimmt, dann wird ihr etwas Einfaches enthüllt, das Unaussprechliche, das reine und nackte Nichts…”
    Ich glaube, es sind heutzutage mehr auf den Spuren der Mystikerinnen und dieser Form von Erleben. Das ist doch interessant. Ich bin dran, im Zusammentragen und Verbinden, ich achte auf all die Spuren, die sich mir ergeben.
    Den Vortrag höre ich mir zu gegebener Zeit einmal an, vielen Dank für die Erinnerung, liebe Jutta!
    Und Fidi, das denke ich auch, dass dieses Beschäftigen mit der Welt wichtige Politikpfade eröffnet und es eben keine Flucht vor der Realität ist, wie es oft heißt. Die Frage ist, was man mit diesen Erfahrungen macht, ob sie ernstgenommen werden und daraus dann Politik erwachsen kann.

  • Heike Schmitz sagt:

    Liebe Anne, es gäbe so viel zu sagen oder gemeinsam zu besprechen zu dem, was du schreibst, aber dazu reicht die Kommentarspalte wohl nicht aus – zumal es sich ja auch um nicht so leicht in Sprache zu Fassendes handelt. Kennst du die “Winterschwimmerin” von Marion Poschmann, soeben erschienen? Dieses Buch wäre wohl als ein aktuelles Beispiel zu lesen, wie innere Erkenntniswege – wie eine Suche nach dem “Seelengrund” – auch in der gegenwärtigen Literatur dichterisch zur Sprache kommen können. Der Satz, den du in der Ferrario-Ausstellung gefunden hast, von dem Zusammenhang von Weisheit und dem erfahrenen Dunkel, hat für mich einen etwas anderen Klang als Hadewijch-Sätze. Aber das mag an meiner Lesart liegen, die in dem Wort “Weisheit” auch etwas vermisst, was bei Hadewijch stark mitschwingt, nämlich das spannungsvolle Aushalten von Paradoxien, Sätze wie ‘ihr (der Minne) tiefster Abgrund ist ihre schönste Form’. Ich frage mich gerade, ob das Wort “Weisheit” bei ihr vorkommt – muss dem nochmal nachgehen…. Und was das auch von Fidi angesprochene “Politische” angeht – auch dieser Denkweg bräuchte ein paar Stunden Gesprächsrunde am Küchentisch – aber etwas spontan hingeschrieben: Wie “politisch” ist es doch, wenn bestimmte (Selbst-)Erkenntnisprozesse eine ganz leise und beinahe unbemerkt z.B. von den “Tempeln” des Konsums entfernen, entfremden, sie von innen her fremd werden lassen…. Und wie “politisch” ist es doch, der Bewegung von zyklischer Erneuerung in der Natur im Geist eines Hadewijchschen Minne-Liedes zu folgen, in dem die das Lied Singenden/Lesenden nach der wiederkehrenden Erneuerung ihres Lebendigseins suchen – als eine Gabe, von der sie abhängig sind. So jedenfalls würde ich es lesen, dass es sich da um ein anderes Denken handelt als jenes, das – kurz gesagt – von Linearität und Kontrolle und ewigem Wachstum und den “Er-Lösungs”-Vorstellungen Tech-Giganten dominiert ist.

  • Jutta Pivecka sagt:

    Liebe Anne, liebe Heike, liebe Fidi (die Du Dir weitere Kommentare gewünscht hast :-) ), mein Beitrag kann nur lose an Eure Gedanken in der vorangegangenen Kommentaren anknüpfen, weil ich meine eigenen Ausgangspunkte nehmen muss, um dieses Anknüpfen, diese Verwebung herzustellen. Für mich war ein Gedanke beim “Minnen” immer ganz wesentlich und (über)zeugend: dass das Denken dieser Art “durchunddurch” geht, also nicht körperlos vergeistigt sich “intertextuell” auf andere (Vorgänger-)Texte bezieht, sondern sich aus der körperlichen Erfahrung der Denkenden ergibt, dass sie von daher und nur von daher sich zu Texten von Vorgängerinnen “hingezogen” fühlt, die sie aufwühlen, eben nicht (bloß) im Geist, sondern in ihrem Körper, der in seinem ganz bestimmten gegenwärtigen Sein lebt und auch nur DA denken kann. Oder anders ausgedrückt: dass dieses Denken die ganze Leib-Seele-Dichotomie nicht bekämpft, sondern ganz einfach ignoriert, nicht aus Trotz, sondern weil es muss, weil anders gar nicht gedacht werden kann. (Und diese Dichotomie ist ja so ungeheuer wirksam JETZT, wie Heike schreibt, im Denken und Tun z.B. der Tech-Giganten.) So komme ich dann auch zur “Weisheit”. Denn “Weisheit”, wie ich die Vokabel kenne und verstehe, stammt ja genau aus diesem Denken, in dem Leib und Geist getrennt sind, in dem der Geist “Ich denke, also bin ich” sagt und weise wird, sich über diesen störrischen Leib erhebt, der nicht denkt, sondern…sagen wir mal … pisst und schwitzt und sich hin und her wirft, schlaflos. So weise also kann, habe ich gemeint zu verstehen, die Minnende nicht werden, denn die, noch im Gedankenflug, erlebt sich denkend, zitternd, stinkend. Die lebt und denkt das aus, dass keine Erlösung ist und nicht sein wird, sondern immer nur SPANNUNG, auch Verspannung, die denkt und lebt – auch das politisch, wie ich meine – sich selbst nicht als Erleuchtete, auch wenn sie manches Mal leuchten mag, die fällt genauso tief, wie sie abhebt und denkt das mit, immerzu, immerzu, durchunddurch. Das Politische daran ist, dass sie nicht aus der Opposition heraus denkt, sondern aus dieser Spannung heraus, also nicht gegen etwas, sondern sich als Teil spürend und denkend immer gleichzeitig von dem was JETZT ist und DANN sein könnte, aber auch wenn DANN JETZT wird, ändert sich diese Denkfigur nicht, kann sich nicht ändern. Vom religiösen Erlösungsdenken habe ich selbst in einem schmerzhaften Prozess Abschied genommen. Vielleicht liege ich deshalb auch mit diesem Verständnis der Minne ganz falsch, sicherlich in jeder Hinsicht da, wo es um das eigentlich Spirituelle geht, dem ich nichts (mehr) abgewinnen kann. Die Minne, so schließe ich, kann mich nur da berühren, mitnehmen, wo die Minnende NICHT als Prophetin wirken will. (Und damit offenbare ich selbstverständlich auch einen Abwehrmechanismus in mir, in meinem Körper, der sich tief eingegraben hat.). Ach Heike, ich bin gespannt, wie Du diese (Miss-)Verständnisse aufklären wirst. :-)

  • Heike Schmitz sagt:

    Liebe Jutta! Liebe Anne! Als “Expertin” verstehe ich mich natürlich nicht, finde es spannend, dass ihr das Wort aufnehmt, zu lesen, wie ihr es lest! Ja, Anne, da ist die Faszination und Dringlichkeit seelischer Entwicklungsprozesse, die aus diesen Texten sprechen, sowie der oft auch heute noch gültig wirkende Rat, den Hadewijch z.B. in ihren Briefen ihren Adressatinnen gibt. (z.B. der 4. Brief, von den Herausgebern “Irrtümer der Vernunft” überschrieben) Und ja, Jutta, was du da schreibst, trifft genau die Richtung, in die mich das Denken um die und mit der Minne, wie sie sich bei Hadewijch finden lässt, immer weiter gebracht hat. Und lass mich noch den einen Aspekt hinzufügen – neben dem, was du so treffend beschreibst. Die technologischen Entwicklungen dieser Welt werden u.a. von Jahrhunderte alten Erlösungsvorstellungen angetrieben, mit denen sich die Akteure identifizieren – eine ‘zweite Wirklichkeit’ erschaffend, selbstverständlich unter Kontrolle ihrer Entwickler, die sich in ihrer Art atheistischem Heilsdenken auf eine ‘höhere Ebene’ katapultiert haben. Und es wirkt vielleicht “naiv”, in der Forderung nach exponentiellem Wachstum, das uns alle erfasst hat, und dem sich diese “Erlöser” verschrieben haben, die Lieder Hadewijchs “zu singen”. Aber es sind Gesänge der zyklischen Erneuerung, getragen von einem tiefen menschlichen Bewusstsein von Abhängigkeit – die voll und ganz angenommen wird, durch und durch erfahren. Das tut gerade not, wo es doch so schwer zu fallen scheint, uns einzugestehen, dass wir Abhängige sind im Hinblick auf die regenerativen Kräfte unseres Lebens, die so immenser Zerstörung ausgesetzt sind. Trotz all ihren visionären Erfahrungen fällt Hadewijch immer wieder zurück in ihr “elendes” Menschsein. In diesem Bewusstsein zu wachsen führt auch näher zu den Quellen von Freude und Erneuerung der Kräfte in einem ganz und gar nicht naiven Sinn. Lasst uns weiterspinnen mit dem Wort “Minne”! Es könnte sich neu entwickeln und wieder was zu sagen haben! Und aus euren Kommentaren meine ich herauszulesen, dass ihr das auch so seht.

  • Anne Newball Duke sagt:

    Wunderschön, danke für die schönen Anmerkungen. <3
    Ich denke, um "seelische Entwicklungsprozesse" geht es im Grunde auch in meiner heute startenden Reihe über Kunst. :)

  • Anne Newball Duke sagt:

    Liebe Jutta, interessant, wo und wie sich Konzepte von Weisheit bilden. Ich habe gerade irgendwo gelesen, vielleicht war es in “The Artful Universe” über die vedische Kultur und die Stellung der Dichtkunst… wo by the way Frauen wie Hadewijch eine hohe gesellschaftliche Stellung hätten aufgrund ihrer Kunst, das “Unvorstellbare” in Sprache zu bringen… also da habe ich glaube gelesen, dass Weisheit nur aus dem totalen Nichtwissen erwachsen kann; sozusagen… wie ich das verstehe… aus der körperlichen Hingabe, dem Herschenken der Körper*in, um Erfahrungen in einer “leeren Körper*in” aufnehmen zu können, aus der dann – wieder “bei Verstand” ;) – Weisheit erwachsen kann. Also nur aus der Vernichtigung kann Weisheit erwachsen. Das nur in Kürze als spontaner Kommentar, für alles andere muss ich mir mehr Zeit nehmen. Das, was du zum Denken “Durchunddurch” sagst, Jutta, das räsoniert total in mir, und in die Richtung denke ich auch in der Kunst-Reihe. Denken aus der Körper*in ist im Grunde Verbindung mit der Welt aufnehmen, da wir auch durchunddurch Welt sind. Aber ja… mehr vielleicht nochmal später.

Weiterdenken

Menü