Forum für Philosophie und Politik
Von Heike Schmitz
Teil III
Im Irren begriffen – Wege von der Minne zur Vernunft (redene)
Wie es geklungen haben mag, das Wort Minne, einst auch gesungen, in Liedern, die um die Minne kreisen – versuchen wir, dem Nachhall aus der Ferne nachzugehen. Wenn in der Vision die Begegnung erfahren wird, lassen die Lieder das unerfüllte Verlangen der Minnenden erklingen.
In ihren Liedern singt Hadewijch zumeist von anderen Regionen, fernab von den Sphären der Vision. Sie, die Virtuosin der elend Abhängigen, singt von der grausamsten aller Landschaften, die die Minne ihr in ihrem menschlichen Dasein gestaltet, von der Wüste, von Not und Elend, zu erduldendem Leid, von Schmerzen und all den Weisen der Minne, sich zu verbergen oder sie zu schlagen. All das verstärkt nur immerzu die Forderung, zu wachsen und zu reifen, ihr mit hohem Dienst untertänig zu sein, weder Kosten, Schaden noch Anstrengung zu fürchten. Die Gewalt der Sehnsucht wirkt unentwegt und drängt zum Reifen. Mit der Minne verleiht Hadewijch dem ein Wort, was sich auf die findigste und undurchschaubarste Weise und aller Kampfeslust zum Trotz entzieht. So also ist es, am Leben zu sein. Nie ist es in den Griff zu kriegen. Dürsten in ihrer grausamen Wüste, Rasen im Verlangen, unersättliche Leidenschaft – Leben heißt abhängen von ihr. Je mehr sie sich entzieht, umso stärker ist sie im Begehren anwesend. Grausam sind die Gaben der Minne, doch in ihr verhungern heißt ihr Wesen zu schmecken, in ihr verloren zu gehen, heißt sie zu finden. Doch hören wir hin, was in all dem Elend sich andeutet: Ein Geschmack von Freude! Lebensfreude, ach, dieses Ach – “Ay” – das sich in ihren Liedern so oft findet – ay, ay -wie ein Seufzer im Wissen um die doch eigentlich zu erlangende Freude, wäre sie nur reif genug dafür.
“Das Gebot, das ich in der Natur der Minne erkenne,
bringt meine Sinne in Verwirrung.
Es hat keine Form, weder Ursache noch Gestalt,
dennoch hat es den Geschmack eines Geschöpfes.
Es ist die Materie meiner Freude,
nach der ich immer dürste.
Darum verbringe ich meine Tage in großem Leid.”
“Ach, ach (- ay, ay -) ihr Edlen voller Vernunft, wo bleibt ihr?
Ja, edelste aller Geschöpfe,
auserkoren für das Wesen der Minne,
um herrliche Geschmäcke zu genießen:
Neue Materie, Freude, fortwährende Blüte,
wird gewaltige Minne belohnen.”
Bloß ist es im Menschenleben mit dem Minnen allein nicht getan, es braucht noch eine andere Kraft im Leben. Hadewijch nennt sie “redene“. Das deutsche Wort “Rede” klingt darin an, übersetzt aber wird Hadewijchs “redene” in den deutschen Ausgaben mit “Vernunft”. In ihrem Wörterbuch sprechen die Brüder Grimm von einer angenommenen Urverwandtschaft von “Rede” und “Ratio” – ein Wort, das mit den römischen Händlern über die Handelsstraßen gekommen sei, das anfangs die Rechnung meinte, die auf ein Geldgeschäft ausgestellt worden sei, und dann aber auch in freierem Sinne als Rechenschaft für das Tun und Lassen in nicht mehr kaufmännischem Sinne. “Rede” wird im Mittelalter zum Ausdruck für eine in prosaischer oder poetischer Form gegebene Lehre. In Hadewijchs “redene” scheint all das mitzuschwingen, und wie unser heutiges Wort “Liebe” von der romantischen Vorstellung geprägt ist, so das Wort “Vernunft” von der aufklärerischen. Davon gälte es sich so gut es geht zu lösen, um sich Hadewijchs “redene” anzunähern. Die Kraft des Denkens jedenfalls meint sie damit, mit der sie sich allen Fragen des Alltags stellt, und die in allem wirkt, was sie tut und schreibt. Ihrem Empfinden der Minne ist sie von Anfang an zur Seite gestellt. Einer ihrer Briefe erzählt von diesem Beginnen in Minne:
“Seit meinem zehnten Lebensjahr beherrschte mich die Minne mit einer solchen Leidenschaft, dass ich während der ersten zwei Jahre, nachdem dieses Leben seinen Anfang genommen hatte, umgekommen wäre, wenn Gott mich im Unterschied zu den gewöhnlichen Menschen nicht mit einer außerordentlichen Kraft versehen und meine Natur durch sein Wesen wiederhergestellt hätte, so dass Er mir unvermittelt ein geistiges Vermögen zuteil werden ließ, das sich unter anderem im Licht verschiedener prächtiger Offenbarungen gezeigt hat, und Er mir viele schöne Geschenke gewährte, indem Er sich selbst fühlen und sich sehen ließ (….) im innigen Einander-Empfinden (…) wenn man sich gegenseitig durch und durch schmeckt, aufisst und austrinkt und einer den anderen verschlingt (…) Und wenn mir die Vernunft (“redene”) bisweilen auch schon zu erkennen gab, dass die Verbindung nicht derart eng sei, so ließ mich das Band, welches durch die unmittelbare Minneempfindung entsteht, doch das nie fühlen oder auch glauben. (…) Und so schenkt mir die Minne manchmal eine solche Einsicht, dass mir bewusst wird, was mir dazu fehlt, um meinen Geliebten so zu genügen, wie er es verdient.”
Nachdem Hadewijch aus jener beinahe zerstörerischen Leidenschaft und der unvermittelten Gabe göttlicher Offenbarung wieder in ihr elendes menschliches Dasein zurückgekehrt ist, bleiben ihr fortan zwei Kräfte, dieses schmerzvolle Leben zu bestreiten: lieben und denken, “Minne” und “Redene” – zwei Augen nennt sie sie, wie Sonne und Mond hat jedes seine eigene Sphäre. Das ausgewogene Verhältnis der beiden spielt eine große Rolle in ihren Liedern wie in den Ratschlägen, die sie Beginen in ihren Briefen gibt. Die Minne möchte in ihrem Verlangen nicht warten, aber die “redene” gebietet ihr dies. Sie ist es, die aufzeigt, welche Arbeit es mit neuem Mut um der Minne willen zu verrichten gilt. Die Vernunft erlaubt nicht, im Vergnügen, in Genügsamkeit zu verharren, und mahnt: “‘Sieh her, dies musst du noch werden.’” Sie erleuchtet das Verlangen mit ihrem Willen und zeigt ihm, was zu tun ist. Zwar sei es, schreibt Hadewijch, ein unvorstellbarer und für die menschlichen Kräfte äußerst schwerer Weg, “von Minne zu Vernunft zu kommen,/ Doch davon hängt es ab, die Minne ganz zu empfangen, wenn man sie gewinnen möchte.” Die Vernunft lehrt vor allem Unterscheidungskraft, bewahrt vor Überheblichkeit, lässt die nicht in Ruhe, die sich vorschnell zufrieden gibt mit süßen Empfindungen und darum fälschlicherweise meint, schon der Minne zu genügen. Zwar kann sich auch das Denken auf vielerlei Weise irren, doch nur im Zusammenspiel von Minne und “redene” werden die höchsten Gaben der Minne zuteil.
“Wer aber mit Wahrheit über Minne dichtet
und dann mit klarer Vernunft (“redene”) erleuchtet wird,
in diesem wird die Minne ihre Schule gründen.
Derjenige wird Meister sein
und die höchsten Gaben der Minne erhalten,
die unheilbare Wunden zufügen.(orig.:”die wonden sonder ghenesen”)
Bei denjenigen, denen Minne auf diese Weise ihre Wunden zufügt
und die große Weite ihrer Kenntnisse zeigt,
hält die Leidenschaft die Wunden offen und unversorgt,
während Minne sie mit Angriffen versengt.
Auch wenn es die Verwundeten dann graut,
darf uns das nicht verwundern.”
Mit diesen Zeilen rückt die Hölle der Minne sehr nah. In Hadewijchs umwälzender Lebenszeit dürften neue Weisen des Begehrens auf vielerlei Weise entfacht worden sein. Ihres aber gleicht dauernden Wundschmerzen, ist auf etwas äußerst Flüchtiges bezogen, bleibt stets offen, ist nur in den wenigen Momenten des Schmeckens zu stillen. Diese flüchtige Minne macht sie höllisch lebendig und zeigt, dass ihr Lebendig-Sein höllisch ist. Mit aller Geisteskraft versucht Hadewijch, dem im Schreiben zu entsprechen. Ihrer habhaft zu werden ist unmöglich – solcher Art ist dieser Geist, er weiß um das unstillbare Begehren. Als in Flandern sich eine neue Ökonomie des Habens entwickelte, entfaltete sich zur gleichen Zeit ein Minne-Geist, der vom Nicht-Habhaften schreibt. Haben kann sie sie nicht, aber sie braucht sie doch, braucht sie mit allem, was sie ist und hat, wovon sie kraft ihres Geistes singt und schreibt und dichtet. Selten sind die Momente, in denen sich ihr vollends gibt, wonach sie verlangt. Aber für das Genießen, das ihr dann geschenkt wird, hat sie jenes schon erwähnte besondere Wort: “ghebrukene” nennt sie es – einander “gebrauchen” – es ist ein Nähren, Zehren und Schmecken in minnender Verschmelzung. Ihr “ganzes Verlangen / läuft darauf hinaus, ernährt zu werden und zu zehren / und die Natur der Minne zu genießen.” Dieser erste aller Sinne ist Hadewijch der innigste und wichtigste: das Schmecken im nährenden Umgang – “seit ich sie zuerst schmeckte, / liege ich ihr immer zu Füßen” – ihre früheste Seinsgewissheit. Aber der Geist, der das Wort Minne vernichtet hat, tilgte diesen Anfang. Die Geistesgeschichte hat jenes frühe Schmecken, in dem sie zu sich kommt – der erste Sinn der Zur-Welt-Gekommenen – durch den Blick abgelöst, der Sehsinn erhielt den Vorrang. Und wie im Zeitraffer der Geistesgeschichte gesagt: der Körper wurde zum Objekt der Betrachtung. Unter dem Auge des Beobachters verliert sich, was Hadewijch minnte und meinte. Diese Geschichte der Dominanz des Blicks scheint bis heute weiterzugehen, bis hin zur ‘Selfie-Manie’ als Selbstbezug.
Geborensein, gebären, nähren, zehren, schmecken – wie in leiblichen und auch weiblichen Resonanzräumen bewegt sich Hadewijchs “redene“. Aus ihnen speisen sich ihre Wortschöpfungen, Klangräume, spiegelnden Reflexionen – und ihre Vorstellungen vom Wirken des Minne-Geistes. Sie denkt gebärend und gebiert Geist. Was die Minnende aufwenden muss, gleicht dem der Gebärenden: Alle Kraft, um dem, was zur Welt kommen will, in höllischen Schmerzen gerecht zu werden. Wenn sie in dieser Anstrengung das Äußerste erreicht, gebiert sich das Leben erneut aus der Kraft der Minne. So vernichtet in Minne erneuert sich das Leben, “indem (die Minnenden) das unüberwindlich Große besiegen, das sie in jedem Augenblick das Leben mit einem neuen Tod beginnen lässt”. Der größte Sieg ist, ihr ganz gerecht zu werden und sich dann in Minne vernichten zu lassen.
“Der schönste Umgang, den Minne sich vorstellen kann,
besteht darin, dass Liebster seine Liebste so durch und durch minnt,
dass Liebster so Liebste mit Minnen durchgründet,
dass er nichts anderes mehr weiß
als: “Ich bin derjenige, der Minne mit Minne besiegt.”
Wer aber Minne besiegte und dann in Minne vernichtet würde,
der hätte einen größeren Sieg errungen.
Diese Kraft würde alles übertreffen.
Aus dieser hohen Materie wurde
Minne zuerst geboren.”
Eine “hohe Schule” ist die Minne mit ihren Stürmen für Hadewijch. Sie reißen das minnende Ich auseinander und es lernt, dass es mit einem Band an die zwingende Macht der Minne gebunden ist – Ich-Minne, mit einem Bindestrich, beinahe eine Nabelschnur. Die Lehre der “hohen Schule” zeigt sich darin, dass diejenigen, die gut verstanden haben, aus sich heraus irren – “dolen ut minen stuk“. Sie geraten in irrende Bewegung, ein Nichts an Zwischenraum eröffnet sich, eine Wüste, nicht zu fassen, aber zu durchqueren. Höllisch ist es, am Leben zu sein – das zu erfahren heißt: Es zu durchlaufen! “Dolen” ist das flämische Wort für “irren”, und es kommt häufig und in zweifacher Weise in Hadewijchs Texten vor. Unwichtiger ist es, wenn von jenen die Rede ist, die der Minne anscheinend für immer fremd bleiben und in ihrem Leben anderswo herumirren. Das bedeutendere Irren aber spricht von denen, die sich auf die weiten Weg zur Minne hin begeben – suchend, verzweifelt, schmerzerfüllt. Und so mischt sich noch ein anderes Wort ein, das mit Weite, Wüste, Zwischenraum zu tun hat – und mit dem Erfahren: “dore“. Im Deutschen bedeutet es “durch”, und kann in beiden Sprachen als Präposition oder Vorsilbe verwendet werden. Wir kennen es auch im Deutschen, dass die Vorsilbe “durch-” sowohl eine Bewegung durch etwas hindurch bezeichnen kann wie auch eine Erfahrung, die mit verwandelnder Kraft verbunden sein kann, so wie in diesem einfachen Beispiel: ich laufe durch einen Tunnel – als Bewegung durch etwas hindurch – oder ich durchlaufe einen Prozess – als (möglicherweise verwandelnde) Erfahrung. Hadewijchs Sprachkunst verwebt in “dore-” Bewegen und Erfahren und somit auch Wachsen in Minne. Die zur Minne hin Irrenden durchlaufen, durchschwimmen, durchklettern, durchwaten, durchfliegen diese weite Wüste – lauter Verben der Bewegung mit der Vorsilbe “dore-“: doregaen, doreclemmen, dorevaren, doreswemmen… Darin zu reifen, kann das einfache “durch” zum “durch und durch” führen. Dann geht das Bewegen in das Erfahren über, zum Äußersten und Innigsten, zur Begegnung mit Gott-Minne: durchschauen (doresien), durchminnen (doreminnen), durchschmecken (doresmaken).
LITERATURHINWEISE:
Die Texte Hadewijchs:
Hadewijch: Lieder – Originaltext, Kommentar, Übersetzung und Melodien, hg. von Veerle Fraeters, Frank Willaert und Louis Peter Grijp, De Gruyter: Berlin/Boston 2016.
Hadewijch: Das Buch der Visionen – Text, hg. von Gerald Hofmann, frommann-holzboog: Stuttgart-Bad Cannstatt 1998.
Hadewijch: Buch der Briefe, hg. von Gerald Hofmann, EOS Verlag: St. Ottilien 2010.
Hadewijchs Lieder online:
Weiterführende Lektüren:
Cixous, Hélène u. Derrida, Jacques: Die sexuelle Differenz lesen, Turia + Kant: Wien 2023.
Lispector, Clarice: Die Passion nach G.H., Suhrkamp: Frankfurt am Main 1990.
Ruh, Kurt: Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. I, Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts, C.H.Beck, München 1990.
So toll!!! Ich freue mich schon auf den nächsten Teil!