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LIEBE NEU GEDACHT – DIE ALTE MINNE DER MYSTIKERIN HADEWIJCH, Teil II

Von Heike Schmitz

In Minne reifen – die Freiheit der Brauchenden schmecken

Nehmen wir es wieder auf, das Wort Minne, stellen uns vor, wie es geklungen haben mag aus dem Mund der Beginen, die inmitten sich neu entwickelnder Städte und kapitalistischer Handelsströme sich ihren eigenen Lebensraum in Gestalt der Beginenhöfe schufen. 

Plötzlich waren da Texte von einer eigenen spirituellen Kraft, poetische Texte von großer Sinnlichkeit aber auch theologischer Reflexion, die das Volk verstehen konnte und die eine Gemeinschaft der Minnenden zu stiften versuchte. Die so schrieben, beriefen sich auf ihr eigenes Erleben, schufen neue Worte für eine leidenschaftlich erfahrene Minne. Die Minne ist es, nach der sie ihr Leben ausrichten, und nicht kirchliche Vorschriften. Sie ist es, die sie auffordert zu wachsen und zu reifen, mit keinem geringeren Ziel als “Gott mit Gott zu sein”. Nichts konnte jedoch gefährlicher werden als die Rede von einer Beziehung zu Gott, von einer erfahrenen Minne, die keiner Vermittlung durch die Kirche bedurfte. Dass diese Schriften unter den Kirchenvertretern Anstoß erregten, davon zeugt aufs Bitterste das Vorgehen der Inquisition gegen Marguerite Porète. So ordnete der Bischof von Cambrai zunächst an, ihr Buch, den “Spiegel der einfachen Seelen”, zu verbrennen. Aber dabei blieb es nicht. Erst brennen die Bücher – dann die Körper. Das gab es schon einmal, im Mittelalter. 1310 fand die Begine Marguerite den Tod auf dem Scheiterhaufen, just auf jenem Place de Grève vor dem Pariser Rathaus, wo an Werktagen die Märkte stattfanden. Marguerite Poretes Denken und das der Beginen findet sich auch in Meister Eckharts Schriften wieder, nur in einer Weise aufgenommen und verwandelt, dass es dem Klerus noch zuzumuten war. Doch schließlich wurde auch Meister Eckhart der Häresie bezichtigt und verurteilt. Von den Grausamkeiten der Inquisition wusste auch Hadewijch, denn in der “Liste der Vollkommenen” erwähnt sie eine Begine, die Meister Robert “wegen der Wahrhaftigkeit ihrer Minne hinrichten ließ”. Hier zeigt sich also der Geist, der ein Wort vernichten kann, in seiner drastischsten Vorgehensweise. 

Von diesen schreibenden Beginen ist Hadewijch eine der herausragendsten. Sie schreibt auf Altflämisch. 45 Lieder, 16 traktatartige Gedichte, 31 Briefe, 14 Visionen, und eine so genannte “Liste der Vollkommenen” sind überliefert. Ihre Lieder zeugen von Kenntnissen des Minnesangs und der Troubadourlyrik, wie sie nur dem Adel zugänglich waren. Das legt den Schluss nahe, dass sie einer adligen Familie entstammte. Über das theologische Wissen des Klerus verfügen diese Frauen nicht. Doch aus diesem scheinbaren Mangel erwächst auch ihre Stärke, eine eigene muttersprachliche Kraft und Freiheit. Aus erfahrener Minne begründen sie ihr neues, eigenständiges – oder vielmehr minneständiges – Leben:

“Fremde und Freunde,

denen ich früher diente,

habe ich gleichermaßen aufgegeben.

Von Ehre und Ruhe habe ich Abschied genommen,

weil ich frei leben und

in Minne großen Reichtum

und Weisheit empfangen möchte.

Wer mir dies nicht gönnt, begeht eine Sünde.

Ich kann nicht darauf verzichten,

ich habe nichts anderes: Ich muss von Minne leben.”

Und sie ermuntert ihre Briefpartnerinnen, es ihr gleich zu tun. “Mach dich schleunig auf zur Minne!” – so endet einer der Briefe.

“Ihr redet, wir handeln / ihr lernt, wir tun was”, schreibt eine Begine im 13. Jahrhundert an einen nordfranzösischen Dominikaner, der ihren Brief aufbewahrt hat. Es klingt in Bezug auf das praktische Handeln wie auch auf das spirituelle Denken manchmal recht keck und mutig, wie diese Frauen ihr Anderssein, ihre Freiheit und Unabhängigkeit preisen. In einer der Visionen Hadewijchs klingt es noch viel kühner: 

“Denn ich bin ein freier Mensch und zu einem Teil auch rein, und ich kann mit meinem Willen frei verlangen und so kühn wollen, wie ich will, und ich kann von Gott alles das erlangen und in Besitz nehmen, was Er ist – widerspruchslos und ohne (Ihn) zu erzürnen, wozu kein Heiliger imstande ist.”

Doch gewiss ist diese Freiheit nicht so leichthin zu besitzen, wie es klingen mag. Und da wirkt eines der grundlegenden Paradoxe in Hadewijchs Schriften hinein. Es ist die Freiheit einer ganz und gar Abhängigen, ja Geschlagenen, Gefangenen, die Freiheit einer Minnenden, die darunter leidet, dass die Minne mit ihr macht, was sie will. Was wir in Hadewijchs Schriften lesen, wirkt wie eine hohe Kunst, den Menschen in Abhängigkeit von dem zu denken, was ihn lebendig macht – weil sie es so am ganzen Leib erfahren hat. Lebender Born ist ein andere Name der Minne. Als eine Art ritterlicher Kampf mit der freien Gewalt der Minne singt Hadewijch in ihren Liedern von ihrem Abhängig-Sein. Und es geht heftig – ja höllisch – zu. Die Minne schlägt, verwundet, verbirgt sich, quält sie damit, während die Minnende hungert, entbehrt, leidet, dürstet und diesen eigenartigen Kampf bestehen lernen muss. Nur wer sich durch und durch als bedürftig und brauchend erweist, vermag die Minne zu erringen. Nur dann wird die Minnende frei – so frei wie die Minne selbst. Nur wer bis zum Äußersten braucht, gelangt zum “Gebrauchen” – “ghebrukene” in Hadewijchs Sprache – was mit “Genießen” übersetzt werden kann, im Sinne auch von nährendem Umgang.

“So bleibe ich an der Seite der Minne,

was mir danach auch geschehen möge: 

Trauer aus Hunger nach ihr, Freude wegen ihrer Sättigung,

Das Nein des Verlangens, das Ja des Vergnügens,

Der Tapfere erteile Schläge, bevor Minne zuschlage:

So kommt er gut in den Kampf.

Wer die Minne mit Kampfeslust angreift,

wie schrecklich es ihm auch ergehe,

er wird ihre Weite umfassen.”

Und der Refrain lautet:

Ich rate dem Tapferen, der in seiner Jugend

gegen die Minne kämpft,

dass er nicht vor ihr fliehe,

sondern zusehe, dass er sie überwältigt,

bevor sie an ihm vorbeigeht.”

Gib sie niemals auf, diese gewaltige flüchtige Minne – dazu ermuntert und ermutigt Hadewijch unentwegt. In ihren 45 Liedern verwendet Hadewijch 987 Mal das Wort Minne. Die Minne wird zur aktiven personalisierten Figur, tritt an die Stelle der passiven Dame des traditionellen Minnesangs. Sie ist es, die den Ton angibt – “Der Ton, der alle Gesänge übertrifft, damit meine ich: Minne in ihrer Macht”. Von ihr singt die Sängerin. Und alle, die ihr zuhören, mögen es ihr gleich tun und sich in allem nach ihr ausrichten. In ihren Briefen wird Hadewijch so zur spirituellen Ratgeberin, die ihren Adressatinnen auf ihren Wegen zur Minne zu helfen versucht. Mehr als in ihren anderen Texten ist hier von Gott die Rede, Gott und Minne aber sind bei Hadewijch wie gleichgesetzt.

“Ich grüße dich, Liebe (altfläm.: ‘lieue’), mit der Minne (“metter minnen”), die Gott ist, und mit dem, was ich bin und was zum Teil Gott ist. (….) Ach, Liebe (“lieue”), alle Dinge soll man mit ihren eigentümlichen Mitteln zu erlangen trachten, Kraft mit Kraft, Klugheit mit Klugheit, Macht mit Macht, Minne mit Minne, alles durch alles und immer Gleiches mit Gleichem: Das und nichts anderes kann ihnen gerecht werden. Minne ist die einzige Sache, die uns genügen kann, nichts sonst. Ihr müssen wir uns jederzeit gewachsen zeigen: in immer neuen Angriffen (“storme”), unter Aufwendung der ganzen Kraft, aller Klugheit, aller Macht, der ganzen Minne, mit allem zugleich: So geht man mit dem Geliebten (im Genießen, H.S.) um!” (altflämisch: “dat es lieues ghebruken”)

So wäre denn also in jener Geburtsstunde des Kapitalismus in Flandern und Brabant zugleich ein neuer Minne-Geist zur Welt gekommen. Seine Freiheit gründet darin, abhängig zu sein von der freien Minne, und er leibt und lebt, liebt und schreibt in einer Weise, von der noch zu reden sein wird. Die neu entfachten ökonomischen Kräfte sind einhergegangen mit einer gleichzeitigen nie da gewesen spirituellen Energie aus dem Kreis der Beginen. Ihre Minne, die Hadewijch alt und neu zugleich nennt, hätte gewiss das Potential gehabt, ebenso über die Jahrhunderte weiterzuwirken wie der kapitalistische “Spirit”, von dem die Kuratoren van Cauteren und Huts in dem obigen Text sprechen. Der neue Mensch der Märkte in Flandern ist ein Zeitgenosse jener neuen Minnenden. Nur wenn ein Wort aus der Geschichte verschwindet – der kleine Refrain dieses Vortrags – verliert sich auch dessen Geist, von dem Hadewijch jedenfalls vollständig durchdrungen war. 

Die vor kurzem verstorbene ostdeutsche Lyrikerin Elke Erb schreibt in ihrem Buch “Nachts, Halb zwei zu Hause”: 

“Reifen ist mehr als Heilen. Heilen ließe der Dichtung nur ein Gesicht, das psychologische, das charitative; es ließe die Wunde nicht leben. Ich habe kein besseres Wort”.

Ihr, Elke Erb, der Wortgewandten, die so frei sich schrieb von den Sprachformeln der DDR-Gesellschaft, in der sie lebte, fehlte ein Wort?  Vielleicht sollte es eher heißen: Sie ist eine der wenigen, die bemerkt hat, dass es fehlt! Wie Hadewijch 800 Jahre zuvor, hat sie unermüdlich Prozesse in Sprache gefasst, die vom Wachsen und Reifen handeln, von Selbsterkenntnis. Im Schmerzlichen ist Lebendiges. Elke Erb und Hadewijch (aber auch Mechthild von Magdeburg) verbindet durch die Jahrhunderte die ‘lebendige Wunde’ mit ihrer erneuernden Kraft, als würde diese daraus neu geboren. Alles Heilen muss ihrer eingedenk bleiben, sonst wäre es bloß ein Verschluss, ein Pflaster, eine Phrase, was vielleicht christliche Heilsversprechen oder auch kommunistische wie kapitalistische vermögen. Solcher Heilung aber verweigern sie sich. Die Wunde, die lebt, muss jede für sich erfahren und Hadewijch hat das Wort, das Erb fehlt: die Minne.

“Ach, wo ist nun neue Minne

mit ihrem neuen Gut?

Denn mein Elend 

bringt mir zu viel neuen Schmerz.

Mir schmelzen meine Sinne

in der Sturmwut der Minne.

Der Abgrund, in den sie mich schickt,

ist tiefer als das Meer,

weil ihr neuer tiefer Abgrund 

meine Wunde erneuert.

Ich suche nicht mehr nach Heilung,

bis ich sie für mich ganz als Neues kennenlerne.”

Was also fehlt, wenn das Wort Minne fehlt? Bei Hadewijch ist es nachzulesen, aber kaum zu fassen. Es fehlt das Wort der Worte, von dem ihre Rede ausgeht und zu der sie hingeht. Das Wort, auf das sich das Schreiben bezieht von Anfang an, mit dem das Schreiben ein In-Beziehung-Sein ist. Es fehlt das Wort, das sagen kann: dieses Ich irrt und irrt um ‘eine Andere wie ich’. Es fehlt ein Wort, das – einer Dame gleich – sich personalisieren lässt und mit dem Ich verbindet: ein sich spiegelndes, wie im Irren verdoppeltes Subjekt bildend, das in Bewegung ist und nicht in Identität erstarrt. Es ist im Zwischenraum, abhängig, gebunden. Es fehlt das Wort für das nicht zu Fassende, das jedes Ich erfasst, wenn es nur minnt. Ein Wort für die Bindung an die abgründigen Grundlagen des Lebens. Die Poesie der Schwebe lebt mit diesem Wort und alle Weisen des Schmerzes, der Not, die das Begehren wachsen lassen und den Geist entzünden. “Wer die Minne bis zum Äußersten minnt, besitzt ein erwachsenes Herz” – wie sonst sollte der Fluchtpunkt allen Wachsens und Reifens benannt werden, wenn nicht mit dem Wort Minne? Und es fehlt das Wort, mit dem das Wort Gott verschmelzen kann, auf dass die Spiegelungen, die sich Hadewijch offenbaren in der Vision, ihrem Erfahren entsprechend beschrieben seien. Sie sieht das “unvergleichlich schöne” Antlitz der Minne, durchsichtig, so dass sie darin alle Werke, die sie jemals vollbracht hatte und zu vollbringen imstande war, wiedersieht. Mit Minne ist die früheste Gewissheit, am Leben zu sein, angesprochen. Und am innigsten wird sie, wenn sie in der Vision vom Sehen zum Schmecken gelangt:

“Jetzt aber sah ich dieses (Angesicht) und war tatsächlich zu meinem Chor gelangt, zu dem ich auserwählt war: Ich sollte das Mensch- und das Gottsein als ein einziges Vermögen schmecken, was ein Mensch niemals zu tun vermöchte, es sei denn, er wäre ganz und gar wie Gott und gänzlich so, wie der war, der unsere Minne ist.”

LITERATURHINWEISE:

Die Texte Hadewijchs:

Hadewijch: Lieder – Originaltext, Kommentar, Übersetzung und Melodien, hg. von Veerle Fraeters, Frank Willaert und Louis Peter Grijp, De Gruyter: Berlin/Boston 2016.

Hadewijch: Das Buch der Visionen – Text, hg. von Gerald Hofmann, frommann-holzboog: Stuttgart-Bad Cannstatt 1998.

Hadewijch: Buch der Briefe, hg. von Gerald Hofmann, EOS Verlag: St. Ottilien 2010.

Hadewijchs Lieder online:

https://www.uantwerpen.be/en/research-groups/ruusbroec-institute/library/digital-publications/hadewijch-songs

Weiterführende Lektüren:

Elke Erb: Nachts, halb zwei, zu Hause – Texte aus drei Jahrzehnten, Reclam: Leipzig 1991.

von Magdeburg, Mechthild: Das fließende Licht der Gottheit, hg. von Hans Neumann, Artemis: München 1990.

Muraro, Luisa: Der Gott der Frauen, Frank & Timme: Berlin 2009.

Ruh, Kurt: Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. II, Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit, C.H.Beck, München 1993.

Autorin: Heike Schmitz
Redakteurin: Jutta Pivečka
Eingestellt am: 06.02.2025
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Eleonora Krohn sagt:

    Ich möchte gerne Ihren Newsletter abonnieren.
    Herzlichen Dank und freundliche Grüße
    Eleonora Krohn

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