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Der Mailänder Frauenbuchladen wird fünfzig

Von Traudel Sattler

Die Libreria delle donne di Milano, der erste Frauenbuchladen Italiens, wurde am 15. Oktober 1975 in Mailand eröffnet, finanziert durch Spenden und durch den Verkauf von Werken, die einige Künstlerinnen zur Verfügung stellten. Unter den Gründerinnen waren Lia Cigarini, Luisa Muraro, Renata Sarfati und Giordana Masotto, die heute noch dabei sind. Schnell wurde die Libreria zu einem Zentrum zur Verbreitung der Literatur von Frauen, zum Experimentierfeld für die politische Praxis der Beziehungen zwischen Frauen und zu einem wichtigen Bezugspunkt des italienischen und internationalen Feminismus. Traudel Sattler ist seit 1982 dabei.


Diskussion in der Libreria in den 1980er Jahren, in der Mitte Luisa Muraro.

Die Libreria wird 50… Wie schön! Oder oh Schreck – wenn ich bedenke, dass schon 42 Jahre vergangen sind, seit ich zum ersten Mal jene Ladentür öffnete, damals noch in Via Dogana 2, nur zwei Schritte vom Domplatz entfernt. Zunächst ein vertrautes Ambiente: Romane und Sachbücher von international bekannten Autorinnen, an der Kasse eine Frau, natürlich ehrenamtlich – ja, da wollte ich gleich mitmachen, wie vorher schon im Heidelberger Frauenbuchladen!

Doch bald entdeckte ich, dass sich hinter bzw. unter dem Geschäft noch viel mehr verbarg: Irgendwann durfte auch ich in den fensterlosen Kellerraum hinuntersteigen, „Bunker“ genannt, wo sich im dichten Nebel von Zigarettenqualm, gedrängt auf Schemeln, Bänken und Treppenstufen, Frauen aller Altersklassen trafen, die leidenschaftlich diskutierten, lautstark stritten, lachten, Texte erarbeiteten… Ich begriff nicht einmal die Hälfte, obwohl ich die einzelnen Wörter verstand, aber irgendwie war das nochmal eine andere Sprache – ich erahnte Faszinierendes.

Gerade hatten diese Frauen eine Flugschrift veröffentlicht: das Grüne Sottosopra, grün wegen der Farbe des Titels. „Sottosopra“ heißt „drunter und drüber“, und tatsächlich brachten dieser Text und die Diskussionen mein bisheriges feministisches Weltbild erheblich ins Wanken. Da hieß es etwa: „Uns als Opfer dieser Gesellschaft zu fühlen und Frauendiskriminierung anzuprangern, kann nicht mehr das Wesentliche sein“ oder „Solidarität ist ein wertvolles Element, aber sie genügt nicht“.

Foto: Bibi Tomasi

Ich war beeindruckt vom Tiefgang der Diskussionen, diese Ideen kamen nicht aus dem Nichts; hier waren Jahre der gemeinsamen Praxis und Reflexion vorausgegangen. Eine radikale Vordenkerin, Carla Lonzi, hatte mit ihren Schriften mit Titeln wie Wir pfeifen auf Hegel oder Die klitorische und die vaginale Frau Zeichen gesetzt. Auch war zu spüren, dass viele der Frauen einen psychoanalytischen Background hatten, der bereits die vorangegangene politische Praxis geprägt hatte, die „autocoscienza“ (Selbsterfahrung)  und die „pratica dell’inconscio“ (Praxis des Unbewussten). Hier war zutage gekommen, dass die größten Hindernisse für eine Frau nicht in den äußeren Umständen lagen; es galt vielmehr, innere Blockaden aufzulösen, um „in der Welt über all das zu siegen, was uns unsicher, unbeständig, abhängig und nachäffend macht“.

Die separate Gruppe sollte aber keinen Schutzraum darstellen, ja „Frauengruppen laufen Gefahr, zum Ort für Authentizität von Frauen zu werden, der vom gesellschaftlichen Umgang abgetrennt ist und am gesellschaftlichen Geschäft nicht teilnimmt“.  Daher die Notwendigkeit, die Differenz in die Welt zu tragen, die weiblichen Wünsche in die gesellschaftliche Realität einzuschreiben. Und zwar in der alltäglichen Praxis.

Zum Beispiel an der Universität: So entstand in Verona die Philosophinnengemeinschaft Diotima, mit der wir nach wie vor einen intensiven Austausch pflegen. Aus Liebe zur Philosophie, aus Liebe zur Welt und aus Treue zum eigenen Geschlecht fanden sich 1984 zunächst Luisa Muraro und Adriana Cavarero zusammen, danach weitere Frauen wie Chiara Zamboni und dann immer weitere, bis heute! Im Laufe der Achtziger und Neunziger Jahre entwickelten nicht nur die Philosophinnen, sondern auch Lehrerinnen, Juristinnen, Wissenschaftlerinnen, Fabrikarbeiterinnen, Architektinnen, Krankenschwestern, Gewerkschafterinnen eine rege politische Praxis, ausgehend von der eigenen Erfahrung, den Widersprüchen und Konflikten zwischen den Geschlechtern in der Arbeitswelt. Diese Erfahrungen wurden bei Seminaren und Treffen in ganz Italien verarbeitet und führten zu einer umfangreichen Produktion von Büchern und Texten.

Der Mailänder Frauenbuchladen, heute in der Via Pietro Calvi 29. | Foto: Laura Giordano
Der Mailänder Frauenbuchladen, heute in der Via Pietro Calvi 29. | Foto: Laura Giordano

Die Arbeit am Symbolischen: neue Worte finden

Eine besondere Bedeutung kam und kommt bei all diesen Aktivitäten der Arbeit an der Sprache zu, um der Realität, die uns umgibt, und Dingen, die noch keinen Namen hatten, Sinn und Bedeutung zu verleihen. Dabei lernte ich eine ganz neue Auffassung von Theorie kennen: Theorie produzieren bedeutet, „eine politische Praxis in Worte zu fassen, denn die Beziehungen zwischen Frauen sind die Substanz unserer Politik.“ So heißt es in dem Buch, dessen Entstehung ich direkt miterlebte: Kapitel für Kapitel wurde im „Bunker“ an der Publikation mit dem Titel Non credere di avere dei diritti (Glaub nicht, Rechte zu haben) gearbeitet.

Erzählt werden hier Ereignisse und Ideen aus den Jahren 1966 bis 1986, vor allem aus Mailand, vermischt mit Episoden aus der Literatur, aus der Geschichte, sogar aus der Bibel, die zeigen, dass Frauen Kraft und Originalität daraus schöpfen, dass sie sich aufeinander beziehen, in einem Vertrauensverhältnis, das wir affidamento nannten. Nicht der Staat, kein Gesetz kann der einzelnen Frau mit ihrem subjektiven Wollen und Wünschen gerecht werden; ja, es ist wichtiger, Lehrmeisterinnen zu haben, als Rechte zuerkannt zu bekommen – das war eine der starken Aussagen dieses Buches.

Schon während dessen Entstehung wurde mir klar: Das müssen die Frauen in Deutschland lesen!! Das muss ich übersetzen!!! Dafür einen Verlag zu finden, war kein leichtes Unterfangen in einem historischem Moment, wo allerorts Gleichstellungsbeauftragte eingesetzt wurden, um Benachteiligungen von Frauen aufzuspüren und per Gesetz dagegen vorzugehen. Obendrein war in dem Buch die Rede von „weiblicher Autorität“ und der Figur der „symbolischen Mutter“. Das waren Reizwörter, die bei den ersten Treffen in Deutschland teils auf heftigen Widerstand stießen. Der Text erschien dann 1988 im Orlanda Frauenverlag unter dem Titel Wie weibliche Freiheit entsteht und erlebte mehrere Neuauflagen. Im Folgenden wurde das Buch auch ins amerikanische Englisch, in Spanische und ins Französische übersetzt.

Zwei wichtige Vordenkerinnen der Libreria und Mitgründerinnen der ersten Stunde: Luisa Muraro (links) und Lia Cigarini. | Foto: Laura Giordano

Dank manchem Seminar in der Frankfurter Frauenschule und Veranstaltungen im gesamten deutschsprachigen Raum sowie der langjährigen Vermittlungs- und Übersetzungsarbeit von Angelika Dickmann und Gisela Jürgens, Dorothee Markert, Andrea Günter, Antje Schrupp und dem Engagement von Christel Göttert mit ihrem Verlag konnte sich das Differenzdenken einen Weg bahnen und ein fruchtbarer Austausch entstehen. Ina Praetorius, von der einige Texte auf Italienisch erschienen, kam mehrmals zu Veranstaltungen nach Italien. Ihr schien die Rede vom Ende des Patriarchats, das 1996 im „Roten Sottosopra“ verkündet wurde, sogleich plausibel! Der Text entstand aus der gemeinsamen Diskussion eines Textes von Luisa Muraro, „Freudensprünge“, von 1995. Auch die Regisseurin Gabriele Schärer fand darin den Schlüssel für das Drehbuch ihres Films Sottosopra – die schönste Revolution des 20. Jahrhunderts. Die Frauen der Labyrinth-Bewegung (Dagmar von Garnier mit dem Frauen-Gedenk-Labyrinth, Ursula Knecht, Verena Bürgi und andere vom Labyrinthplatz Zürich) nahmen ebenfalls mit uns Kontakt auf, gegenseitige Besuche und Seminare folgten und folgen noch.

Praxis und Aktivitäten heute

Was in den deutschsprachigen Raum gelangte, waren, abgesehen von den wichtigen Treffen vor Ort, vor allem Übersetzungen von Dokumenten und Büchern. Doch Worte können nicht alles wiedergeben, was hier Tag für Tag, Woche für Woche passierte und passiert, wie unsere Praxis aus der Nähe aussieht. Es ist natürlich ein unglaubliches Glück, dass wir von Anfang an so großartige philosophische und politische Denkerinnen wie Luisa Muraro und Lia Cigarini unter uns hatten (deren bisweilen scharfe Urteile oder insistierende Nachfragen bei unreflektierten Äußerungen es erstmal auszuhalten galt…). Muraro hatte eine wichtige Rolle bei der Entstehung und in all den Jahren der Zeitschrift Via Dogana, 1991 bis 2014 in Printversion, seither online als Via Dogana 3.

Im Veranstaltungsraum der Libreria kann es schon mal voll werden. | Foto: Laura Giordano

Heute gibt es eine teilweise erneuerte „enge Redaktion“, die für die Produktion jeder Nummer eine „offene Redaktion“ einberuft. Wir treffen uns mit allen Interessierten im Circolo della rosa, unserem Veranstaltungsraum, unter Zuschaltung von weiteren Frauen und wenigen Männern aus ganz Italien, per Zoom. Wir wissen, dass die politische Praxis nicht auskommt ohne „Denken in Präsenz“ wie Chiara Zamboni es genannt hat. So findet sich auch die Redaktion der Website, welche dank des Einzugs der digitalisierten Generation schon seit 2001 existiert, jeden Donnerstag als redazione carnale (fleischliche Redaktion) zusammen. Und da online-Texte sich oft im virtuellen Raum verlieren, haben wir einen Großteil der Via Dogana Online-Beiträge eines Jahres in einem Printband zusammengefasst, Femminismo mon amour, Pratiche femministe per donne e uomini, den wir seit einigen Monaten in verschiedenen Kontexten diskutieren – immer in Präsenz, von Brixen in Südtirol über Rom und Neapel bis Catania… Dabei lebt auch die alte „Praxis der Gastfreundschaft“ wieder auf, und manch eine durch die Coronazeit unterbrochene Beziehung wird wiederbelebt und intensiviert, andere entstehen neu. Eine zu unserer Online-Redaktion parallele Redaktion hat sich zusammengefunden, um anlässlich dieses Jubiläumsjahrs drei Print-Sondernummern Via Dogana Speciale zu veröffentlichen.

Heute messen wir unsere politische Praxis an einer völlig veränderten Realität, eine echte Herausforderung! Gerade der Austausch mit den jüngeren Frauen macht uns das deutlich. Sie sind neugierig auf die feministischen Praktiken wie autocoscienza, Von-sich-Selbst-ausgehen, duale Beziehungen…

Gruppenfoto vor der Libreria im Februar 2025. | Foto Traudel Sattler

Als vor etwa drei Jahren eine kleine Gruppe von 20- 25Jährigen in die Redaktion der Via Dogana 3 einstieg, fragten wir sie nach den Themen, die ihnen am meisten am Herzen lagen, und sie sagten spontan: Körper, weibliche Lust, Stärke der Frauen, Selbsterfahrung… Die Themen kamen uns sehr bekannt vor, doch nun sind sie angesichts von body shaming, tradwives, Netzfeminismus, neoliberalen Freiheitskonzepten, postpatriarchaler Männergewalt und Krise der Politik in einem interessanten Dialog neu durchzudeklinieren.

So ist es für mich sehr spannend, mich mit einer jungen Frau auszutauschen, die schon mit elf Jahren auf Facebook war und alle Konsequenzen davon in ihrem Körper und ihrer Seele eingeschrieben findet: Sie öffnet mir ein Fenster auf die Gegenwart, und für sie öffnet sich ein neuer Horizont, wenn wir sagen: Was du hier schreibst, ist nicht zu autoreferentiell, wie du meinst, diese Form des Zur-Sprache-Bringens deiner Erfahrung ist schon Politik, wie Carla Lonzi sagte „È già politica“.

Auch Männer sind zur Mitarbeit aufgefordert (Lia Cigarini: „Wie soll ein Kulturwandel ohne das Zutun von Männern zustande kommen?“); einige haben sich von der Praxis der Frauen inspirieren lassen und beteiligen sich aktiv – Männer, die anerkennen, dass sie nicht das universale Subjekt sind, Männer, die besorgt sind über die Krise der Demokratie, Männer, die Gewalt gegen Frauen als Männerproblem sehen und sich über Männlichkeit und Krieg befragen …

Junge Frauen finden den ersten Kontakt zu uns oft über Facebook oder Instagram. Wenn dann eine von ihnen zum ersten Mal die Ladentür aufmacht, so wie ich damals, heute aber in Via Calvi 29, so findet sie neben den Büchern –  jetzt in einem rauchfreien, mit bequemen Sesseln und Sofas und mit allen digitalen Instrumenten ausgestatteten „salotto“ – wieder Frauen aller Altersklassen (die Älteste ist 90, die Jüngste 20), die ihre politische Leidenschaft hier hineintragen und potenziert wieder hinaustragen, oder vielleicht erst hier entdecken. Und auch sie kann sagen: Da will ich mitmachen!

Weiterführende Links:

Das Sonderprogramm für das 50. Jubiläum findet sich auf der Homepage

Einen kurzen Einblick in den Alltag der Libreria bietet ein Rundfunkbeitrag von Elisa Göppert und Hanna Kopp vom 4. Juni 2024

Ein schon etwas älteres Video einer Initiative zur Dokumentation der Mailänder Stadtgeschichte (Italienisch mit engl. Untertiteln) Libreria delle

Autorin: Traudel Sattler
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 23.02.2025

Kommentare zu diesem Beitrag

  • Juliane sagt:

    Danke für diesen Rückblick, der die Entwicklung des feministischen Differenzdenkens der Italienerinnen so gut zusammenfasst.

  • Dorothee Markert sagt:

    Danke für diesen Artikel, der einfach nur Freude macht, liebe Traudel und liebe Antje (von der die Anregung kam). Eine wirkliche Fest-Schrift! Herzlichen Glückwunsch zum Jubiläum!

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