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LIEBE NEU GEDACHT – DIE ALTE MINNE DER MYSTIKERIN HADEWIJCH, Teil I

Von Heike Schmitz

In einer vierteiligen Serie führt uns Heike Schmitz in das Werk der mittelalterlichen Mystikerin Hadewijch ein und fordert uns auf, mit ihr das verschwundene Wort “Minne” wieder in den Mund zu nehmen.

Teil I

Die Beginen, ihre höllische Minne und die Geburt des Kapitalismus

Seien Sie eingeladen, mit mir heute mal ein Wort in den Mund zu nehmen, das wir nicht mehr verwenden. Minne heißt es, einen poetischen weichen Klang hat es. “Minne es al“, die Minne sei alles, schreibt Hadewijch. Ziemlich viel, wenn ein Wort fort ist, das für “alles” stand. Uns bleiben Bruchstücke von Erinnerung an dieses Wort: ein Sänger, eine besungene Dame, die Minne – “hohe” und “niedere” Minne? Was war das noch? Zunächst war es ein juristischer Begriff, bloß wissen wir nichts mehr davon. Auch wie es dann auf das Feld der Liebe und des Erotischen gelangt sein mag. Vom Wanderpoeten Walther von der Vogelweide mit seiner Vagantenpoesie, fast ein Zeitgenosse Hadwijchs im deutschsprachigen Raum, hallt es nur noch von Ferne nach. An den Höfen, wo er auftrat, wurde der Minnesang allmählich vom Herzstück höfischer Erziehung zur “gehobenen Schlagerkultur”. Und während die Männer in fernen Ländern als Kreuzzügler kämpften, unterhielt man daheim ein weibliches Publikum damit. Schon zu Walthers Zeiten kamen frivole Parodien auf die Liebeslieder auf, wurde Minne ins Grobe und Derbe gezogen, und Walther besang mit seiner “Schäferpoesie” die Minne eines hohen Herrn zu einem niedergestellten Mädchen, was uns heute nicht mehr so arglos klingen dürfte. 

Einstige Verbreitung der Beginenhöfe in der heutigen BRD

Und da tauchen Anfang des 13. Jahrhunderts nicht nur in Flandern Frauen auf, die Minne sagen, die Minne meinen, dem Wort ein eigenes spirituelles Gewicht verleihen, ein Wort für alles, was in ihnen leibt und lebt – die Beginen. Was sie mit Minne meinten, ist uns verloren gegangen. Goethe schreibt einmal, dass der Geist ein Wort vernichten oder es dergestalt umwandeln könne, dass von seiner früheren Bedeutung nichts mehr übrig bleibe. Was die Minne angeht, lässt sich leicht ein derbes Gelächter vorstellen, das aus dem Spirituellen etwas ziemlich Fleischliches machen möchte. Doch es dürfte bei diesem Verlust um mehr gegangen sein. Verschwunden jedenfalls ist es aus unserer Sprache. Und die Brüder Grimm finden für diese letzte Tilgung einen ganz handwerklichen Eintrag von einem Drucker aus dem Jahre 1512, der eine Änderung, die er in einem ihm vorliegenden Text vornimmt, wie folgt rechtfertigt: 

“weil das wort minn in etlichen sprachen nit mer rechte, göttliche, eerbere und zimliche, sonder tierliche, vichische, uneerbere und unzimliche minn anzaigt, so hab ich buchdrucker (ergernus und unrain gedenk und bösz zufäll zu vermeiden) für das wort minn gesetzt das wort lieb”.

Da hat er also einen Eingriff vorgenommen wie jene Wächter bei Twitter, die “hate-speech” oder falsche Nachrede verhindern wollen, und hat Minne durch das Wort Liebe ersetzt. Auch in Hadewijchs niederländisch-flämischen Sprachraum wurde das Wort minne durch liefde abgelöst, es blieb aber eine alte Bedeutung, die es einst auch im Deutschen hatte, wo man ‘eine Sache in die Minne schicken’ konnte und damit meinte, einen Streit zu schlichten oder sich gütlich zu einigen. Aber das Unerhörte der Minne jener Beginen verbrannte wohl auch auf den Scheiterhaufen der Inquisition. Der Geist, der das Wort vernichtete, muss ein Widersacher des Geistes der Beginen gewesen sein, wie Hadewijch eine war. 

Eins sei vorausgeschickt, gleichsam wie eine Provokation, die es damals schon gewesen sein muss: Hadewijch gibt der Minne sieben Namen. Die ersten sechs lauten: Band, Licht, Kohle, Feuer, Tau, lebender Quell. Und dann folgt der siebte, den sie den höchsten Namen der Minne nennt und der aus dem Repertoire traditioneller Bezeichnungen herausfällt – er lautet: Hölle. Die Liebe eine Hölle? Was soll das heißen? Wie sich herantasten an diesen fernen Sinn der Minne? Wir mit unserer besänftigten Liebe und ihren romantischen Untergründen, in denen ein Heilsversprechen mitschwingt, selbst wenn wir daran nicht mehr so recht zu glauben vermögen. “Ah, das Love-Ding!” ruft die Lyrikerin Monika Rinck aus und lässt Skepsis anklingen. Wir mit unseren ‘Dating-Portalen’, versuchter ‘Coolness’ neben altmodischen Sehnsüchten, mit unserer Individualität und Autonomie und all den sich so ergebenden Widersprüchen unseres Begehrens. Was können wir mit solch einer fernen Minne namens Hölle anfangen? Wie sich lösen von einem Liebesbegriff, der die Beziehung zwischen Mann und Frau assoziiert und nicht zu einem Göttlichen. Es war in etwa zu Hadewijchs Lebenszeit, als auf dem Schachbrett die Figur der Dame erfunden und zur stärksten Figur wurde – und das Spiel zum Krieg der Geschlechter. Hadewijchs Minne meint solchen Krieg nicht. Doch der Geist, der das Wort Minne vernichtete, dürfte seine ihm gemäße Ordnung der Geschlechter im Sinn gehabt haben.

Collage mit Quintin Massys: Die Steuereintreiber (um 1525)

Vor ein paar Jahren hat die Historikerin Annette Kehnel mit ihrem Buch “Wir konnten auch anders” den Versuch unternommen, im Mittelalter nach Formen des Wirtschaftens zu suchen, die wir heute als nachhaltig bezeichnen würden. Um sie zu erkennen, gilt es sich von den Blindheiten des Fortschrittsgedankens etwas zu lösen. Sie berichtet vom Teilen, Kooperieren, Wiederverwerten, von Formen des Mikrokredites, vom Spenden und Stiften, von nachhaltiger Bodenseefischerei uvm. – und von den Beginen und ihren Höfen. Den Blick, den sie auf deren außergewöhnliche Lebensform wirft, möchte ich ergänzen durch einen Blick auf ihren ungewöhnlichen Geist, wie er sich in Hadewijchs Minne verkörpert. Ja verkörpert – denn ihre Schriften wirken wie geschrieben aus dem leibhaften Resonanzraum des Denkens, von dem noch zu reden sein wird. Wir leben heute in einer Zeit, in der der Geist des Fortschritts das Gebären aus dem Körper einer Frau in die Laboratorien künstlicher Befruchtung verlagert. Um so weit zu kommen, brauchte es einer langen Geschichte der Ablösung von diesem (weiblichen) Körper. Doch vielleicht können wir im Mittelalter nicht nur alte Wirtschaftsweisen neu entdecken, sondern auch verloren gegangene Weisen zu begreifen, wie Leibliches und Geistiges ineinanderwirken. Und dazu gehört – mit Hadewijch gesagt – unweigerlich: Wir Menschen sind Brauchende, Abhängige von dem, was uns Leben gibt. Wie sich heute in dieser Krise des Planeten Erde wieder an diese Tatsache herantasten? Offenbar fällt es uns äußerst schwer, dementsprechend zu leben, zu denken, zu handeln. So möchte ich hiermit der Vermutung nachgehen, Hadewijchs Minne namens Hölle barg schon damals ein Wissen darum, wie schwer es uns fällt, Brauchende zu sein und nicht im Griff zu haben, was uns Leben gibt.

Bei der italienischen Philosophin Luisa Muraro, die die Schriften der Beginen eine “Theologie in Muttersprache” nennt, ist zu lesen, Hegel habe im 19. Jahrhundert eine Entscheidung getroffen, nämlich “der Dialektik der Liebe diejenige der Anerkennung vorzuziehen, die von einem Mann im Kampf mit einem anderen erworben wird (die berühmte Herr-Knecht-Dialektik), denn, so sagte der Philosoph, der Liebe fehle es an Kraft, an Geduld und an Arbeit am Negativen.” Auch Hegel hat hier offenbar ein romantisches Konzept der Liebe im Sinn. Hadewijchs Minne, deren höchster Name Hölle ist, weiß sehr wohl von einer ihr eigenen Weise der Arbeit am Negativen. Hegel kennt sie nicht. 

So haben wir unser eigenes Gepäck an Prägendem und Widrigem in der Geistesgeschichte, an Haltungen und Diskursen der Gegenwart aufgeschnallt. Nehmen wir es wie eine Geistes-Reise, um 800 Jahre zurück, in ein Herzogtum namens Brabant, das es nicht mehr gibt, nach Flandern also, ins heutige Belgien, in die ersten Jahrzehnte des 13. Jahrhunderts, zu einer Frau namens Hadewijch, deren Lebensgeschichte nur aus Mutmaßungen zusammengesetzt werden kann. Was wirkt wie eine Reise in ein fernes, fremdes Land ist zugleich die Rückkehr an den Ursprungsort dessen, was über die Jahrhunderte und bis heute von enormem Einfluss auf unser Leben war und ist: Des Kapitalismus. Hadewijch lebte im Zentrum dieses Geschehens – “The Birth of Capitalism” so der Titel einer Ausstellung in Belgien im Jahr 2016 über das “Goldene Zeitalter Flanderns”, wo sich eine neue Welt, ein neuer Markt entwickelte, und damit auch ein neues städtisches Individuum mit seinem Selbstverständnis und seinen Handlungsmöglichkeiten. Das Buch zu der Ausstellung beginnt mit einer Art “Gedicht” der beiden Kuratoren Katharina van Cauteren und Fernand Huts:

In Flandern the new man awakens

He stands, creates, explores

He searches for his place

And invents himself

He trades and makes money

New money, gold money

And the new man discovers sin

He dances and drinks

He dices and whores

His world wild and wide

The soul seized with cramp from time

To time

‘Kneel and be pious, tho new man!’

Go deep through the dust towards grace

And he dies and lives on

Unfurled, unfettered, unstoppable

New man, awake in Flanders

His spirit moves in you and me

Bis zum Ende des 13. Jahrhunderts wurden in Flandern und Brabant die Grundlagen der kapitalistischen Entwicklung gelegt und gefestigt. Alle wichtigen Institutionen im Bereich des Marktes, der Justiz, des freien Handels wurden geschaffen, darunter die garantierten Freiheiten der Bürger, Aktivitäten zu entwickeln, zu handeln, Wohlstand zu erwerben, Kapital zu akkumulieren und in profitable Projekte zu investieren. Eine Urbanisierungswelle setzte ein, und in den neuen Städten taten sich Frauen auf nie gekannte Weise zusammen, wussten den Umbruch für sich zu nutzen und entwickelten ein neues Selbstverständnis. Weder wollten sie heiraten, noch waren sie bereit, ihr Leben in den Mauern eines Klosters zu verbringen. Unter ihnen waren Mittellose wie Wohlhabende, die Vermögen einbrachten, um sich durch den Bau eigener, oft um einen grünen Innenhof angelegter Stadtteile, eine neue Lebensform zu ermöglichen: Beginenhöfe. 26 davon sind im heutigen Belgien als Unesco-Weltkulturerbe ausgewiesen, entstanden in Hadewijchs Jahrhundert. Es sind auch heute noch lebenswerte Stadtviertel, die oft um einen grünen Platz angesiedelt sind. Kehnel nennt sie eine mittelalterliche Form des “urban gardening” und bezeichnet den Zusammenschluss der Beginen als “Ermöglichungsgemeinschaften“, denn erst durch diese wurde für die einzelnen Frauen die Grundlage für ihr neues, selbstbestimmtes und tätiges Leben gelegt. “Cities of Ladies” nennt sie der Historiker Walter Simon. Die Beginen erwiesen sich als flexibel, sie passten ihre Gemeinschaftsordnungen den jeweiligen Umständen an. Viele von ihnen arbeiteten im Bereich der Textilherstellung, später auch in der Krankenpflege. Darüber hinaus wirkten sie in die Städte hinein, gestalteten das kommunale Leben mit, waren voll geschäftsfähig im Rahmen der städtischen Ordnung, agierten als Stifterinnen, Kreditgeberinnen, machten Geschäfte auf den städtischen Finanzmärkten. Jede Begine musste sich selbst ernähren, konnten aber auf den Rückhalt der Gemeinschaft zählen, was sie in ihrem Handeln stärkte. 

Woher der Name “Begine” kommt, ist nach wie vor unklar. Auch als “mulieres religiosae“, also “religiöse Frauen”, erscheinen sie in den Schriften jener Zeit. Die Gesellschaft hat sie auch skeptisch beäugt, Zweifel an ihrer ‘Rechtgläubigkeit’ gehegt, an ihrer Lebensweise, die aus der bisher bekannten Ordnung herausfiel. Es hat neue geistige Kräfte freigesetzt, ein Bedürfnis, das Neue nicht nur in Gestalt ihrer Höfe, sondern auch in ihren Schriften in die Welt zu setzen. ‘Zur Welt kommen – zur Sprache kommen’, heißt es bei Ingeborg Bachmann. Mit den schreibenden Beginen bekommt diese Formulierung nochmal ein eigenes Gewicht, denn hier entsteht eine einzigartige Literatur, mit der sie ihre eigenen spirituellen Wege gehen und ihrem neuen Leben eine geistige Grundlage geben. Was da heranwuchs, dürfte für gesellschaftliche wie kirchliche Autoritäten nicht gleich und nicht leicht erkennbar gewesen sein. Irritierend, wie sie sich muttersprachlich einmischten in spirituelle Fragen, sprachlich einen Reichtum von Empfindungen entfalten, wie ihn der auf Latein schreibende Klerus nicht zum Ausdruck bringen konnte. Im praktischen Sinne unterstützten kirchliche Vertreter, darunter auch Bischöfe, die Beginen. Aber sich einzumischen in theologische und spirituelle Fragen, in den Zuständigkeitsbereich des Klerus also, das wurde letztlich nicht toleriert. Anfeindungen, Rechtfertigungsdruck, Verbote kennt auch Hadewijch, wie beispielsweise in diesem Brief erwähnt, nachdem sie ihrer Briefpartnerin zunächst eine Empfehlung gibt:

“(….) zu allem Guten bereit und prompt zu sein, und: gegenüber nichts und niemandem versagen, und: aller Not von Herzen beizustehen. Das scheint doch das vollkommenste Leben, welches man auf Erden führen kann. Du hast doch immer wieder gehört, wie ich es ständig über alles empfohlen habe. Und ich habe dieses Leben ja selbst radikal geführt: Ich diente darin und arbeitete ganz vorbildlich bis zu dem Tag, als es mir verboten wurde.”

***

Nächste Woche geht unsere Serie weiter mit Teil II:

In Minne reifen – die Freiheit der Brauchenden schmecken

LITERATURHINWEISE:

Die Texte Hadewijchs:

Hadewijch: Lieder – Originaltext, Kommentar, Übersetzung und Melodien, hg. von Veerle Fraeters, Frank Willaert und Louis Peter Grijp, De Gruyter: Berlin/Boston 2016.

Hadewijch: Das Buch der Visionen – Text, hg. von Gerald Hofmann, frommann-holzboog: Stuttgart-Bad Cannstatt 1998.

Hadewijch: Buch der Briefe, hg. von Gerald Hofmann, EOS Verlag: St. Ottilien 2010.

Hadewijchs Lieder online:

https://www.uantwerpen.be/en/research-groups/ruusbroec-institute/library/digital-publications/hadewijch-songs

Weiterführende Lektüre:

van Cauteren, Katharina und Huts, Fernand: The Birth of Capitalism – The Golden Age of Flanders, Lannoo: Tielt 2016.

Illouz, Eva: Warum Liebe weht tut, Suhrkamp: Berlin 2011.

Kehnel, Annette: Wir konnten auch anders – Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit, Blessing: München 2021.

Paul Marchal: Die Beginen – Im europäischen Vergleich, v. Hase & Koehler, Weilerswist-Metternich 2020.

Muraro, Luisa: Der Gott der Frauen, Frank & Timme: Berlin 2009.

Rühmkorf, Peter: Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1975.

Autorin: Heike Schmitz
Redakteurin: Jutta Pivečka
Eingestellt am: 30.01.2025
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