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Geschlechtsbezogene Gewalt

Von Marita Blauth

Bzw-Autorin Marita Blauth hat viele Jahre lang in der TuBFFrauen*beratung Bonn gearbeitet. Seit eineinhalb Jahren ist sie im Ruhestand und hat in der Zeit über ihre Erfahrungen ein Buch geschrieben: “Anpassung Widerstand Anarchie. Denkwürdiges aus einer Frauen*Beratungsstelle” (22,99 Euro, 164 Seiten). Besonders am Herzen liegt ihr das Kapitel über geschlechtsbezogene Gewalt, weshalb sie uns freundlicherweise die Genehmigung gegeben hat, es hier im Forum zu veröffentlichen. Lesenswert ist aber das ganze Buch! (Antje Schrupp)

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„Man kann nur lieben und gerecht sein, wenn man die Macht der Gewalt kennt und fähig ist, sie nicht zu achten.“ Simone Weil

Es wurde unendlich viel demonstriert, aktiviert, aufgeklärt, getagt, geforscht und gezählt.

Das Thema geschlechtsspezifische Gewalt hat sich nicht erledigt, sondern an Brisanz zugenommen und es ist kein Tabuthema mehr. Frauenhäuser und -Beratungsstellen müssen sich nicht mehr legitimieren (was nicht bedeutet, dass sie überall ausreichend gefördert werden) und ihre Arbeit ist weitgehend anerkannt. Eine EU-Richtlinie von 2012 über „Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten“ definiert:

„Eine Straftat stellt ein Unrecht gegenüber der Gesellschaft und eine Verletzung der individuellen Rechte des Opfers dar. Die Opfer von Straftaten sollten als solche anerkannt und respektvoll, einfühlsam und professionell behandelt werden, ohne irgendeine Diskriminierung etwa aus Gründen der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters, des Geschlechts, des Ausdrucks der Geschlechtlichkeit, der Geschlechtsidentität, der sexuellen Ausrichtung, des Aufenthaltsstatus oder der Gesundheit. … Gewalt, die sich gegen eine Person aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Geschlechtsidentität oder ihres Ausdrucks der Geschlechtlichkeit richtet, oder die Personen eines bestimmten Geschlechts überproportional stark betrifft, gilt als geschlechtsbezogene Gewalt.“

Diese Definition von 2012 ist sehr umfassend. Ich frage mich jedoch nun nach Jahrzehnten bewegter Frauenpolitiken, ob in Deutschland das Thema „geschlechtsspezifische Gewalt“ (noch) eine widerständige, systemkritische feministische politische Strategie sein kann. Deutschland ratifizierte 2017 die Istanbul-Konvention, das „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen“ und wir erleben im Moment einen recht breiten partei-politischen Konsens, Frauen* „gegen Gewalt“ zu schützen.

Dieser scheinbare Konsens ist nicht gleichbedeutend damit, dass eine Person, die von geschlechtsspezifischer Gewalt berichtet, damit ernst genommen wird. Sich gegen „Gewalt gegen Frauen“ auszusprechen, ist ein sehr kleiner gemeinsamer Nenner. Er stellt noch nicht traditionelle Geschlechtsrollenbilder in Frage, noch benennt er gesellschaftliche Machtverhältnisse. Vielleicht stabilisiert er diese sogar.

Sich medienwirksam gegen „Gewalt gegen Frauen“ auszusprechen, ist nahtlos anschließbar an traditionelle Geschlechtsrollenbilder: „Eine Frau schlägt man nicht.“ Warum nicht? Schauen wir uns einen alten Kinderreim „Der Besen und die Rute“ an:

Der Besen, der Besen!
Was macht man damit?
Man kehret die Stuben
Die Rute, die Rute!
Was macht man damit?
Man klopfet die Buben
Warum nicht die Mädchen?
Das wär eine Schand´
Die folgen schon von selber
und spinnen Gewand.

Mädchen zu schlagen ist innerhalb dieser Tradition erst dann gerechtfertigt, wenn sie eigenmächtig sind und die Folgsamkeit verweigern und wenn sie die an sie gestellten Normerwartungen nicht erfüllen und aufhören, „Gewand zu spinnen“. Folgerichtig haben auch heute noch Frauen*, die durch geschlechtsspezifische Angriffe geschädigt wurden, eine größere Chance auf juristische Gerechtigkeit, wenn sie (vor Gericht) dem Bild des „Mädchens“ entsprechen, das mit Schwäche, Unschuld und Machtlosigkeit assoziiert ist.

Die Gewalt gegen die Buben

„Die fehlende Empörung über körperliche Angriffe zwischen und an Männern ist kein Zufall einer verspäteten sozialen Bewegung, sondern verweist darauf, dass die Akzeptanz und Bagatellisierung dieser Gewalt eine bedeutsame Funktion hat. […] Die eingeübte Praxis, Prügel unter Jungen als ,ganz normale‘ Rangeleien und Rangordnungskämpfe abzutun, die Gewohnheit, Mädchen und Frauen eher als Opfer zu sehen, tragen zur soziale n Praxis der Fortschreibung der traditionellen Macht- und Geschlechterordnung bei.“ (Hagemann-White 2005)

Vor allem in Berichten aus Kriegs- und Krisengebieten fällt es auf: Fast immer wird betont, wenn unter den Opfern „Frauen und Kinder“ sind. Was ist das für eine Aussage?

Bemerkenswert daran ist, dass „Frauen und Kinder“ oft wie eine Kategorie genannt werden, als gäbe es zwischen einer erwachsenen Frau* und einem Kind keinen nennenswerten Unterschied.

Wenn die Benennung des Geschlechts als Hinweis dienen sollte, dass die Opfer zivile Opfer seien, bleibt die Frage, warum sollte die Verletzung von zivilen Frauen* besonders hervorgehoben werden gegenüber der Verletzung von zivilen Männern*? Oder gelten automatisch alle Männer* als kriegsbeteiligt und alle Frauen* nicht?

Auch auf Demonstrationen gegen kriegerische Einsätze wird die Schändlichkeit von Gewaltakten besonders dadurch hervorzuheben versucht, indem „Frauen und Kinder“ als zivile Opfer benannt werden, als träfe die Verantwortlichen eine größere Schuld, wenn die Opfer weiblich sind. Als wäre ein männliches ziviles Opfer weniger schlimm und verdiene weniger Mitgefühl.

Die kanadische Feministin und Politikwissenschaftlerin Krista Hunt hat es als „embedded feminism“ bezeichnet, wenn Kriege durch feministische Bezüge legitimiert werden. Andrea Nachtigall schrieb darüber:

„Kriege (werden) mit dem Verweis auf bedrohte und zu beschützende Frauen und Kinder – als Symbol für die (eigene) Nation – begründet und geführt. Die Dämonisierung des Feindes als „Vergewaltiger“ und „Mörder“ von Frauen und Kindern fungiert als Appell und Ansporn zum Kampf für die eigenen Männer, denen es traditionell obliegt, die Nation zu verteidigen. Cynthia Enloe (1990) bezeichnet die stereotype viktimisierende Repräsentation von Frauen in Kriegskontexten auch pointiert als „womenandchildren“.

Diese FrauenundKinder-Formulierungen bedienen die Bilder, Frauen* als wehrlos und unschuldig (und nur dann schützenswert), Männer* hingegen als unverletzbare Kämpfer zu imaginieren. In dieser Polarität sind Männer* potentielle Täter und Frauen* potentielle Opfer. Diese Polarität ist weder feministisch noch realistisch.

Bisher kann Folgendes festgehalten werden:

  • Männliche Kinder und Jugendliche erleben körperliche Gewalt in der Kindheit und Jugend häufiger als Mädchen.
  • Sie erleben mehr Gewalt in Schulen und durch Gleichaltrige und mehr elterliche körperliche Züchtigung.
  • Männer erleben mehr Gewalt im öffentlichen Raum.
  • Männer erleben etwa gleich häufig wie Frauen Gewalt in engen sozialen Beziehungen, Männer mehr durch elterliche und geschwisterliche Gewalt, Frauen mehr in Paarbeziehungen.
  • Die Gewaltbelastung von Männern während der Wehrdienstzeit ist sehr hoch.
  • Frauen erleben häufiger als Männer schwere, chronische und bedrohliche körperliche Übergriffe in hetero-sexuellen Paarbeziehungen.
  • Sexuelle Gewalt wird mehr von Männern ausgeübt.
  • Männer und Frauen üben etwa gleich häufig körperliche Gewalt gegen Kinder im Rahmen der elterlichen Erziehung aus.[1]

Außerdem ist „davon auszugehen, dass Männern und Jungen in spezifischen institutionellen Zusammenhängen eher Gewalt widerfährt. Dazu gehören in verschiedenem Ausmaß Gefängnis, Krankenhaus, Psychiatrie, Heim und religiöse Gemeinschaften.“[2]

Die brasilianisch-argentinische Anthropologin Rita Segato ist überzeugt, dass es eine geschlechtsspezifische Gewalt zwischen Männern gibt und „dass die Gewalt gegen Frauen von der Gewalt zwischen Männern herrührt.“

Materielle und symbolische Realitäten

Rita Segato analysiert u.a. die systematische Ermordung von Frauen* durch Paramilitärs, wie sie unter anderem in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juarez stattfinden. Es sind die Arten von Grausamkeit, wie sie der IS oder 2023 die Hamas in Israel ausübte. Es geht ihr dabei nicht um Frauenhass, sondern sie erkennt in dieser Gewalt eine Botschaft. Es ist die Botschaft an andere Männer*, an eine andere Gruppe der Macht, an den Staat, die zur Schau stellen soll: Wir sind es, die die Macht haben, Körper eurer Comunità zu verstümmeln. Wir sind es, die euer Eigentum, eure Frauen töten können, die ihr nicht zu schützen in der Lage seid. Wir sind es, die straffrei euer Territorium überfallen und zeigen, wie grausam wir sind.

„Diese Grausamkeit hat keinen Sinn und ist nicht die des klassischen Krieges. Den größten Schrecken kann man verbreiten, wenn man extreme Gewalt an einem unschuldigen Körper vollzieht. Die Gewalt selbst ist eine Botschaft des Besitztums, der Dueñidad, die sagt, dass man fähig ist grausam zu handeln. Deshalb ist für mich der antipatriarchale Kampf der Vektor der Geschichte.“

Die Botschaft der Grausamkeit und Machtdemonstration kann nur funktionieren, wenn Angreifer und Gesellschaft die gleichen Vorstellungen von Geschlechterverhältnissen haben, diese „Sprache“ also verstehen. Rita Segato spricht von „unschuldigen“ Körpern, und kommt damit einem Phantasma nahe, das („weibliche“) Verletzbarkeit mit Unschuld gleichsetzt. In der polar gedachten Geschlechterordnung steht dem gegenüber die scheinbare Unverletzbarkeit der („männlichen“) Körper, die gewaltvoll handeln können. Täter verletzen und töten Frauenkörper*, aber sie meinen das Bild, das sie sich von Frauen* gemacht haben – und werden verstanden?

Der Nachdruck, mit dem Feminist*innen auf die geschlechtsspezifische Gewalt von Männern* aufmerksam machten, war enorm wichtig. Sie realisierten und skandalisierten ihre Alltäglichkeit und Normalität. Sie erforschten, dass diese Gewalt nicht auf ein individuelles Geschehen zwischen zwei Menschen reduziert werden kann, sondern dass sie systemisch und in Macht- und Herrschaftsverhältnisse eingebettet ist. Ich befürchte jedoch, dass das (notwendige) Insistieren auf der Realität von geschlechtsspezifischer Gewalt Geschlechterpolaritäten und -binaritäten eher festschreibt.

Was bedeutet es denn festzustellen, dass es Männer* sind, die Gewalt ausüben, und zwar gegenüber Frauen* (das ist der feministische Gegenstand) als auch gegenüber Männern*? Letzteres rückt jedoch in den feministischen Blick eher dann, wenn es um die Bestätigung der Gewaltbereitschaft von Männern* geht. In den Blick genommen wird dabei weniger, dass Männer* hier in hohem Maße Opfer sind.

Männer*, die verletzt und gedemütigt werden sind, passen in kein patriarchales Bild. Die Gewalt, die sie in Männerbünden, Institutionen und auf der Straße erleben, spiegelt kein patriarchales Bild wider. Vielmehr ist die mächtige patriarchale Botschaft: Männer sind keine Opfer!

Opfer sind Männer* in patriarchaler Lesart nur, wenn sie sich selbst opfern, indem sie andere verletzen und töten und dabei zu Helden werden (oder zumindest sagen können: „Du solltest mal den anderen sehen“), oder um männliche Opfer von weiblichen Täter*innen mit frauenverachtenden Kampfbegriffen zu instrumentalisieren.

Männer werden zu Kriegen verpflichtet, ohne das Recht, eigener Gewaltausübung oder Verletzung zu entgehen oder fliehen zu dürfen – aus der Ukraine und anderswo. Diese Bild „Männer sind keine Opfer!“ halte ich für den stärksten patriarchalen Mythos. Alle Menschen, alle Feminist*innen, sollten darauf achten, ob und wann sie diesen Mythos reproduzieren. Jede Empörung, dass („unsere“) Frauen und Kinder verletzt und getötet wurden, geben dem patriarchalen Mythos recht, verstärken ihn.

Rita Laura Segato schreibt: „Es gibt geschlechtsspezifische Gewalt innerhalb der Geschlechter, und das erste Opfer des Mandats der Männlichkeit sind die Männer selbst: verpflichtet, sich ab dem Moment, in dem sie gesellschaftlich agieren, dem korporativen Pakt zu beugen und seinen Regeln und Hierarchien zu gehorchen. Es ist die Familie, die sie darauf vorbereitet. Die Initiation zur Männlichkeit ist ein sehr brutaler Übergang. Die Gewalt wird später in die Welt zurückfließen. Viele Männer verweigern sich heute dem korporativen Pakt und zeichnen damit einen Weg vor, der die Gesellschaft verändern wird. Sie machen es vor allem für sich. Nicht für uns Frauen. Und genauso muss es sein.“

Der Sozialwissenschaftler Hans-Joachim Lenz schreibt in seinem Aufsatz „Mann oder Opfer? Jungen und Männer als Opfer von Gewalt und die kulturelle Verleugnung der männlichen Verletzbarkeit“: „Auf dem Hintergrund des Systems der Zweigeschlechtlichkeit in der männlichkeitsdominierten Gesellschaft stellt der Begriff des „männlichen Opfers“ ein kulturelles Paradox dar: Entweder gilt jemand als Opfer, oder er ist ein Mann. Beide Begriffe werden als unvereinbar gedacht.“

By the way: Das Markieren von „vulnerablen” Menschen oder Gruppen halte ich in diesem Sinne für falsch. Verletzbar sind alle Menschen, weil sie Menschen sind, weil Menschen einander brauchen und wir alle voneinander abhängig sind. Wohl gibt es Menschen oder Gruppen, die besonders gefährdet sind. Und diese Gefährdung liegt nicht an ihnen, ihrer besonderen Vulnerabilität, sondern an den Menschen und Strukturen in und bei denen sie leben (müssen). Darauf aufmerksam zu machen und bei politischen Entscheidungen zu berücksichtigen, ist notwendig.

Das rassistische Markieren von mutmaßlichen „Tätern“ z. B. nach Herkunft wäre hier die andere Seite der Medaille.

Ebenso bin ich nicht glücklich mit der Tendenz, alle Tötungen und Morde an Frauen* als Femizide zu bezeichnen. Auf Wikipedia sind verschiedene Ansätze dazu nachzulesen:

  • In der soziologischen Forschung werden Geschlechterverhältnisse bei Tötungen von Frauen* mit berücksichtigt bei der Analyse unterschiedlicher Fälle und Kontexte mit dem Ziel herauszufinden, wie der gewaltsame Tod von Frauen* verhindert werden kann.
  • Im kriminologischen Ansatz geht es um Öffentliche Gesundheitspflege. Hier werden Tötungen von Frauen* in Bezug auf Alter, Ethnie, Staatsbürgerschaft der Opfer und Grad der gesellschaftlichen Gleichstellung untersucht.
  • Menschenrechts-bezogen geht es darum, Mitgliedstaaten zu Prävention und rechtlichen Schutz zu bewegen. In diesem Diskurs wird besonders berücksichtigt, dass Taten ungestraft bleiben.
  • Der dekoloniale Ansatz analysiert Fälle von Femizid im Kontext von Kolonialherrschaft und sieht darin kein reines Gender-Thema, sondern auch eine politische Frage.
  • Lateinamerikanische und karibische feministische Bewegungen benutzen (statt Femizid) den Begriff Feminizid, um die Verantwortung des Staates bei patriarchalisch motivierten Taten in den Mittelpunkt zu rücken und die Straflosigkeit hervorzuheben. Sie haben schon 1990 ein Netzwerk gegründet und der erste internationale Vertrag gegen Gewalt gegenüber Frauen (die Konvention von Belém do Pará 1994) wurde auf diesem Kontinent verabschiedet, mehr als 15 Jahre bevor ein ähnlicher Vertrag in Europa verabschiedet wurde. Bei ihren Demonstrationen dominiert der Slogan „Ni Una Más“ („Nicht eine mehr“).
  • Eine feministische Definition von 2001: „Tötung von Frauen durch Männer, weil sie Frauen sind“.

An dieser letzten Definition gibt es schon Kritik und auch ich finde sie politisch völlig fatal. „Gewalt gegen Frauen, weil sie Frauen sind“?  Ausgeübt von „Männern, weil sie Männer sind?“ Diese Aussage erklärt nichts, sondern sie bedient ein patriarchales Bild: Männer können Frauen töten, weil sie es wollen. Als reiche es, Gewalt zu wollen, um sie ausüben zu können. Doch es gehört mehr dazu, es zu können und es zu tun – und straflos zu bleiben.

EINEN Begriff zu entwickeln, der alle Gewalt gegenüber Personen, die als Frauen* wahrgenommen werden, vereint, macht aus Frauen* wieder eine essenzielle Singularität, die eigentlich überwunden sein müsste. Gewalt, Morde und Tötungen jenseits ihrer jeweiligen Kontexte als Femizide zu beschreiben, macht mir zumindest Unbehagen.

Mich interessiert vielmehr, welche Bedingungen Gewalt erzeugen, ermöglichen, dulden, fordern, entschulden. Und dazu ist es sinnvoll, jede Gewalt geschlechtsbezogen (nicht nur auf weiblich gelesene Opfer bezogen) zu analysieren, ohne sie zu instrumentalisieren.

Ich sehe mittlerweile die große (feministische?) Herausforderung darin, wie es gelingen kann, strukturelle Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse zu benennen, ohne symbolische Geschlechtsrollenstereotype zu bedienen und damit die Verhältnisse zu nähren, die bekämpft werden müssen.

Fast scheint es mir unmöglich.

Was ist Gewalt?

Viele Feminist*innen legen großen Wert darauf, mit dem Gewaltbegriff auch strukturelle zu Gewalt erfassen. Wenn wir das tun ist es hilfreich, genauer zu unterscheiden, worüber wir sprechen.

Gewaltsituationen: Hier haben wir es mit Täter*innen und Opfern zu tun, die in einer zeitlich umgrenzten Situation Gewalt ausüben bzw. Gewalt erleiden. Egal was der Gewalthandlung vorausgegangen ist, trägt derjenige, der Gewalt ausübt, für seine Handlung die alleinige Verantwortung.

Machtverhältnisse: Hierhaben wir es mit einem komplexen, vielschichtigen System der Regelungen und Übereinkünfte des Zusammenlebens zu tun, wo Macht und Autoritäten gegenseitig geduldet, legitimiert und getragen sind. Die einfache Polarität in Opfer / Täter*n greift hier nicht, sondern es müssen differenziertere Analysen von Verantwortung Raum bekommen. Christina Thürmer Rohr schreibt dazu: „Gewalt ist keine Steigerung von Macht. Der Täter übt nicht Macht aus, sondern Gewalt. Das Opfer ist nicht Opfer von Macht, sondern von Gewalt. Wenn man von Macht spricht, ist immer ein Verhältnis mitgemeint, ein Ensemble von Agierenden und Mitagierenden, die direkt oder indirekt gemeinsam handeln und aufeinander angewiesen sind. Das Wort Macht hat in der Beschreibung sexueller Gewalt nichts zu suchen, denn Macht spricht ein Verhältnis an, das im Fall der Vergewaltigung gerade restlos aufgekündigt ist. Der Gewalttäter hat, weil er Gewalt ausübt, jede Macht verloren.“

Herrschaftsverhältnisse: Hier geht es um gewaltvoll durchgesetzte eindeutige Interessen auf der Seite der Herrschaftsausübung. Ein solches gewaltherrschaftliches System ist nicht auf die Zustimmung einer Mehrheit oder einer Interessengemeinschaft angewiesen, solange es über entsprechende Gewaltmittel verfügt.

Oder anders gesagt: Was Menschen tun, wie sie handeln, ob sie letztlich zuschlagen, verletzen, schießen, auf den todbringenden Knopf drücken – oder eben nicht, haben sie alleine zu verantworten. Die Strukturen, die solches Handeln fordern, ermöglichen, schützen, tolerieren, haben wir alle zu verantworten.

Ich fand es erhellend, wie sich Jan PhilippReemtsma dem Thema Gewalt nähert. Er unterscheidet verschiedene Gewaltarten:

1. loszierende Gewalt. Hier ist der Körper verfügbare Masse, Hindernis oder Werkzeug, vorzustellen bei militärischer oder krimineller Gewalt. Es herrscht eher ein Desinteresse am Körper selbst.

2. raptive Gewalt. Hier geht es um den Körper, darum, ihn zu benutzen, um sexuelle und sexualisierte Gewalt.

3. autotelische Gewalt. Hier geht es um Gewalt an sich, um reinen Selbstzweck. Beschädigung / Zerstörung des Körpers, um Folter, um brachiales Interesse am Körper, um Reduktion auf den Körper, um allergrößte Machtdemonstration – über Leben und Tod.

Natürlich gibt es Überschneidungen, vor allem in Kriegen, wo wir alle Formen finden können. Besonders was er zur autotelischen Gewalt schreibt, finde ich bedeutsam: Sie ziele auf die Zerstörung der Integrität des Körpers. Es sei die Gewalt, „die uns am meisten verstört, die sich dem Verständnis, auch den Erklärungen weitestgehend zu entziehen scheint. …Unsere Kultur hat gravierende Probleme, mit dem Phänomen der autotelischen Gewalt umzugehen… weshalb wir sie, auch theoretisch, nicht wahrzunehmen versuchen. Sie hat – bei uns – keinen kulturellen Ort.“

So scheint es außer Entsetzen und dem großen Fragezeichen, wie so etwas in unserer Zeit noch geschehen könne, keinen ernsthaften Umgang damit zu geben. Reemtsma nennt das „verrätseln“ und meint damit, Offensichtliches nicht wahrnehmen zu wollen. Für ihn ist offensichtlich:

  • Menschen haben die Fähigkeit zu Grausamkeit und Vernichtung anderer Menschen.
  • Wenn Orte oder Zeiträume geschaffen werden, wo es erlaubt ist, Gewalt um der Gewalt willen (autotelische Gewalt) auszuüben, geschieht das auch.

Ja, sie geschieht. Heute.

Das Patriarchat?

Die ersehnte Veränderung, die (weltweite) Reduzierung geschlechtsspezifischer Gewalt ist vielleicht deshalb nicht nachhaltig gelungen, weil es dabei um strukturelle Veränderungen gehen müsste, die mehr in den Blick nehmen als das Geschlechterverhältnis. Strukturelle Veränderungen, die über die notwendige Bereitstellung von Unterstützungsangeboten für Frauen* und wichtige gesetzliche Regelungen hinausgehen. Strukturelle Veränderungen, die die Verwobenheit von geschlechtsspezifischer Gewalt mit anderen Gewalt- und Ausbeutungsverhältnissen mitdenken, ohne diese in ihrer Unterschiedlichkeit zu nivellieren.

Damit meine ich z. B. ein ökonomisches Nord/Süd-West/Ost-Gefälle,dieLandnahme transnationaler Konzerne im Süden, Privatisierung und Ressourcenaneignung öffentlicher Güter, Exportfreihandelszonen, häusliche Dienstleistungs-Ausbeutungsverhältnisse, eine Dominanz westlicher Finanzagenturen, koloniale Erbschaften und neokoloniale Strukturen, rassistische, homophobe, trans*phobe und klassenspezifische Ausgrenzungen.

Es gibt also Gewaltverhältnisse, in die jede:r verstrickt ist, weil es ökonomische und wirtschaftliche Strukturen sind, die wir mittragen, weil wir in ihnen leben. Und die Trennlinie verläuft dann mitunter nicht mehr so sauber zwischen den Geschlechtern, sondern mitten durch unseren Alltag und unsere Herzen.

Der feministische Ansatz (und akademische Diskurs) zu „Intersektionalität“ möchte genau das berücksichtigen. Intersektionalität verstehe ich so, dass Menschen auf mehreren Ebenen von Diskriminierungen betroffen sein können und dass sie auch gleichzeitig Diskriminierungen ausüben oder davon profitieren können. Dabei sollen sowohl komplexe Zusammenhänge als auch historische Hintergründe wahrgenommen und analysiert werden.

Dies ist ein anspruchsvoller politischer Ansatz, und seine praktische Umsetzung erfordert von Menschen ein hohes Maß an Ambiguitätstoleranz, d. h. der Fähigkeit, Mehrdeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten aushalten zu können. Diese Fähigkeit hilft uns, auch in unsicheren und irritierenden Situationen mit anderen Menschen offen, freundlich und handlungsfähig zu bleiben. Sie hilft, sich selbst und anderen gegenüber tolerant zu sein, Fehler nicht zu fürchten und sich nicht von einfachen Antworten und der Vorstellung, „auf der richtigen Seite“ zu stehen, verführen zu lassen.

Oriel Feldman Hall, eine us-amerikanische Psychologieprofessorin, forscht zu Ambiguitätstoleranz und stellt fest, dass Menschen, die fähig sind, Ambiguität zu tolerieren, eher anderen ihr Vertrauen schenken und kooperativ sind. Ich finde, das macht Sinn und ist auch deshalb interessant, weil ich es für einen wesentlichen Faktor der Resilienz halte, nicht nur eine Seite der Realität wahrzunehmen. Durch globale Medien sind wir mit vielen Nachrichten von Gefahren, Krisen- und Kriegsgebieten konfrontiert. Wir befinden uns in einer Situation von Zeug*innenschaft. Das Wissen um die Gewalt, die damit verbunden ist und von der wir Teil sein können, erschüttert uns. Wollen wir weiter auch politisch handlungsfähig bleiben, brauchen wir die Fähigkeit, auch die Widerständigkeiten, Schönheiten, die guten Orte und den Zauber des Lebens wahrzunehmen, ohne die anderen Realitäten leugnen zu müssen. Es ist so wie ein Jonglieren, gleichzeitig mit den Themen zu spielen, für die es keine Lösung gibt außer der, in Bewegung zu bleiben.

Aaron Antonovsky hat in seiner Arbeit zu Gesundheit und Wohlbefinden („Salutogenese“) hervorgehoben, dass wir folgendes brauchen, damit es uns gut geht:

das Gefühl, die Welt zu verstehen
das Gefühl, das eigene Leben handhabbar zu bewältigen
das Gefühl bedeutsam zu sein und Sinn im Leben zu finden.

Alle drei Faktoren sind aktuell bei vielen Menschen erschüttert.

Um die Welt zu verstehen ist es oft sinnvoll, die jeweiligen Hintergründe und Zusammenhänge mit in den Blick zu nehmen, also die Kontexte zu berücksichtigen, bevor wir urteilen. Bei Gewalt und vor allem bei Kriegen geht diese Fähigkeit oft verloren; dann steht jeder kontextuelle Hinweis im Verdacht der Relativierung. Die Notwendigkeit, Kontexte mitzudenken kann Menschen überfordern. Je größer unsere Welt wird, d.h. je mehr wir erfahren können und uns bewusst machen können, was alles auf der Welt geschieht, desto schwerer kann es sich anfühlen, uns in den Komplexitäten irgendwie zu verorten, zu verbinden und zu verbünden, ohne einfachen Antworten aufzusitzen.

Vielleicht bietet auch der Bezug auf „das Patriarchat“ keine oder zu einfache Lösungen an?

Es ist verführerisch zu denken, in einer Demokratie könnten wir gewaltfrei leben, weil der Staat das Gewaltmonopol hat. Dabei war die staatliche Gewalt der wesentliche Anlass, die Menschen- und Bürgerrechte zu formulieren, also einen gewissen Grad an Schutzrechten vor staatlicher Willkür zu etablieren. Die Gewalt jedoch, wie sie in unseren Institutionen stattfindet, in Kirche, Polizei, Militär, Justiz, Sport, Heimen, Familien, bleibt oft unsichtbar, weil sie zwischen legalisierter (verrechtlichter) und illegitimer (willkürlicher) Gewaltausübung changiert. In den letzten Jahren sind einige dieser Gewaltverhältnisse öffentlich geworden. Feminist*innen haben in ihrem Engagement gesellschaftliche Sensibilisierungen erreicht. Der schnelle Kuss auf den Mund einer siegenden Sportlerin durch den Verbandschef wäre ohne eine sensibilisierte Öffentlichkeit nicht als grenzverletzendes Verhalten wahrgenommen worden, sondern weiterhin als Normalität geduldet.

Mein Anliegen, dem Mythos „Männer sind keine Opfer“ zu widersprechen, soll keine Verantwortungen verschieben. Die Gewalt gegen Männer* wird mehrheitlich von Männern* ausgeübt. Wenn aber der Versuch, geschlechtsspezifische Gewalt zu reduzieren, sich auf die Gewalt gegenüber Frauen* begrenzt, kann der patriarchalen Logik kein Einhalt geboten werden.

Allerdings kann es nicht primäre Aufgabe von Frauen* sein, sich der vergeschlechtlichten Gewalt von Männern* gegenüber Männern* zuzuwenden. Diesen Job müssen Männer* selbst übernehmen. Und damit meine ich nicht, Frauen*hilfestrukturen wir z. B. Frauen*häuser einfach auf Männer* zu übertragen und „Männerhäuser“ zu etablieren, sondern sich schon die Mühe zu machen, eigene geschlechtsspezifische Angebote zu entwickeln, sich politisch und persönlich für andere Männer*bilder einzusetzen und Formen der Vermittlung zu finden. Dies könnte ein Weg dahin sein, dass Männer* Verantwortung für ihre gewalttätigen Handlungen übernehmen. Dies böte auch die Chance,  dass sich Männer* nicht über Sexismus gegenüber Frauen* selbst stabilisieren und dass die Dynamiken von Kriegen in Frage gestellt würden.

Was also tun?

Damit rechnen, dass wir Gewalt erleben und ausüben können. Anerkennen, dass die Fähigkeit zur Gewalt und die Verletzbarkeit zu unserer menschlichen Existenz gehören.

Individuell könnte das bedeuten: Wenn wir nicht verletzt werden wollen, können wir uns nicht gut einlassen auf andere Menschen. Gesellschaftlich könnte das bedeuten, dafür Sorge zu tragen, vor Verletzungen zu schützen.

Sich zu vergegenwärtigen, dass wir alle verletzlich sind, könnte uns sensibler füreinander machen und das Herz öffnen für Mitgefühl, könnte Verbindungen schaffen und Nähe herstellen zwischen ganz unterschiedlichen Menschen, könnte unsere Fähigkeit zum Trösten ausbilden. Es könnte helfen, die individuelle Scham zu reduzieren und Menschen mutiger zu machen, ihre Verletzungen zu offenbaren. Es könnte uns freundlicher mit uns selbst und mit anderen machen, wenn wir Leid verursachen und uns ermöglichen, Verantwortung dafür zu übernehmen, ohne uns hinter Schuld- und Schamgefühlen zu verbergen. Wir könnten Leid anerkennen, ohne es zu verherrlichen und Leid vermeiden, ohne es zu negieren.

Es könnte unseren Blick füreinander schärfen, es könnte Glaubwürdigkeit von Berichten über Gewalt erhöhen, es könnte uns aufmerksam und mutig machen und weniger verführbar, die Welt und die Menschen in gut und böse aufzuteilen. Wir hätten vielleicht mehr innere Kapazitäten, Spannungen auszuhalten und müssten weniger Anteile in uns selbst abspalten oder auf andere projizieren. Vielleicht wären wir weniger verführbar für einfache Versprechungen narzisstischer Politiker*innen. Auch Männer* dürften vor Kriegen flüchten.

Da es keinen per Definition sicheren Ort gibt, braucht es immer aufmerksame und mutige Menschen, die sich für ein menschenwürdiges Zusammenleben einsetzen.

Wir könnten über andere ökonomische Modelle, über alternative Lebens-, Arbeits-, und Kindererziehungsmodelle, über Nachbarschaftsstrukturen, über Räume sozialen solidarischen Lebens, über gesellschaftliche Gerechtigkeit und Teilhabe, über den Wert von Freund*innenschaften,  über lustvolle Sexualität und sexuelle Selbstbestimmung sprechen.

Die Ehe- und Familiengesetze wären als Hilfsinstrumente männlicher Gewalt zu hinterfragen.

Es braucht vor allem herrschaftsfreie Räume, in denen Menschen das geschlechtsoffene Miteinander und das bessere Leben für alle zum Thema machen können.

Auf (partei-) politischer Ebene Friedens- und Diplomatiefähigkeiten nicht verloren zu geben, sondern einzuüben wäre ein weiterer Baustein dafür, geschlechtsspezifischer Gewalt den Boden zu entziehen.

Also: „Wir müssen reden!“


[1] Monika Schröttle: Kritische Anmerkungen zur These der Gendersymmetrie bei Gewalt in Paarbeziehungen https://elibrary.utb.de/doi/pdf/10.3224/gender.v2i1.10

[2]https://www.bmfsfj.de/resource/blob/84664/d5410d1a3bcf2a015cc800331beed6d1/maennerstudie-kurzfassung-gewalt-data.pdf

Autorin: Marita Blauth
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 02.01.2025
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