Forum für Philosophie und Politik
Von Bettina Bremer
Sieben verkleidete junge Männer ziehen in der Dunkelheit der einbrechenden Nacht durch die Straßen von Borkum, machen Krach – und schlagen junge Frauen mit Kuhhörnern. So sehr, dass manche Frauen von schmerzhaften Prellungen und Blutergüssen berichten. Und alle schauen zu bei der Frauenjagd beim Klaasohm-Fest – veranstaltet vom »Verein Borkumer Jungens«. Und erklären, das sei eben Tradition, ein aufregendes Spektakel[1] und stärke den Zusammenhalt der Insulanerinnen und Insulaner. Damit wüchsen hier schon die Kinder auf.[2] Doch wie kann das sein, dass das Schlagen von Frauen – und sei es nur in einer Nacht – den Gemeinschaftssinn stärkt? Betroffene schweigen, nur wenige Frauen sprechen anonym von ihren Erfahrungen, weil sie negative Konsequenzen für sich und ihre Familie befürchten. Auch ein ehemaliger Klaasohm hat Angst vor einem »Borkumverbot« und zeigt daher sein Gesicht nicht. Er sei damals wie im Rausch gewesen und habe, so fest er konnte, zugeschlagen, erzählt er in der Panorama-Recherche, die vor einigen Tagen über den Brauch berichtete[3] – über den auf der ostfriesischen Insel nicht gern mit Fremden gesprochen wird.
Zum Abschluss des Umzugs müssen die Klaasohme eine Mutprobe bestehen: Sie springen von der Litfasssäule in die Menge; Foto: Wikimedia Commons, G. Meyer, 5./6.11.1999, gemeinfrei
Selbstverständlich ist die Gewalt, die da an Frauen verübt wird, zu verurteilen. Und es lässt sich an diesem Brauchtums-Geschehen beispielhaft noch etwas anderes zeigen: Wie auf die Entwertung weiblicher Schöpfungsmacht – in vielen Schöpfungsmythologien ist es eine weibliche Kraft, die alles erschaffen hat – die gesellschaftliche Missachtung von Frauen folgt, sodass es sogar in Ordnung scheint, wenn Frauen körperlich »gezüchtigt« werden.
Mit einer alten Tradition steht dieses frauenfeindliche Treiben wohl wirklich in Beziehung, denn die prügelnden jungen Männer ziehen in der Nacht vom 5. auf den 6. Dezember durch Borkum. Es geht also um einen Nikolausbrauch. Und das macht Sinn, denn der heilige Nikolaus ist der Patron der Fischer und Seeleute und daher bis heute der wichtigste Heilige auf den Wattenmeerinseln – auch auf den niederländischen, wie z.B. auf Ameland.
Wer mehr über den dortigen ähnlich heftigen Brauch mit dem Sunneklaas erfahren möchte, hier geht es zum Blog-Beitrag von Imma Luise Harms: »Sunneklaas – it’s a man’s world!«.[4]
Auch andernorts werden im Dezember-Brauchtum Schläge ausgeteilt, so im thüringischen Schnett zur Hullefraansnacht, wo von den Hullefraan auf den Straßen, in Privathäusern und in Gaststätten Frauen und Männern drei leichte Streiche mit der Lebensrute verabreicht werden, die Glück, Gesundheit und Fruchtbarkeit bringen sollen. Doch hier gehört der Brauch in die Zeit der Rauhnächte um den Jahreswechsel und wird zwar auch mit viel Getöse, aber ohne Gewalt ausgeübt.[5] Er ist mit der Göttin Holle verbunden und mit dem mittwinterlichen Strohbär-Kultgeschehen, mit der Austreibung der bösen Geister des Winters, die dem Frühjahr und neuem Leben Platz machen sollen.[6] Die Leben spendende Göttin und ihr Partner (in verschiedenen Gestalten) stehen für die Erneuerung des Jahreskreislaufs. Im Alpenraum ist es die Percht, die mit ihren wilden Gesellen durch die Gegend zieht – die Krampusse schlagen mit ihren Ruten schon etwas heftiger zu und suchen sich dafür junge Frauen aus.[7]
Im Laufe der Christianisierung wird die Göttin verdrängt und der Strohmann wird mit dem hl. Nikolaus verbunden. Im christlichen Denken steht die Rute nun auch im Zusammenhang mit Strafe (Knecht Ruprecht bestraft mit ihr die unartigen Kinder). Beim Buttnmandllauf im Berchtesgadener Land, der meist am 5. oder 6. Dezember stattfindet, sind es die den Nikolaus begleitenden Buttnmandl, die mit Kuhglocken Krach machen (Buttn – Scheppern oder Rütteln).[8] Mit ihren Ruten verteilen die Strohgestalten Schläge, die besonders die Beine junger Frauen treffen.
Aber ganz verschwunden ist die Göttin hier noch nicht. Der Kulturanthropologe Kurt Derungs schreibt: »Der männliche Nikolaus konnte aber nicht auf die göttliche Ahnfrau verzichten, die nun in der Gestalt der Nikolausfrau fortlebt.«[9]
Der hl. Nikolaus, das Nikoloweibl und die in Stroh eingewickelten Buttnmandl mit Ruten in Loipl im Berchtesgadener Land. Foto: Wikimedia Commons, gemeinfrei
Auch beim Klaasohm-Fest in Borkum taucht das weibliche Element noch auf – allerdings stark verzerrt: Wiefke. Das ist ein junger Mann, der in Frauenkleider gesteckt wird. Wiefke tobt an der Seite der sechs ausgewählten Klaasohmen mit durch die Nacht. Und da der Nikolaus beim Umzug fehlt, kann niemand mehr die Klaasohme bändigen. Auch die Rute ist verschwunden, aber das Horn könnte die Funktion der Lebensrute gut ersetzen, denn es ist auch ein uraltes Fruchtbarkeitssymbol.[10] Doch hier geht es beim Schlagen der Frauen eindeutig nicht mehr um Fruchtbarkeit, sondern nur noch ums »Bestrafen« – genauer gesagt um Gewalt gegen Frauen durch Männer. Und eigentlich ist das schon länger bekannt, denn manche meinen, dass der Klaasohm-Brauch aus der Zeit des Walfangs stamme, wo die Männer nach langer Abwesenheit am Ende des Jahres zu Hause zeigen mussten, wer der Chef ist.[11]
Nun soll das Schlagen ein Ende haben
Nach der Ausstrahlung des Panorama-Berichtes kam es zu heftiger Kritik am Borkumer Klaasohm-Umzug in den Sozialen Medien. Auch viele Zeitschriften berichteten über die Gewalt an Frauen bei diesem „Fest“ und über die „Mauer des Schweigens“ auf der Insel.[12] Nachdem der Borkumer Bürgermeister Jürgen Akkermann dem NDR-Team noch vorgeworfen hatte, die Berichterstattung sei tendenziös und unseriös gewesen (obwohl zuvor alle Interviewanfragen vom Veranstalter Verein Borkumer Jungens e.V. 1830, vom Bürgermeister, von der Gleichstellungsbeauftragten und von der Polizei abgesagt worden waren[13]), soll nun das Frauen-Schlagen beim Klaasohm-Fest abgeschafft werden. Der Jungensverein will sich von »diesem Aspekt der Tradition« trennen – und nun will auch die Polizei eingreifen.
[1] Siehe Burkana. Das maritime Magazin, Nr. 26, Dezember 2012, S. 7.
[2] Wen wundert es da, dass es auch einen »Kinder-Klaasohm« gibt, bei dem kleine Jungen Mädchen schlagen? »Borkumerin berichtet vom ›Kinder-Klaasohm‹«, in: FOCUS online, 1.12.24.
[3] Kim Eckert, Gunnar Krupp, Simon Hoyme, Lorenz Jeric und Betül Sarikaya: „Frauen schlagen als Volksfest“, in: https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama/archiv/2024/Frauen-schlagen-als-Volksfest,klaasohm102.html, 28.11.24
[4] Imma Luise Harms: »Sunneklaas – it’s a man’s world!«, in: https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2006/12/13/sunneklaas-its-a-mans-world/, 13.12.2006.
[5] Siehe »Hullefraansnacht in Schnett«, in: https://www.youtube.com/watch?v=7izRwcR1Kkw.
[6] Zum Strohbären siehe Bettina Bremer: Von Maiköniginnen, Sirenen, drei Jungfrauen und anderen heiligen Frauen, Rüsselsheim 2021, Kap.: »Verchristlichung und das mittwinterliche Paar«.
[7] »Krampuslauf am Krampustag in Salzburg – die hauen zu«, in: https://www.youtube.com/watch?v=pe_bserUiMw
[8] »Die Berchtesgadener Buttnmandl«, in: https://www.youtube.com/watch?v=YV4pt6NZWdQ
[9] Kurt Derungs: Die Seele der Alpen. Magische Rituale mit der Kraft von Sonne, Stein und Wasser, München 2015, S. 98.
[10] Siehe Annine van der Meer: Die Sprache unsrer Ursprungs-Mutter MA. Die Entwicklung des Frauenbildes in 40 000 Jahren globaler Venus-Kunst, Rüsselsheim 2020, S. 451ff.
[11] Siehe Jan Rübel: »Nikolaus, der Frauenjäger«, in: https://www.spiegel.de/reise/deutschland/nikolaus-brauch-auf-borkum-a-937407.html, 6.12.2013.
[12] »Frauen schlagen als Volksfest? – Inseltradition in Kritik«, in: ZEIT ONLINE, 29.11.2024; »Werden Frauen auf Borkum aus Tradition geschlagen?«, FAZ.NET, 29.11.24; »Geheime Insel-Tradition: Frauen gejagt und verprügelt«, in: Nordkurier, 29.11.2024.
[13] Lorenz Jeric, Anna Orth: »Nach NDR Recherche: Klaasohm-Fest auf Borkum künftig ohne Schläge?«, in: https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama/aktuell/Borkum-Frauen-Schlagen-bei-Klaasohm-soll-abgeschafft-werden,klaasohm106.html, 29.11.2024; »Borkum: ›Brauch des Schlagens‹ wird abgeschafft«, https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/borkum-klaasohm-umstrittene-tradition-gewalt-gegen-frauen-100.html, 30.11.2024.
Danke, Bettina, für die Hintergründe. Das ist ja sehr interessant!