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Rubrik denken, erinnern, heilen, vertrauen

Die Gabe der Dankbarkeit

Von Anne Newball Duke

Ich versuche anhand der Gabe der Dankbarkeit die Notwendigkeit des (Wieder-)Verknüpfens von rationalen, emotionalen und spirituellen Wissensbeständen herauszuarbeiten. Ich finde, es wird Zeit, dass wir in unserem aktuellen Wissen- und Erfahrung-Schaffen diese Verknüpfung wieder zulassen. Nur so kann – das ist meine These – die politische Bedeutung und Notwendigkeit der Dankbarkeit allumfassend zum Tragen kommen. Für die Gabe der Dankbarkeit dankbar zu sein, ist – so meine ich – ein wichtiger Schritt zurück in die planetaren Grenzen.

Wenn also eine Leser*in den Anfang nicht mag und denkt, „oh no, mystical esoteric stuff“, dann vielleicht etwas Geduld oder einfach etwas vorscrollen, denn ich politisiere meine Spiritualität im Verlauf des Textes.

Dabei durchlaufen wir die Themen Kommunikation zwischen Mensch und Nicht-Mensch, Welthaltigkeit und Weltlosigkeit auf spirituellen Pfaden, die gefährliche Nähe und die immer lauernde Möglichkeit des Falschabbiegens von Pfaden, die man (wieder) das erste Mal geht, die fehlenden Narrative der Dankbarkeit in der westlichen/europatriarchalen Erzähltradition, „giftiges gift“, die Möglichkeit, ein Geschenk nicht als solches zu erkennen (anhand einer Erinnerung an das Filmschauen Salz auf meiner Haut mit meiner Mutter vor etwa 30 Jahren), Reziprozität, Vertrauen, Verzeihen, Ungleichgewicht und Ungleichzeitigkeit als wertvolle Eigenschaften oder Ingredienzen der Welt der Gabe. Außerdem ist ein Kommentar zu Dorothees kürzlich hier veröffentlichten Artikel Das Ende von „Little Girl“ enthalten. Warum? Weil es so schön reingepasst hat. 

Bei meiner Gedankenentwicklung lasse ich mich leiten durch das Denken vieler kluger Menschen, aber vor allem beschäftige ich mich dem von Dorothee Markert in Fülle und Freude in der „Welt der Gabe“ und dem von Robin Wall Kimmerer in ihren zwei Essays The Serviceberry. An Economy of Gifts and Abundance und „Dankbarkeit“ in Die Grammatik der Lebendigkeit

Ich bin sehr dankbar für diese Texte und für das Denken, das sie in mir angeregt haben. 

Foto: Anne Newball Duke

Kommunizieren mit der Welt über das Gefühl der Dankbarkeit

Seit einiger Zeit stelle mich ab und zu morgens auf den Balkon und sage ein „Danke“ in den aufkommenden Tag. Einfach so. Fast immer beginnt sich dann etwas in meiner Körperin zu regen, darauf zu reagieren. Erst nach dem Danke-Sagen frage ich mich manchmal, wofür ich mich heute im Speziellen bedankt habe, und dann kommen kleine süße Essenzen an die Oberfläche getaucht. Manchmal wird die Körperin von dem kleinen Wort so bewegt, dass sie als Reaktion ein Tränchen und ein Lächeln hinterherschickt. Ich rede von meiner Körperin in so „entfremdeter“ Form, weil nicht mein Verstand auf das Danke-Sagen reagiert. Hier wird vielmehr eine andere Form von Bewusstsein ins Spiel geholt wird, die ich mit meinem Verstand nicht vollends (be-)greifen kann. Es ist ein Bewusstsein, zu dem meine Körperin einen Kontakt herstellen kann, zu dem mein Verstand nicht fähig ist. „Entfremdet“ auch deswegen, weil es uns in dieser Gefühls- und Spürgegend – so merke ich – in unserer Kultur an Worten und Konzepten mangelt.

Deswegen ist es schwer, das in Worte zu fassen. Was ich durch das „Danke“ anrufe, ist zuvor nicht in mir da; auch nicht in jenem individuell formbaren rationalen Bewusstsein, das wir alle so gut kennen. Es entsteht vielmehr in dem Moment und entwickelt sich. Ich lasse dafür meine Körperin sprechen; ich setze mich in gewissem Sinne der Welt aus und lasse „anderes Bewusstsein“, das anscheinend irgendwo in mir und auch außerhalb von mir existiert, für einen kurzen Moment des Tages in Verbindung treten. Ich würde sagen, es entsteht eine merkwürdige und noch sehr ungelenke Form der Kommunikation mit der Welt. 

Das Gefühl ist nicht neu, nur früher dachte ich, ich bin von mir selbst gerührt. „Sentimental“ nennt man das immer noch gern abwertend, wenn besonders Frauen in eine Art egozentrisches Entzücken über sich selbst verfallen. Das gibt es sicher auch, aber viele dieser „sentimentalen“ Momente gehen darüber hinaus; und ich würde behaupten, bei einer Frau umso mehr, wenn sie sich in einem bestimmten Zyklusmoment des Monats befindet. Sie ist dann offener und empfänglicher für die Welt; und Unstimmigkeiten gerade im sozialen Miteinander fühlt sie dann stärker auf ihren Körperin einwirken. Würden wir uns in unserem Gesellschaftssystem mehr nach diesen Gefühlen richten und sie uns sogar in gewisser Weise leiten und sie miteinander in Kontakt treten lassen und aus ihnen lernen, hätten wir ein ganz anderes Gesellschaftssystem. In dem, was man oft „Gerührtsein ohne Grund“ nennt, würden dann vielleicht doch multiple, vieldimensionale Gründe an die Oberfläche tauchen; wir würden vielleicht etwas erkennen können, was wir im jetzigen Gesellschaftssystem nicht zu erkennen brauchen, weil es für dieses nutzlos ist, weil es uns weder Geld noch gesellschaftliche Anerkennung noch sonst irgendwas bringt.

Mein morgendliches Dankesagen scheint auch stark mit dieser zyklischen Gefühlslagerung zu korrespondieren: an manchen Tagen ist die Rührung sehr stark, während sie an anderen auch gar nicht da ist, oder ich sie mit Meditation und Versunkenheit erst evozieren muss. Es scheint also, als habe ich mal mehr, mal weniger „offene“ Sensoren und Konnektoren mit dem, was mich umgibt. Ich habe dabei gerade an gefühlsbeladenen Tagen das merkwürdige Gefühl, dass „die Welt“ nur darauf wartet, mit mir in Berührung zu kommen. Sie reagiert auf meine ungelenken Kommunikationsversuche und durchhaucht meine Körperin mit Bewegungen. 

Was löst das Wort „Danke“ aus? Warum reagiert die Körperin auf etwas derart Unbestimmtes oft so emotional? Und warum sage ich überhaupt plötzlich in dieser Form „Danke“? Es erwächst der Sehnsucht, der Welt mit einer neu und anders gelebten Beziehungsweise näher zu kommen, sie inniger zu gestalten. Ich bin sehr ungeschickt darin und hole mir viel Rat von Menschen mit indigenen Herkünften, die ihre Weisheiten mit mir in ihren Büchern teilen, und hier ist immer wieder die Rede von Reziprozität, Aufeinander-Angewiesensein, Verbundenheit, Beziehungsweisen nicht nur zwischen Menschen, sondern auch zwischen Nicht-Menschen und zwischen Menschen und Nicht-Menschen. Diese Beziehungen unterdrücken wir teils gewaltvoll, indem wir ihnen keine Aufmerksamkeit und keine Zeit schenken. 

Indigene Denker*innen sagen, dass wir eh immer im Austausch mit der Welt stehen, einfach weil wir eben Teil von ihr sind; ob wir diesen Austausch nun wahrnehmen und gestalten oder nicht. Ich kann auf viele Weisen mit der Welt in Kontakt kommen. Die einfachste und gleichzeitig gar nicht so einfache ist die über das Danke-Sagen. „Gar nicht so einfach“ deswegen, weil es mir ein gewisses Fallenlassen in Spiritualität abverlangt, die in unserer europatriarchalen aufgeklärten Weltsicht verpönt ist.  

Die Möglichkeit des Falschabbiegens, die gefährliche Nähe

Und ich verstehe ja auch: Es gibt so viele Möglichkeiten, hier falsch abzubiegen. Vor diesem Falschabbiegen hatte ich eine derartige Angst, dass ich mich bisher immer solchen „Begegnungen“ mit der Welt verweigert habe. Und wenn ich sie schon gefühlt habe, dann habe ich sie verdrängt und kleingeredet, indem ich sie allein in mir verortet und eingeschlossen und vielleicht noch psychologisiert habe. 

Durch die Erfahrungen und Weisheiten anderer kluger Menschen bin ich mutiger geworden. Angst ist eh keine gute Ratgeberin. So fand ich über mich heraus, dass ich eigentlich gar keine Angst habe, kurz mal falsch abzubiegen, weil der Gewinn – mehr zu erfahren über mich und mein Sein auf dieser Welt – so viel größer ist als meine Angst, dass ich von irgendeiner durchaus möglichen Falschabbiegung vielleicht doch einmal nicht mehr zurückfinden könnte. 

Wenn ich durch meine kleinen und immer noch ungelenken Praktiken und durch das Ernstnehmen anderer Wissensbereiche jenseits des rationalen Denkhorizontes bisher etwas gelernt habe, dann ist es das, dass wir uns durch die offizielle Begrenzung auf reine Rationalität so viele Möglichkeiten auf Schönheit und Freiheit und Liebe verwehren. „Offiziell“ sage ich, weil wir – jede Person für sich und auf ihre Weise – insgeheim doch immer Hintertürchen in andere als die rationale Weltsicht suchen und finden: ein bisschen Aberglaube hier, ein bisschen Holzklopfen und Horoskope da… ich kann nur für mich sprechen: ich tat dies immer in relativer Weltlosigkeit. Damit meine ich, dass ich es tat und mich gleichzeitig für ein bisschen verrückt, albern und dumm hielt. Dadurch spiegelte ich meine eigentliche Sehnsucht nach anderen Weltsichten nur in mir selbst hin- und her, ohne mich in dem Moment der Welt zu öffnen. Ich gestaltete den Wunsch nach Verbindung also nicht welthaltig. Wenn ich in dem Moment dennoch ein Kribbeln fühlte, dann, weil die Welt trotz meiner In-mir-Verkorkstheit auf meine Sehnsucht reagierte. Nicht alles, was in meiner Körperin passiert, bin ich „allein“. Oder, wenn ich den Spieß umdrehe: „Ich bin Teil der Welt und somit ist alles, was außerhalb von mir in Bezug zu mir passiert, auch irgendwie ich“. Das ist wieder eine sehr schwierige Aussage, ich weiß.  

Reziprozität

Mit dem Danke-Sagen nehme ich die Wechselseitigkeit ernst. Vielleicht wird mir seitdem jeden Morgen aufs Neue bewusst, dass ich der Welt dankbar bin. Und dass es schier unendlich viel ist, wofür ich dankbar bin. Zunächst einmal fühle ich Dankbarkeit, dass ich überhaupt auf der Welt sein darf, so, wie ich bin, mit dem Leben, das ich führen darf. Ich bin dankbar für den Tag. Mit den Wolken, gerade so, wie sie jetzt sind, mit den Sonnenstrahlen, die durch die Wolken brechen, mit dem einsetzenden Regen, dem Wind, der die Krähen zu wilden Flugeinlagen verleitet, begleitet von lautem Schreien, als wäre dieses Wetter „ihr turn“; als übernähmen sie vorübergehend das Sagen und Tun über die Welt vor meinem Fenster. Der wilde Wetter und die Krähen wirbeln auch mein Gemüt auf, ganz ohne Zweifel. 

Viele Gefühle sind mystischer Natur; zum Beispiel habe ich manchmal das Gefühl, dass ein Windhauch den Baum neben dem Balkon und mich miteinander in Berührung bringt, dass da also ein Mehr entsteht zwischen uns dreien für ganz kurze Momente. 

Bevor ich Geflochtenes Süßgras las, fand ich Die Grammatik der Lebendigkeit von Robin Wall Kimmerer. In diesem wundervollen kleinen Büchlein, erschienen im Verlag w_orten & meer, sind zwei Essays vereint. Der erste Essay heißt „Dankbarkeit“. Und gleich der erste Abschnitt resoniert in mir: „Jeden Tag beschenkt uns die Erde mit ihren Gaben. Gaben, die wir weder verdient haben, noch bezahlt: Luft zum Atmen, nährender Regen, fruchtbare Böden, Beeren und Honigbienen, der Baum, aus dem dieses Papier entstanden ist, ein Sack voll Reis und die lebendige Fülle eines Feldes von Goldrauten und Astern in voller Blüte. Obwohl die Erde uns mit allem was wir brauchen versorgt, haben wir eine konsumorientierte Wirtschaft geschaffen, die fragt: ‚Wie können wir diese Erde noch ausnehmen?‘ und selten: ‚Was möchte die Erde von uns dafür zurückbekommen?‘“

Mein „Danke“ in den Morgen gesprochen, ist nur ein Anfang. Aber es ist bereits ausgebrochen aus Höflichkeits- oder anderen teils von uns automatisiert eingesetzten Benimmritualen. Meine Dankes-Gefühle entwerfen einen Ausblick, wie eine tiefere bewusste Beziehung mit der Welt aussehen könnte. Ich weiß, dass das (noch) nicht genug ist, aber es ist auch nicht wenig. Denn es geschieht schon ganz viel während dieses Aktes des Danke-Sagens: ich empfange die Gaben der Welt nicht mehr passiv, danklos und gedankenlos. Und ich beginne zu verstehen, dass die Welt – wie jedes Wesen, mit dem ich eine ernsthafte Beziehung pflege – etwas von mir erbittet. Damit die Erde im Gleichgewicht bleibt – so Kimmerer – damit die Gaben weiter fließen können, müssen wir für das, was wir nehmen, in gleichen Maßen zurückgeben. 

„In den Lehren meiner Potawatomi Vorfahren gehen Verantwortlichkeit und Gabe Hand in Hand. Eine Gabe zu besitzen, ist gekoppelt an die Aufgabe, diese für das Wohl aller einzusetzen. Eine Drossel besitzt die Gabe des Singens – und so hat sie die Verantwortung, den Tag mit Musik zu begrüßen. Lachs besitzt die Gabe zu reisen, und so akzeptiert er die Aufgabe, Nahrung flussaufwärts zu bringen. Wenn wir uns also fragen, was unsere Verantwortung gegenüber der Welt ist, fragen wir gleichzeitig: ‚Was ist unsere Gabe?‘ Als menschliche Spezies, die sich erst vor Kurzem auf diesem Planeten entwickelt hat, fehlen uns die Gaben der uns begleitenden Arten, wie der Stickstofffixierung, der Bestäubung und der 5000-Kilometer-Wanderung unter magnetischer Führung. Wir sind nicht einmal der Photosynthese fähig. Aber wir haben unsere eigenen Gaben, Gaben, die die Erde dringend braucht. Eine der mächtigsten Gaben ist die Dankbarkeit. Dankbarkeit mag wie ein schwaches Kraut wirken, im Verhältnis zu den drängenden Herausforderungen, die vor uns liegen, aber sie ist eine mächtige Medizin, viel mehr als ein einfaches ‚Danke‘. Zu danken bedeutet anzuerkennen – nicht nur die Gabe selbst, auch die gebende Instanz. 

Wenn ich einen Apfel esse, gilt meine Dankbarkeit dem Baum mit seinen weit geöffneten Ästen, dessen säuerliche Frucht nun in meinem Munde ist und dessen Leben zu meinem Leben wird. Dankbarkeit basiert auf dem tiefen Wissen, dass unsere eigene Existenz auf den Gaben derer fußt, die der Fotosynthese fähig sind. Dankbarkeit wird angetrieben von der Anerkennung aller Lebewesen als Subjekte. Sie fordert den trügerischen Glauben der menschlichen Vormachtstellung heraus – der Vorstellung, dass wir irgendwie besser sind und mehr von dem Reichtum und den Gaben dieser Erde verdienen als andere Arten. Die Kultur der Dankbarkeit hat einen überzeugenden evolutionären Vorteil. Diese menschliche Emotion stärkt unsere Anpassungsfähigkeit, denn sie kann faktisch zur Nachhaltigkeit beitragen. Die Praxis der Dankbarkeit kann auf sehr reale Weise zu einer Praxis der Selbstbeschränkung führen, bei der wir nur das nehmen, was wir brauchen. Die Anerkennung der Gaben, die uns umgeben, schafft ein Gefühl von Zufriedenheit, ein Gefühl von Genug-Sein. Das ist das Gegengift gegen die gesellschaftlichen Botschaften, die unsere Seele durchbohren, um uns zu vermitteln, dass wir immer mehr brauchen. Die Praxis der Zufriedenheit ist ein radikaler Akt in einer konsumorientierten Gesellschaft.“

Sie sieht die Dankbarkeit nicht als Tugend oder moralische Pflicht o.ä., sondern als eine Emotion. Die Emotion ist das, was uns miteinander verbindet. Keine rationale Einsicht kann das Gefühl wettmachen oder diese Art der Verbindung zwischen mir und der Gabe und Gebendem herstellen. Wir alle kennen das Gefühl, wenn wir durch ein Geschenk derart berührt sind, dass wir weinen müssen vor Freude, und wie diese Berührung wiederum die Beziehung stärkt. 

Narrative ohne Dankbarkeit und Liebe

Die Bindungslosigkeit ist auch entstanden, weil – so Kimmerer – „die westlichen Erzähltradition seltsamerweise zu dem Thema Dankbarkeit schweigt. Und so befinden wir uns in einer Zeit, in der wir zu Recht Angst vor dem Klima haben, das wir schufen.“ Indigene Geschichtstraditionen hingegen sind voll warnender Erzählungen über die Unterlassung der Dankbarkeit. „Wenn Menschen vergessen, Gaben zu ehren, sind die Konsequenzen daraus immer sowohl materiell als auch spirituell. Die Quelle versiegt, der Mais wächst nicht, die Tiere kehren nicht zurück und die Scharen beleidigter Pflanzen und Tiere und Flüsse erheben sich gegen diejenigen, die Dankbarkeit vernachlässigt haben.“ 

Unsere aktuellen Diskurse sind prall gefüllt mit dem Wunsch nach der Veränderung unserer Narrative, aber oftmals wissen wir noch nicht, was genau sich in ihnen oder an ihnen ändern muss. Mit Robin Wall Kimmerer und vielen anderen Denker*innen bin ich der Meinung, dass genau hier eine Änderung stattfinden muss: wir müssen unserer rationalen Weltsicht unbedingt wieder die emotionale und die spirituelle hinzufügen und unsere Geschichten wie unsere Körper*innen wieder in all die Fülle und Pracht kommen lassen, zu der sie fähig sind. Die rationale Weltsicht hat die Kommunikation mit der Welt, also mit Seinsformen und Wesen, die nicht Menschen sind, abgebrochen. Nur emotionale und spirituelle Kontaktaufnahmen sind dazu fähig. Dazu müssen wir unsere Vorstellung vom Bewusstsein, von dem wir noch so wenig wissen, ausweiten, und zwar weit über das von uns imaginär in die menschlichen Körper*innen eingezwängte, auf rationale Belange ausgerichtete Bewusstsein hinaus. Der Mangel, den wir so oft spüren und meist mit Konsum und Zerstreuung stopfen, ist auch auf die Vernachlässigung und die weltlose Behandlung unserer Emotionen und unserer spirituellen Adern zurückzuführen. Adern, die nicht nur durch unsere Körper*innen fließen, sondern auch durch die der Welt und des Universums, und die so oft verknüpft sind, wie wir es niemals für möglich halten.  

Bevor ich zu sehr ins Spirituelle abdrifte, nehme ich Dorothees Büchlein in die Hand, das ich bei der Denkumenta im September vom Büchertisch mitnahm: Fülle und Freiheit in der „Welt der Gabe“, erschienen 2006 im Christel Göttert Verlag. 

Ich finde so viele denkerische Verbindungspunkte zwischen meiner ungelenken morgendlichen Danksagung an die Welt und ihrem Nachdenken darüber, wie die Gabe uns bereichert; die Beschenkten genauso wie die Schenkenden.

Ich würde nur gern die Weitung auf eine Welt der Beziehungsweisen hinzufügen wollen, die über die menschlichen hinausgeht. Ich glaube mittlerweile tief und fest, dass wir fähig sind zur Zerstörung von Lebewesen, Dingen usw., die wir zum einen nicht kennen, aber zum anderen auch nicht wahrnehmen und ernst nehmen, und denen wir – wie Kimmerer sagt – dann für ihr Dasein und Geben auch keine Dankbarkeit empfinden. 

„Symbolische Nahrung“, die zum Glücklichsein notwendig ist, wie Dorothee schreibt, erhalten wir nicht nur von Menschen. Wir können sie auch von Pflanzen und Tieren erhalten, von Bergen und Flüssen. Symbolische Nahrung erhalten wir, wenn wir Menschen uns in der tiefen Zeit verorten und Respekt und Achtung dafür bekommen, was die Welt an Experimenten und Erfahrungen bereits in den Millionen, ja gar Milliarden Jahren vor unserem relativ späten Erscheinen auf der Erdoberfläche gemacht hat. Wir sind eingebettet darin. Aber wir tun so, als wäre das Bett nur für uns gemacht worden, und nun dürfen wir kleinen Egoman*innen alles um das bequeme Bett herum zerstören, was letzten Endes natürlich auch das Bett selbst und uns darin zerstört. Wie konnte es je so weit kommen, dass wir glauben können, auf dem Mars leben zu können? Wir haben jeglichen Sinn für unsere weltliche Verwobenheit verloren, scheint es. Und durch das Schreiben dieses Textes merke ich erst auf einer wieder etwas tieferen Verständnisebene, wie sehr dieser Sinnverlust mit dem Verlust des Gefühls der Dankbarkeit und Liebe für die Welt zu tun hat.

Vielleicht sagen wir noch oft in religiösen Zusammenhängen „aus Liebe zur Welt“, aber wir meinen eigentlich immer nur die Welt der Menschen und was wir für diese brauchen. Oder? 

Ich erinnere mich an die lange Diskussion darüber, ob wir bei einer Parents-for-Future-Aktion Passant*innen fragen können, ob sie Liebe zur Welt empfinden, und ob dieses Gefühl sie eventuell zu Klimaaktivismus in weitgefasstem Sinn führen könnte. Wir Klimaaktivist*innen befinden uns ja auf der Seite der Vernunft, der Aufklärung, der Wissenschaft. Und selbst  wenn der Slogan „Aus Liebe zur Welt“ sich richtig und gut anfühlt, muss unser Verstand ihn rational durcharbeiten: es könnte sich eine gefährliche Nähe dahinter verbergen. Gefährliche Nähe zu was?, fragte ich. Zu Religion. Es war mir ja erst peinlich, dass ich das gar nicht wusste. Aber dann, im Unruhigbleiben und Durchdenken, dämmerte es mir langsam: wir trennen uns aus diesem und jenem Grund – vielen richtigen darunter – von Religion. Ich merkte, dass es mir egal ist, ob der Slogan religiös kontextualisiert wird; er klingt in mir, also wirkt er für mich, er hat für mich Bedeutung. Und ja, er bringt mich ganz nebenbei der spirituellen Ebene der Religion näher. Ich habe ihn mir längst angeeignet. Ich kann auch kein Wort daran ändern. Nicht „Liebe“ und nicht „Welt“. 

Ich bin immer mehr davon überzeugt, dass wir diese Brücken zwischen den Wahrheiten, die in religiösem und wissenschaftlichem Wissen stecken, wieder aufbauen müssen. Dass wir nicht einen dieser wertvollen Wissens- und Erfahrungsbereiche beiseiteschieben sollten. Wir brauchen beide. Wir brauchen die Emotion Liebe, und wir brauchen die Freiheit, diese Liebe in spiritueller Annäherung fühlen zu dürfen. Perdita Finn, eine US-amerikanische Autorin, Feministin und Mystikerin, ist davon überzeugt, dass wir uns den religiösen Mythen und Offenbarungen weniger theologisch, sondern vielmehr ökologisch nähern sollten. Ich denke das auch, denn die darin tief verwurzelten Weisheiten und Erfahrungen würden uns helfen, uns an die Welt zurückzubinden. 

Ich glaube, dass die ganzen europatriarchal geprägten Gesellschaftssysteme, die wir in den letzten Jahrhunderten ausprobiert und anderen Kulturen übergestülpt haben, nicht funktionieren, weil sie gemeinsam haben, dass wir alle Wissens- und Kommunikationswege gekappt haben, die uns einstmals mit anderen Lebewesen und Seinsformen verbunden haben. Und wo sie nicht gekappt sind, sind sie in den meisten Fällen weltlos geworden. Ich schaue gerade das erste Mal Lost auf Netflix, und ich bin fasziniert davon, wie nah – gefährlich nah! – die falschen Abbiegungen immer liegen, und wie wenig ich als Zuschauerin weiß, welche Protagonist*in nun „recht“ hat; oft liegen zwei Protagonist*innen der Serie nur eine klitzekleine Entscheidung oder einen Hauch Glaubensausrichtung auseinander. In einem Moment ist Eko auf der richtigen Spur, im nächsten wieder Locke (ich bin erst Anfang der dritten Staffel); und das, obwohl beide auch in ihrer jeweiligen Spiritualität sehnsuchtsvoll nach Welthaltigkeit suchen und sich bereits gegenseitig in ihren Träumen Nachrichten senden und auch Nachrichten von bereits Verstorbenen empfangen können. Hat es etwas mit Welthaltigkeit zu tun, einen Knopf immer wieder nach 108 Minuten zu drücken? Retten sie damit wirklich die Welt? Ich weiß es noch nicht. Ende der 6. Staffel weiß ich es vielleicht. Locke und Eko wissen es nicht, aber sie wollen es wissen, unbedingt. Ich hoffe, ihre Suche endet in Welthaltigkeit. Wenn nicht, bin ich vielleicht genauso enttäuscht vom Ende wie alle anderen Lost-Seher*innen, mit denen ich so gesprochen habe (, die mir aber nicht spoilern dürfen, warum sie so enttäuscht über das Ende waren). 

Was ist falsch an der (Re-)Animierung der Welt?

Zurück zur Dankbarkeit: Die Welt hat uns Menschen ein sehr komfortables Bett gemacht. Sie hat sich sehr mütterlich verhalten. Ideale Bedingungen für unser Welt-Sein bereitet. Ich glaube, dass es diese ferne Erinnerung ist, die ich in mir trage, welche unbestimmte und teils noch unbestimmbare Körperinnenorte in mir aufwühlt und sich auch mit Orten außerhalb von mir verbindet, wenn ich „Danke“ sage. 

Was ist falsch an diesem Gedanken? Was ist falsch am Gedanken „Mutter Erde“? Weil ich die Welt damit animiere? Weil ich ihr damit Leben und Bewusstsein einhauche? Wir glauben lieber an das nach Newtons Entdeckungen geformte Weltbild: außer uns Menschen alles tot und statisch, seelenlos und gefühllos, Raum und Zeit unabhängig existierend von jeglichem Lebendig-Sein. Dieses Weltbild hat uns Menschen geholfen zu beginnen, die Welt um uns gedankenlos und danklos auszubeuten. Mit der Aufklärung wurden auch jegliche Dankbarkeitsrituale eingestellt, oftmals durch Gewalteinwirkung auf menschliche – zumeist weibliche – Körper*innen, die weiterhin Rituale der Dankbarkeit zur Vertiefung der welthaltigen Beziehungen praktizieren wollten. 

Und diese Objektivierbarkeit der uns umgebenden Welt ist wissenschaftlich erklärbar? Nun, schauen wir uns aktuell in der Biologie und Physik um, gibt es da sicher nicht wenige Wissenschaftler*innen, die aufgrund ihrer aktuellen Forschungsergebnisse immer schwerer zu schlucken haben an einem Weltbild, das nur uns Menschen als Subjekte zulässt. Viele Wissenschaftsbereiche befinden sich bei genauerem Hinsehen in einem tiefgreifenden Wandel. Objektivität wird nicht mehr lange haltbar sein. Unter anderem wird ihre Nähe zur Kolonialität immer offensichtlicher. Unser Weltbild, das von der Wissenschaft und dem Glauben an eine Trennung zwischen Subjekt und Objekt massiv zusammengehalten wird, ist in den Wissenschaftsbereichen, in denen es notwendig ist (ich kenne keine, in denen es nicht notwendig ist, aber da tappe ich auch viel in Unkenntnis und wage es nicht, das für alle Wissenschaftsbereiche vorhersehen zu wollen), am Zusammenschrumpeln, und das ist gut so. 

Die politische Bedeutung der Dankbarkeit

Dorothee arbeitet in ihrem Text die politische Bedeutung der Dankbarkeit heraus. Ich würde diese Bedeutsamkeit gern tiefer pflanzen als nur in zwischenmenschliche Beziehungen. Wie geht das? Ich glaube, dass wir die Welt über die Menschenwelt hinaus nicht lieben und ihr nicht dankbar sein können, wenn wir nicht Spiritualität in unser Leben lassen. Und wenn wir die aus diesen Erfahrungen entstehenden Emotionen nicht politisieren. Und ich meine damit ganz und gar nicht, sie in irgendwelche Populismen zu stecken. Die Emotionen, die durch Populismus aufgewirbelt werden, sind nicht welthaltig. Jede Person muss auf die ihr ganz eigene Art mit der Welt Verbindung suchen, und wird sich dabei ganz sicherlich oftmals in die gefährliche Nähe zu Falschabbiegungen begeben – einfach weil wir Europatriarch*innen hier keine oder kaum Erfahrung haben. Aber gleichzeitig werden sich Sträuße voller Emotionen ergeben, die uns weiter leiten können. Sie werden unser jeweiliges politisches In-der-Welt-Sein im Sinne Robin Wall Kimmerers neu ausrichten. 

Viele Menschen sagen, „aber ich traue den spirituell tätigen Menschen nicht, es gibt so viele Scharlatane darunter“. Das stimmt sicherlich. Genauso wie es Trumps oder Musks gibt unter denen, die unserem (vorgeblich) rationalen europatriarchalen Gesellschaftssystem folgen, das wir immer noch vertrauensvoll stützen, trotz all ihrer Macken und der ihr inhärenten Gewalt. Es sind ja nicht alle so wie diese Prototypen des „alten weißen Mannes“, oder? Wir trauen weiter einer Demokratie, die uns in unseren eigens gewählten demokratischen Prozessen merkwürdigerweise solche Führer*innentypen an die Spitze stellt. Bayo Akomolafe hat in einem Gespräch mit Indy Johar etwas gesagt, der seitdem viele denkerische Tore in mir geöffnet hat. Ich möchte ihn lieber englisch zitieren und hoffe, es wird für alle Leser*innen verständlich: „Whiteness is not reducible to white persons. Whiteness is not white people. Whiteness is speculatively the genocide of relations. To Borrow a phrase from Dr. Erin Manning, it is the placement of bodies in strict, rigid, unforgiving, immobile, sterile identitarian boxes  as a place-making, world-building project.“ 

Aus Mangel an einer Übersetzung von Whiteness belasse ich es vorerst im Englischen. Es gibt also auch sogenannte Scharlatane unter den Europatriarch*innen, aber „weiß“ im Sinne Bayo Akomolafes sind wir alle (sicherlich in unterschiedlichen Graden): Wir haben die Beziehungen zu anderen Wesen und Seinsformen dieser Welt abgebrochen. In diesem Abbruch der Beziehungen sehe ich das Potenzial für Verirrungen hin zu solchen Führer*innentypen. Wir brauchen welthaltige Beziehungen für eine funktionierende Demokratie.

Es geht letzten Endes auch in der je eigenen spirituellen Anbindung  um Vertrauen. Welchen Menschen, welchen Künstler*innen, welchen Mystiker*innen vertraue ich? Über die letzten zwei Jahre habe ich ein Gefühl dafür entwickelt, wem ich vertrauen kann und wem nicht, wen ich als meine Lehrer*innen akzeptiere. Ich kann immer noch falsch liegen. Und wenn das so wäre, dann ist es nicht so schlimm, weil ich so viel von ihnen gelernt habe, was sich ganz richtig in mir anfühlt, was mir so viele gute Momente und Erfahrungen geschenkt hat, die ich nicht mehr missen möchte. Wenn meine „Lehrer*innen“ dann doch mal falsch abbiegen sollten, dann muss das ja nicht heißen, dass ich mit dem von ihnen Gelernten ebenfalls falsch abbiege. Ich bin aber guter Dinge, denn alle meine Lehrer*innen sind auch Feminist*innen und Ökolog*innen (im Sinne dessen, dass sie sich des Zustands der Erde bewusst sind und aktiv von ihm aus weiterdenken); das heißt, ihr starkes Begehren ist es ebenfalls, die Klimakatastrophe, das Artensterben, die Zerstörung des planetaren Ökosystems anders zu perspektivieren als über rein technokratische Lösungssuchen, welche wiederum tief im Europatriarchat verwurzelt sind. Ihre auch stark politisch angelegte Spiritualität ist welthaltig, so würde ich es bezeichnen.

Kommentar zu Dorothees Text Das Ende von „Little Girl“

Dorothee, weil es so gut hier passt, weil es auch um die Möglichkeiten des Falschabbiegens innerhalb unseres Gesellschaftssystems geht, kommentiere hier gleich deinen aktuellen Text über den Beatles-Song Little Girl: auch ich wusste nicht, wovon das Lied eigentlich handelt und bin dir dankbar für deine Offenlegung. Ich hatte wohl in derselben Zeit eine andere Erfahrung mit zwei Liedern der Beatles, und zwar bin ich aktuell sehr dankbar für die Wiederentdeckung von Let it be und Now and Then. Die Lieder schenken mir momentan so viel. 

Viele – so wie auch ich unentwegt – fragen sich: was machen wir jetzt mit diesem Wissen um das schlimme Lied? Die ganzen Beatles, einfach alles alles alles von ihnen, canceln? Ich spiele das durch:

Was wäre, wenn ich mir jetzt das Beschenktwerden aufgrund deiner Offenlegung, die mich auch verstört, versage? Wenn ich sage: nein, von den Beatles nehme ich keine Geschenke mehr an. Ich merke recht schnell: es fühlt sich nicht richtig an. Es fühlt sich an, als würde ich Komplexität loslassen und das Denken zugunsten einer falsch verstandenen Solidarität mit den Betroffenen stoppen. Ich merke, dass ich die Menschen und insbesondere Künstler*innen mehr in all ihren Farben, vor allem nicht mehr schwarz oder weiß sehen möchte. Ich danke Künstler*innen u.a. für ihren Mut. Menschen wie sie, die ihre besonders ausgebildeten Sensoren auf Mensch und Welt legen und uns mit ihren Werken tiefe Wahrheiten in uns finden lassen, können auch mal falsch liegen und falsch abbiegen. So wie wir alle. Also fände ich es für mich – ich kann nur für mich sprechen – richtig, das Lied Little Girls von meiner Playlist zu entfernen (wenn es sich denn darin befände, hehe). Aber die anderen beiden und noch viele andere möchte ich weiter hören, einfach weil sie wichtige Bereiche in mir zum Klingen bringen. Ich finde es immer wichtiger, dass ich mir zugestehe, nicht „immer komplett richtig“ liegen zu müssen. Was weiß ich schon, ob das, was ich gerade als unwiderruflich richtig betrachte, wirklich alles von unseren Nachfahr*innen oder selbst noch von mir oder von der Gesellschaft in einem Monat oder in einem oder zehn Jahren als richtig bewertet wird? Okay, klar hätten die Beatles schon damals wissen können, dass es nicht richtig ist, den Wunsch zu haben, „little Girls“ in ihren Liedtexten umzubringen. Aber anscheinend waren sie hier einfach nicht der Zeit voraus und auch nicht mit der Welt verbunden und sind nur irgendwelchen patriarchal verblendeten Sinnen gefolgt. Okay. Aber: können wir verzeihen? Schön wäre zu wissen, dass die noch lebenden Bandmitglieder dieses Lied auch nicht mehr gutheißen und sich davon distanzieren. Es wäre schön, aber für mich nicht unbedingt notwendig, um andere Lieder von ihnen weiter zu hören.

Verzeihen

Ich liebe übrigens, was du über das Verzeihen schreibst, Dorothee. Du sagst, dass das Verzeihen ein besonderes Risiko birgt. „Es erfordert noch mehr als andere Gaben das Vertrauen, dass mein Gegenüber mit meiner Gabe gut umgehen wird. (…) Wir müssen die Unsicherheit und Leere aushalten, die beim Geben entstehen. Dies ist nur möglich, wenn wir Vertrauen haben, wenn wir also an das Gute in anderen Menschen und in der Welt glauben.“ (S. 102)

Schließlich – so denke ich – leben wir doch alle mitten im Europatriarchat, und somit ist keine einzige Person frei von europatriarchalen Prägungen jeglicher Art. Und ich frage mich, was „falsch abbiegen“ eigentlich bedeutet, denn Frauenhass ist im Patriarchat ja vom Grunde her „richtig“, also systemisch gesehen, oder? Also sind die Beatles nicht systemisch falsch abgebogen, sondern nur „menschlich“, denn auch im Europatriarchat kann jede Person immer wieder seine Welthaltigkeit suchen und sich daran orientieren. Unser System lässt diese Freiheit aktuell zu, auch juristisch usw. Und diese Denk- und Fühlfreiheit haben sich die Beatles nicht gegeben, sie sind einfach „systemisch mitgeflossen“. Not very arty.  Denn Kunst – wie ich sie deute – bedeutet, diesen Fluss zu unterbrechen. 

Ich kann nur für mich sprechen: ich möchte dankbar sein für alles, was ich jetzt aus den Fehlern oder „dem Mitfließen anderer“ lernen kann. Ich lerne aber gleichzeitig auch, dass die Beatles fähig und mutig genug sind, über Mother Mary und deren Weisheit zu singen, welche diese in den Stunden der Dunkelheit bringt. Ich kann diesen sehr erstaunlichen Liedtext bewundern und weiterhin anregend finden für mein Denken (in einem Interview habe ich zwar gelesen, dass Paul McCartney seine eigene Mutter meint, die auch Mary heißt. Egal ob das jetzt stimmt oder nicht; ich glaube, dass viele Menschen einen „andere“ Mary darin heraushören, und das breitet in mir alle Flügel aus und führt mich hinein in die Verzauberung durch Kunst), ohne dass mein Herz vor Ungerechtigkeit auseinanderbricht oder dass ich das Gefühl habe, nicht genug solidarisch mit Frauen auf der ganzen Welt zu sein oder das Problem der Femizide kleinzureden. Denn ich kann doch trotzdem die Trauer um all die getöteten Frauen in mir halten und mich politisch dagegen engagieren. Ich kann Komplexität halten. Ich denke, es muss die Freiheit für jede Person bestehen, für sich zu entscheiden, wen oder was oder wieviel er „canceln“ will. Missionarischer Übereifer und eilig errichtete Mauern fühlen sich für mich jedenfalls nicht mehr nachhaltig an. Und ich gestehe mir auch hier zu, lieber mal falsch abzubiegen statt Gefühlen voreilig den Hahn abzudrehen, bevor ich ihnen lang genug nachgeforscht bin. Ich denke sogar, das Falschabbiegen passieren kann durch zu frühes Mauernhochfahren.

Giftiges gift

Vielleicht geht es ja auch darum? Um aus unseren Fehlern und den anderer zu lernen? Vielleicht ist das auch ein Geschenk? Dorothee, du bringst in deinem Gaben-Buch die etymologische Nähe des englischen Wortes „gift“ mit dem deutschen „Gift“ mit Neid und Manipulationswünschen in Verbindung: „Vergiftete Gaben sind keine wirklichen Gaben, sie benutzen nur die Verkleidung der Gabe, um etwas anderes zu bewirken.“ (S. 59) Ich könnte das Gift wieder in ein Geschenk umdeuten, indem ich sage: Der giftige Fehler einer anderen Person oder Gemeinschaft oder was auch immer – so z.B: Little Girl von den Beatles –, kann meine/unsere Quelle des Lernens und des Verzeihens sein. Und ich würde noch weiter gehen. Ich würde sagen, er ist durch dein Schreiben über das Lied bereits Auslöser dafür, dass sich Dinge ändern, dass wir gedanklich und emotional aus giftigen Kreisläufen aussteigen. Es ist wieder ein kleiner Tropfen auf den heißen Stein der Veränderung. 

Und vielleicht ist das für mich nur möglich, weil ich anerkenne, dass jeder Mensch ein vieldimensionales, komplexes Wesen ist, das Fehler machen kann. Sehr unterscheiden würde ich davon Menschen, die über Jahre wissentlich und systematisch anderen Menschen Schaden und Leid zufügen, wie jetzt – um nur ein Beispiel zu nennen – im Fall von Diddy bekanntgeworden ist. Es sind Menschen, die ganz bewusst falsch abbiegen und auch später nicht mehr richtig abbiegen wollen, und die ganz bewusst andere Menschen in die Falschabbiegung und/oder gewaltvolle Abhängigkeit führen und daraus für sich Gewinn schlagen (wie schwierig aber auch die Festlegung auf eine solche „statische“ Bewertung von Menschen in einer gewaltvollen Gesellschaftsordnung ist, davon erzählen u.a. die Serien Lost oder auch Orange is the New Black zu genüge). Es sind Menschen, die andere Menschen ganz bewusst weiter wegführen von Welthaltigkeit und somit aus den planetaren Grenzen hinaus. #metoo geht weiter, immer weiter; so lange, bis wir uns (hoffentlich!) noch viele weitere Generationen lang aus dem Europatriarchat herausgearbeitet haben.

Vertrauen und Genug

Soziale Beziehungen, so Dorothee, sind immer ein Risiko und erfordern Vertrauen. Und auch Geben sei wie jede Grenzüberschreitung immer auch mit einem Risiko verbunden. (vgl. S. 43) 

Ich denke über das Geben in meiner Beziehung zur Welt nach, und – ich drücke es mal merkwürdig kompliziert aus: ich könnte kein Risiko in dieser Beziehung finden, wenn ich mehr mit ihr verbunden wäre, und andere Menschen um mich herum auch. Die Welt hat mich gebettet, und sie gibt mir, so wie sie meine Mutter gebettet hat und ihr gegeben hat. Aber klar, fast alles, was ich esse und sonst so konsumiere, ist durch einen Kuddelmuddel aus ökologisch und menschlich gemachten Wirtschaftsprozessen gelaufen. Aber die ökologischen Wirtschaftsprozesse haben wir rausgeschnitten aus unserer Wahrnehmung. Regen? Sonne? Wind? Jahreszeiten? Pah! Keine Erwähnung wert! Vielleicht ist dieser „Rausschnitt“, der mich wieder an Bayo Akomolafes „genozide of relations“ erinnert, der Grund, dass wir nicht mehr sagen: „die Welt gibt uns alles, was wir zum Leben brauchen“, sondern – typisch für unsere anthropozentrische Denkart – „Das Wirtschaftssystem (und gemeint ist hier einzig das menschlich gemachte) hat dafür zu sorgen, dass jeder das hat, was er zum Leben braucht.“ Wir Menschen pflanzen Pflanzen, die wir essen, wir halten Tiere, deren Milch wir trinken und die wir essen, und all diese Nahrung verteilen wir im Marktsystem. Weil wir alles koordinieren und steuern, glauben wir uns auch die alleinigen Macher*innen der Kartoffeln, Kühe usw. Die Welt stellt das Licht, den Boden, die Atmosphäre, den Regen usw. usf., aber hey, das ist alles normal und logischerweise „gratis“. Wir brauchen dafür nicht dankbar zu sein, das wäre ja schon Mystik oder Esoterik. 

Amitav Ghosh hat in einem Podcast, den ich letztens gehört habe, sinngemäß gesagt, dass ab dem Moment, in der die Wissenschaft aufhören muss, die Welt in Subjekt und Objekt aufzuteilen, weil sich diese wissenschaftliche Grundhaltung gegenüber der Welt nicht mehr halten lässt, auch die Grenze hin zur mystischen Weltwahrnehmung hin verwischen wird. Wir könnten dann auch nicht mehr postulieren, dass wir irgendwann einmal alles, was wir jetzt nicht verstehen, mit rationalem Verstand verstehen können. Das ist auch der Grund, warum sich Donna J. Haraways „Unruhigsein“ noch nicht recht in wissenschaftliche Kontexte der heutigen Form einpassen lässt: weil kinship („Verwandtschaft anerkennen“, würde ich es jetzt frei übersetzen) mit anderen Arten, wie sie sie fordert, eben bedeutet, mit Tieren und Pflanzen gleichauf zu sein und sie auch als unsere Lehrerer*innen anzunehmen; und zwar nicht mehr alleinig dafür, mit dem Verstehen des Flügelschlags einer Fliege durch wissenschaftliche Erkenntnisse uns weiter von der Erde zu entfernen, sondern genau im Gegenteil: uns ihr wieder zu nähern. Die Fliege bringt uns sicherlich gerne freiwillig bei, wie sie sich in der Luft hält; allerdings tut sie das sicherlich nicht, wenn sie weiß, dass wir nach den Lehrstunden die Beziehung mit ihr wieder abbrechen und an ihrem Fortbestehen nicht interessiert sind, wenn wir sie also nur ausgenutzt haben. Da haben wir ihn wieder: den auch für uns letzten Endes tödlichen Abbruch der Beziehungen.

Die Nähe zur Welt und ihren Gaben ist unsere einzige Möglichkeit, auf dieser Welt zu verbleiben. Welche Gaben möchte die Welt von uns dafür, dass sie uns alles zur Verfügung stellt, was wir zum Leben brauchen?

Robin Wall Kimmerer gibt in ihrem neuesten kleinen Buch The Serviceberry. An Economy of Gifts and Abundance viele Anregungen für eine neue Beziehungsweise mit der Welt. Sie sagt, dass eine der wichtigsten Gaben der Menschen die der Dankbarkeit sei. Es scheint wenig angesichts der Krisen, denen wir gegenüberstehen. Aber die Dankbarkeit verändert die Einstellung gegenüber der Welt, und ermöglicht somit neue Fragen und Lösungsoptionen. „Wie wäre es, wenn wir in dem vollen Bewusstsein konsumieren, dass wir Empfänger*innen von erdlichen („earthly“… ich mag „erdlich“) Geschenken sind, die wir nicht verdient haben? Wie wäre es, mit Bescheidenheit zu konsumieren?  Wir wären aufgerufen ehrenhaft zu ernten, mit Zurückhaltung, Respekt, Ehrerbietung und der Anerkennung von Wechselseitigkeit. “ (S. 63) Dankbarkeit ändert also alles und impliziert auch die Änderung unseres Wirtschaftssystems. Unendliches Wachstum beruht auf der Beziehungsweise der danklosen Ausbeutung, während das natürliche Kreislaufwirtschaften der Tier- und Pflanzenwelt Modell stehen könnte für menschliches Wirtschaften. 

Und welches Risiko birgt es, Kultstätten für Göttinnen einzurichten und ihnen hierher (Versöhnungs-)Geschenke zu bringen, wie es früher Gang und Gebe war, wie auch Dorothee an einem Beispiel zeigt: „Einen bleibenden Eindruck hat bei mir die Besichtigung der wahrscheinliche ältesten Kupferbergwerke der Welt – etwa 6000 Jahre alt – während einer Israelreise hinterlassen. Zwischen Schächten und Schmelzlagern gab es zahlreiche Kultstätten der Göttin, in der Mitte einen großen Tempel, der in (späterer) ägyptischer Zeit der Göttin Hathor geweiht war. Hier wurden der Göttin Versöhnugnsgeschenke gebracht, da ja ihr Leib, die Erde durch die Grabungen verletzt worden war. Gleichzeitig wurde ihr gedankt für das Erz, das sie den Menschen schenkte.“ (S. 96f.)

Ökologische Wirtschaftsansätze kritisieren, dass wir uns zuerst als Konsum-Bürger*innen identifizieren und selten als Bürger*innen eines Ökosystems. Es wäre also an der Zeit, ein Wirtschaftssystem zu kreieren, in dem Menschen zusammen mit nichtmenschlichen Wesen gedeihen können.

Ein Gefühl, das Dorothee sowie Robin anführen, ist das des Genug, der Enoughness.

Dorothee schreibt (das zitiere ich aus einem bzw-Artikel “Von der Begrenzung zur Selbst-Beschränkung des ‘Genug'”): „Wenn ich dankbar sein kann dafür, dass ich genug habe, genug zu essen, genug Schönes in meiner Umgebung, genug gute Beziehungen, genug Kleidung, genug kulturelle Anregung, genug attraktive Freizeit- und Urlaubsmöglichkeiten, genug sinnvolle Arbeit, die mich befriedigt und nicht überfordert, dann bin ich weniger anfällig für den Sog durch all das Zuviel um mich herum, dann kann mir das ständige ‘schneller, besser, mehr’ nichts anhaben.“ Und sie führt weiter aus: „Die Orientierung am „Genug“ ist kein Verzicht, es ist noch nicht einmal eine Beschränkung. Sie erfordert nur, dass ich gut auf mich achte. Und doch kann sie helfen, das Zuviel zu reduzieren, das unser Leben schwer und unsere Erde kaputt macht.“

Und Robin schreibt: „Wissenschaftliche Daten sagen uns, dass es „genug“ Nahrung auf dem Planeten für 8 Milliarden Menschen gibt. Und trotzdem sterben die Menschen noch an Hunger. Stellen wir uns nur einmal vor, was wäre, wenn jede Person nur ‚genug‘ nähme. Der Wohlstand und die Sicherheit, die wir anstreben, könnten durch das Teilen erreicht werden. (kleine Anmerkung an dieser Stelle: es wird im Buch ersichtlich, dass Robin Wall Kimmerer das Grundproblem unseres Wirtschaftens nicht nur in der Verteilungsfrage sieht) Ökopsycholog*innen haben gezeigt, dass Praktiken der Dankbarkeit dem Hyperkonsum Einhalt gebieten. Die Beziehungen, die durch Geschenke genährt werden, vermindern unser Gefühl des Mangels und der Begierde. (…) Klimakatastrophe und Biodiversitätsverlust sind die Konsequenzen eines nicht enden wollenden Nehmens der Menschen. Könnte die Kultivierung von Dankbarkeit nicht Teil der Lösung sein?“ (12f.)

Eine Kultur der Dankbarkeit würde unser Leben um die Anerkennung und Verantwortlichkeit für die erdlichen Geschenke konstruieren, und zwar zeremoniell sowie pragmatisch. 

Dankbar sein für die Gabe der Dankbarkeit

Während des Beschäftigens mit den Büchern von Dorothee und Robin Wall Kimmerer und des Schreibens dieses Textes ist mir irgendwann aufgegangen, dass die Dankbarkeit die eigentliche Gabe an die Menschheit ist. Wir können dankbar sein dafür, dass wir dankbar sein können. In der Dankbarkeit zeigt sich Liebe und Wertschätzung gegenüber anderen Subjekten, und die Liebe sollten wir immer zeigen, egal für wen oder wofür wir sie gerade empfinden. Denn die Liebe ist nicht eigennützig, wie wir nicht erst aus der Bibel wissen. In dieser Uneigennützigkeit führt sie uns immer zurück in die planetaren Grenzen. 

Ungleichgewicht und Ungleichzeitigkeit

Das bringt mich noch auf einen letzten Gedanken: Ungleichzeitigkeit und die Unmöglichkeit des Aufwiegens von Gaben: 

Ich kann mir vorstellen, dass ein Effekt von mehr menschlicher Erdverbundenheit neben dem größer werdenden Bewusstsein von weltlich-menschlichem Geben und Nehmen auch der sein könnte, dass das Risiko des zwischenmenschlichen Gebens, über das Dorothee so viel schreibt, geringer wird. Aber da kann ich mich auch irren.

Dorothee schreibt außerdem: „Die Gabe hat – im Gegensatz zum Tausch – einen Horror vor der Gleichheit. Sie strebt, bezogen auf längere Zeiträume abwechselnd, immer wieder neue Ungleichheit an. So entsteht ein Ungleichgewicht, aus dem sich eine ewige soziale Bewegung ergibt. Eine als solche erkennbare Gegengabe kann auch ganz ausbleiben, doch die Gebenden erleben ihr Geben trotzdem als Gewinn für sich selbst, z.B. beim Blutspenden, bei ehrenamtlichem Engagement, bei Gaben an Kinder oder beim Vererben. Oft ist die Gegengabe auch größer als die Gabe. Manchmal gibt es mehrere Gegengaben, gleichzeitig oder über einen längeren Zeitraum verteilt. Gleichheit und Gleichwertigkeit sind der Tod der Gabe, denn sie beenden ihre Vorwärts- und Erweiterungsbewegung. Die Kette der Geschenke reißt damit ab. Godbout zufolge herrschen Rivalität, Konkurrenz und oft auch Neid und Missgunst nur dort, wo Gleichheit angestrebt wird, also in der Welt von Markt und Tausch.“

Ich musste nach dem Lesen dieses Abschnittes an die Mutter-Kind-Beziehung denken. Hier ist eigentlich nie klar, wer gerade wem etwas schenkt, hier geschieht glaube tatsächlich viel gleichzeitig. Zu Beginn dieser Beziehung steht das größte aller Geschenke: das Lebengeben. Nie wird das Kind je adäquate Gaben finden, um dieses Geschenk „aufzuwiegen“, und es ist auch in der Natur gar nicht darauf angelegt. Mir wird bewusst, dass hier die Zyklizität komplett eingeschrieben ist; Werden, Gedeihen und Sterben. Gleichwertigkeit wäre tatsächlich der Tod dieses Kreislaufs. Und dann ist es ja auch wieder nur eine Frage der Definition oder der Perspektive: denn das Kind beschenkt die Mutter unentwegt; mit Lachen, Freude, Liebesbekundungen aller Art (was passiert, wenn diese ausbleiben, darüber schreibt Dorothee auch, sehr interessant!), mit dem Teilen von Kummer; damit, das Mutterleben durch die Teilhabe an diesem Kinderleben um ein Vielfaches zu erweitern. All dies sind tagtägliche Gaben; eine Hin- und Herbewegung zwischen Mutter und Kind. Wie könnte man in dieser so ungleichen Beziehung der Abhängigkeits- und Verantwortungsverteilung je von „Aufwiegen“ sprechen? Mit schießt dein Beispiel in den Kopf, Dorothee, als du eine Klasse gebeten hast, bitte gleich zu Beginn des Unterrichts leise zu sein, weil es für dich dann so viel einfacher sei. Und du empfandest es als Wunder und als Geschenk, dass die Klasse das dann auch tatsächlich tat. Geschenke können so vielfältig sein, und sie sehen zu können, ist wiederum ein Geschenk, das man sich selber machen kann. 

Des Geschenk nicht erkennen

Ich erinnere mich an meine frühe Pubertät; vielleicht war ich so 13-15 Jahre. Ich schaute mit meiner Mutter den Film Salz auf meiner Haut. Ich habe den Film nie wieder geschaut seitdem, aber ich erinnere mich an eine Szene, in der der Geliebte, der – so glaube ich mich zu erinnern – in einem Leuchtturm wohnt, seiner verheirateten Geliebten, die wohlhabend zu sein und ein elitär bürgerliches Leben in einer Großstadt zu leben scheint, ein kleines kitschiges Geschenk macht. Sie findet das Geschenk komplett unter ihrer Würde, und wenn ich mich recht erinnere, ist das Geschenk für sie der Auslöser, diese Beziehung beenden zu können. Meine Mutter war sehr ungehalten über die Reaktion der Frau auf das Geschenk. Ich fragte sie, was sie so aufregte. Sie sagte, die Frau würde nicht begreifen, wieviel Liebe und Hingabe in diesem kleinen Geschenk lag, und was er ihr wirklich schenkte. Ich sagte so etwas in der Art wie: „Aber wenn ihr das Geschenk nun mal nicht gefällt, wenn es gar nicht ihr Geschmack ist, wenn sie sich von ihm nicht gesehen fühlt?“ Und meine Mutter wiederholte wieder: „Sie hat nicht verstanden, wie wertvoll das Geschenk war.“ Vielleicht sagte sie auch so etwas wie „Er hat sich ihr komplett geöffnet und ihr mit dem Geschenk die Welt zu Füßen gelegt.“ Jedenfalls war es das, was ich fühlte, was sie damit meinte.

Immer, wenn es ums Schenken geht und welches Geschenk für wen angemessen und schön sein könnte, denke ich an diese Filmszene und die Worte meiner Mutter. Es begleitet mich als stetige Unruhe(, die ich – wenn ich es recht sehe – als ein „Geschenk für das ganze Leben“ mitgenommen habe). Mit einem Geschenk möchte man einerseits etwas von sich schenken; andererseits möchte man auch zeigen, dass man die andere Person wirklich sieht und weiß, was ihr gefällt. Je älter ich werde, desto mehr begreife ich, dass es Geschenke gibt, die für die schenkende Person zwar viel bedeuten, die man selbst aber kaum wertschätzen kann, weil man „inhaltlich“ oder „designtechnisch“ oder wie auch immer gar nichts damit anfangen kann. Mittlerweile denke ich, dass wenn diese Geschenke nicht aus Unsicherheit oder purem Narzissmus geboren sind (Narzissmus triggert mich arg; noch schaffe ich es nicht gut, aber wahrscheinlich kann man auch in narzisstisch geprägten Geschenken irgendwie Schönheit finden? Aber wie geht das, wenn der Anteil, den man in eine Beziehung gibt, von der anderen Person lediglich dafür genutzt wird, in das eigene Spiegelkabinett einzubauen? Das ist eher eine Frage… falls eine Leser*in darauf eine Antwort hat?), diese Person mit dem Geschenk etwas mit mir teilen möchte, das ihm wichtig ist. Ich sehe es als Einladung, sie besser kennenzulernen zu dürfen: „Schau, das weißt du noch nicht von mir, aber das bin auch ich, und es ist mir wichtig, dass du mich um diese Sache erweiterst.“ Oft verbirgt sich dahinter also eines der schönsten Geschenke überhaupt: die Einladung zu einer Vertiefung der Beziehung. 

Wenn ich mich recht erinnere, war das Geschenk des Leuchtturmgeliebten an seine Geliebte aus gutem Hause eine Art kleine Schmuckkiste, komplett verziert mit Muscheln. Was wäre gewesen, wenn sie das Angebot als eine Einladung zu einem gemeinsamen Leben, also für eine Vertiefung der Beziehung verstanden hätte? Sie kann dann immer noch „Nein“ sagen (wie sie es ja eh hat am Ende), aber mit der Wertschätzung und der Anerkennung des Wertes des Geschenkes hätte sie ihn „zumindest“ wahrhaftig gesehen. Stattdessen hat sie das Geschenk herabgesetzt und als Auslöser genommen, ihn als „ihrer nicht würdig“ zu befinden. Sie hat sich selbst nicht gesehen gefühlt, und hat ihn gleichzeitig nicht gesehen. Doppelte Blindheit in gewisser Hinsicht (ein Merkmal von Narzisst*innen im Übrigen, aber ob das auf die Frau zutrifft, das kann ich wirklich nicht mehr beurteilen, da müsste ich den Film nochmal anschauen). Es ist nicht egal, wie und warum man Beziehungen beendet, auch wenn das Resultat – das Schlussmachen – eben dasselbe sein mag. Denn sie hat sich selbst um das Gefühl der Dankbarkeit gebracht. Wertschätzung (für ein Geschenk) trägt in gewisser Weise schon die Dankbarkeit in sich. 

Vielleicht – frage ich mich – können bewusste Geschenke immer nur Symbole der Liebe und Anerkennung sein. Mal schenke ich in einem Geschenk mehr von mir, mal nehme ich mich zurück und schenke nur „mit der anderen Person im Blick“, ohne also mich selbst in das Geschenk „sichtbar“ einzuweben. Ich finde, beides hat seine Zeit und seine Berechtigung. In einer guten und engen Beziehung fühlt man vielleicht auch immer ein bisschen, was gerade mehr Gewicht haben kann und darf.  

Dabei entspricht meinem Gefühl nach die Zyklizität von Geburtstagen und Weihnachten – also offiziellen Geschenkanlässen – nicht immer der natürlichen Zyklizität, die aber eben von Unregelmäßigkeit und Ungleichgewicht geprägt ist. Vielleicht wurden einen Monat zuvor bereits Worte oder Zeit geschenkt, die so hilfreich, wohltuend oder heilsam waren, dass es Geschenk genug war. Ich verstehe schon, dass solche offiziellen Tage als „Ort“ der Zelebration der Beziehung wichtig und oft symbolträchtig sind. „Ich liebe doch die Person, und das Geschenk muss das unbedingt wiederspiegeln!“ Und manchmal entstehen aus der intensiven Beschäftigung mit der anderen Person wundervolle Geschenke, die sonst nie entstanden wären. Aber manchmal setzen sie auch einfach nur unter Druck, weil es einfach nicht „die natürliche Zeit“ ist. Oder man entdeckt erschrocken, dass die Beziehung nicht mehr die ist, für die man sie hielt, dass irgendwas verrutscht ist. Ich habe keine Lösung für all das, aber es ist schön, wenn Gespräche darüber möglich sind. Deswegen ist eines der schönsten Geschenke immer noch Zeit für die Beziehung.

Noch einmal zurück zum Ungleichgewicht und zur Ungleichzeitigkeit:

Das Beispiel aus Salz auf meiner Haut zeigt, wie riskant und kompliziert schenken in der exklusiven Menschenwelt sein kann, und dass die Tiefe und Intention einer Gabe von einer Empfänger*in nicht immer erkannt – ja sogar die Gabe selbst nicht immer erkannt werden kann. Zwischen Mensch und Nicht-Mensch können wir die Gaben meist gar nicht sehen; außer in der Beziehung zwischen Haustier und Mensch ist das vielleicht noch möglich. 

In der Nicht-Menschen-Welt  gibt es dieses Risiko kaum, wie Robin Wall Kimmerer so wunderschön beschreibt (ich habe zu spät gesehen, dass es das Büchlein bereits in deutscher Übersetzung gibt; jetzt müsst ihr euch mit meiner holprigen Übersetzung begnügen): „So, fragen wir den Felsenbirnbaum. Diese etwa drei Meter hohen Bäume sind die Produzenten dieser Ökonomie. Die frei verfügbaren Rohstoffe Licht, Wasser und Luft nutzend, verwandeln sie diese Rohstoff-Geschenke in Blätter und Blumen und Früchte. Sie verwahren etwas Energie als Zucker für das Wachsen ihrer eigenen Körper, aber vieles der Energie wird geteilt. Der reiche Frühlingsregen und die Sonne zeigen sich in der Form der Blumen, welche ein Festmahl für Insekten hergeben, wenn es kalt und regnerisch ist. Die Insekten geben diesen Gefallen zurück, indem sie Pollen übertragen. Nahrung gibt es genug für den Felsenbirnbaum, aber Bewegung ist nicht möglich. Bewegung ist ein Geschenk der Bestäuber, aber die Energie, die gebraucht wird, um geschäftig herumzufliegen, ist Mangelware. Also kreieren die Bäume und die Insekten eine Beziehung des Austauschs, die beiden zugutekommt. Im Sommer, wenn die Äste beladen sind, produzieren die Felsenbirnen eine Zuckerfülle. Horten sie ihre Energie für sich selbst? Nein, sie laden die Vögel ein zum Festmahl. Kommt, meine Verwandten, füllt eure Bäuchlein, sagen die Felsenbirnen. Lagern sie ihr Essen nicht in den Mägen ihrer Brüder und Schwestern – den Eichelhähern, den Spottdrosseln und den Rotkehlchen? Ist das nicht eine Ökonomie? Ein Verteilungssystem von Gütern und Diensten, welche auf die Bedürfnisse der Gemeinschaft treffen. Die Währung dieses ökonomischen Systems ist zum einen Energie, welche durch das System fließt; und zum anderen sind es die Stoffe, welche zwischen Produzent und Konsument zirkulieren. Es ist ein Verteilungssystem des Wohlstands, des Austauschs von Gütern und Diensten. Jedes Mitglied hat eine Fülle von etwas, was sie den anderen anbietet. Die Fülle von Beeren ist für die Vögel da – welchen Nutzen sollten die Beeren sonst für den Baum haben als jenen, eine Beziehung zu den Vögeln aufzubauen?

Zu viele Beeren zu essen hat denselben Effekt auf Vögel wie auf Menschen. Purpurrote Platscher dekorieren die Zaunpfosten. Darum geht es den Beeren ja übrigens: sich unwiderstehlich machen und im Überfluss vorhanden sein, sodass Vögel kommen und ein Festmahl halten, so wie wir Pflückenden es jeden Abend machen, und dann die Samen weit und breit verstreuen. Zum Fest einladen hat noch einen anderen Vorzug. Während des Weges durch die Vögelgedärme wird der Samen angeritzt, und das regt das Keimen an. Die Vögel bieten den Felsenbirnen diesen Dienst an, welche wiederum im Gegenzug für sie vorsorgen. Die Beziehung, die durch die Gabe geschaffen wurde, schafft wiederum eine Vielzahl an Beziehungen zwischen Insekten und Mikroben und Wurzelsystemen. Die Gabe wird mit jedem Geben vervielfacht, bis es so reich und süß zurückkommt, dass es weiterwirbelt als der Vogelgesang, der mich am Morgen weckt. Wenn die Fülle gehortet worden wäre, wenn die Felsenbirne nur für ihren eigenen Nutzen agiert hätte, würde sich der ganze Wald (forest) verkleinern.“ (S. 68ff.)

Ist eine solche Ökonomie auch zwischen Menschen und zwischen Menschen und Nicht-Menschen möglich? Robin Wall Kimmerer führt an anderer Stelle das Beispiel von Daniel Everett an, einem Linguisten, der bei seinen Beobachtungen im brasilianischen Urwald einen Jäger fragt, wie er das Fleisch des Tieres zu lagern gedenke, denn er könne unmöglich alles mit seiner Familie vor dem Schlechtwerden verspeisen. Der Jäger versteht die Frage nicht: das Fleisch lagern? Warum sollte er das tun? So geht das Ringen um gegenseitiges Verständnis noch eine Weile weiter. Am Ende antwortet der Jäger: Ich lagere das Fleisch in den Mägen meiner Nachbar*innen.

Wenn ich mit „früheren Zeiten“ beginne und was da alles besser gelaufen ist in den Beziehungsweisen zwischen Mensch und Nicht-Mensch, bekomme ich sehr schnell gesagt, „ja aber wir wollen doch nicht zurück ins Mittelalter oder in die Steinzeit“. Genauso wie ich beim Reden über das zerstörerische System des Kapitalismus immer höre „ja aber Sozialismus ist auch nicht die Lösung!“ Ich wünsche mir, – vielleicht in dem Sinne, wie sich Dorothee von ihren Schüler*innen mehr Ruhe zum Unterrichtsbeginn gewünscht hat –, dass die Gespräche einfacher werden, dass mehr Offenheit besteht. Ich glaube, es ist doch allen mittlerweile klar, dass wir sehr viel ändern müssen, und die technokratische Nettonull als einzige Lösungssuch-Option raus aus der Klimakrise nicht der Weg sein kann. Wir haben nicht nur eine Klimakrise; die Wurzeln der Krise liegen auch in einer spirituellen Krise, oder sagen wir, in einem Verlust von welthaltiger Spiritualität. Warum nicht von unseren Vorfahr*innen und jenen Seins-Formen lernen, die jetzt noch so viel über Beziehungen und Beziehungsaufbau und Beziehungspflege zwischen Mensch und Nicht-Mensch wissen?

Dankbarkeit dafür, dass es das Wissen bereits gab und weiterhin gibt, ist ein erster Schritt. Danke dafür sagen morgens nach dem Aufstehen, vielleicht ein zweiter. Viele klitzekleine Schritte – vielleicht auch noch viele unbewusste – bin ich gegangen seitdem. Ich bin neugierig, wohin sie mich führen werden.

Ich weiß nicht, wie es euch nach dem Lesen geht, aber ich trage nach diesem Durcharbeiten ein Gefühl der Geborgenheit in mir. Ich weiß, dass es Beziehungsweisen gibt, die auf mein Erkennen warten. 

Das ist doch eine hübsche Perspektive auf die momentan in weihnachtliche Gefühle getunkte Welt, oder? Und es ist gleichzeitig etwas, das ich mir für das kommende Jahr 2025 vornehmen werde. Schöne Aussichten also!

In diesem Sinne wünsche ich allen Leser*innen besinnliche Weihnachten voller Gefühle der Dankbarkeit und einen guten Rutsch ins neue Jahr! Mögen eure Wünsche und Gaben die Welt halten! 

Kommentare zu diesem Beitrag

  • Elfriede Harth sagt:

    Liebe Anne,

    warum wohl Re-ligion Beziehung bzw Rückbindung bedeutet? Wie kamen wohl unsere Vorfahr:innen darauf? Warum sind “Re-ligio”, “Beziehung”, “Bindung” alles weibliche Worte?
    Warum sprichst Du von “die Körperin” aber von “der Verstand” (und warum ist dieser Begriff in romanischen Sprachen weiblich: “die ratio”, “la razón”?
    Warum heißt es “die Seele” und “die Spiritualität” – und “die Transzendenz” (und was ist das?)
    Welchen Zusammenhang gibt es zwischen “danken” und “Gedanken” – (“think” and “thank”)?
    Ist Sprache nicht eine wunderbare Allemende, die niemandem gehört, wir alle gemeinsam geerbt haben, vererben werden, weiterentwickeln und die uns miteinander verbindet? Ist es nicht eine faszinierende Form der Transzendenz und der Re-ligio, die uns Zugehörigkeit ermöglicht und Identität stiftet?
    Frohe Weihnachten!

  • Fidi Bogdahn sagt:

    …jetzt weiß ich wieder,
    warum ich Haikus so schätze…
    Genug der Worte!

  • Dorothee Markert sagt:

    Liebe Anne, danke für diesen schönen Text, über den ich mich sehr gefreut habe. Darüber, dass du etwas weiterdenkst, was ich vor vielen Jahren geschrieben habe, und es erweiterst in eine Richtung, die mich ebenfalls freut. Das Buch „Geflochtenes Süßgras“ ist mir auch sehr kostbar.
    Dein Kommentar zu „little girl“: Da es vor der Frauenbewegung geschrieben wurde, fällt es in eine Zeit, in der ich auch gerade erst aufhörte, das „Polenmädchen“ mitzusingen, wenn meine Klassenkameraden es bei unseren Unternehmungen anstimmten. Die Beatles waren damals einfach mainstream. Und: Für die Lieder, die du nennst, bin ich ihnen trotzdem weiterhin dankbar und werde bestimmt nicht aufhören, sie zu hören!

  • Anne Newball Duke sagt:

    Lieben Dank für eure Kommentare.
    Liebe Elfriede, ja absolut, jedes Wort trägt eine sehr sehr lange Geschichte von Transformation in sich, in Bedeutung, Aussprache und Schreibweise… wahnsinnig faszinierend ist das. Über re-ligion habe ich in einem der vorherigen Texte schon was geschrieben… ich sehe das auch im Sinne von Rückbindung. Die Maskulinisierung von “Verstand” im Deutschen ist interessant. Und ja klar… Sprache stiftet Identität, aber verhindert oft eben auch erstmal Zugehörigkeit. Ich wünschte, es wären nicht so viele “Studien” notwendig, um manche eventuellen früheren Bedeutungen wiederentdecken zu können. Vieles ist sehr versteckt, wirklich, und man muss dafür einen Faible haben. Ich wünschte, vieles wäre eingängiger und einfacher zugänglich, damit Sprache im Sinne der Welthaltigkeit (so nenne ich es jetzt mal weiter) einfacher und intuitiver genutzt werden könnte. Ich habe Zeit und Leidenschaft dafür und wackle und wanke dennoch so rum und habe gefühlt noch einen so langen Weg vor mir… wie geht es dann anderen?

    Liebe Dorothee, ach das erleichtert mich, von dir zu hören, vielen Dank! Ich hoffe einfach sehr, dass dieser Abschnitt zu den Beatles nicht mit so moralischem Impetus rüberkommt. Ich finde es sprachlich teils schwer auszudrücken… wenn ich eine Meinung habe, die ich interessant finde zu teilen… es interessiert mich einfach, wie das ganze Gebiet rund ums Canceln in bestimmten Momenten mit mehr Flexibilität und weniger Versteifung und Verkrampfung und Härte weitergedacht werden kann. Und dazu lud dein Text ein, auch weil du gar keine Vorlage gemacht hast, wie du denkst, dass es richtig wäre, jetzt damit umzugehen. Diese Offenheit hat mich inspiriert.

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