Forum für Philosophie und Politik
Über eine Kunstaktion in Esslingen am Neckar
Seit etwa Frühling 2023 habe ich das Bild vor Augen: frisch bezogene Betten in der Stadt. Mitten hinein in die alltäglichen Laufwege der Menschen und damit eine Irritation auslösend, ein Aus-dem-Takt-Kommen und die Notwendigkeit eines klitzekleinen Umwegs verursachend. Einfach nur das, nicht mehr und nicht weniger. Allein dieser imaginäre Anblick – der verwirrte Blick der Passant*innen auf das frischgemachte Bett – machte mich glücklich und war für mich „Kunst genug“. In einer Stadt, die wie kaum eine andere das schwäbische Credo „Schaffe schaffe, Häusle bauen“ verinnerlicht hat, fand ich das eine schöne Provokation. Aber wie und mit wem und mit welchen Geldern umsetzen?
Da kam im Oktober 2023 die Ausschreibung des Esslinger Kulturfestivals „Stadt im Fluss“ gerade recht. Es findet alle drei Jahre statt; dieses Jahr zum 8. Mal. Das Herz des Festivals stellt die Bildung von Kultur-Tandems dar: Kulturvereine und -akteur*innen gestalten gemeinsam mit Vereinen, Akteur*innen oder Aktivist*innen anderer Bereiche, mit denen sie im Alltag nur wenig Berührungspunkte haben, zu den jeweiligen Fragestellungen von „Stadt im Fluss“ ein gemeinsames Projekt und bekommen dafür Geld, vor allem für Materialien usw., aber Künstler*innen bekamen hier auch ein (kleines) Honorar. So sollen Begegnungen verschiedener Akteur*innen und Perspektiven ermöglicht werden; das Festival schlägt also Brücken “über den Fluss“.
Dieses Jahr stellte die Stadt das Festival unter das sehr inspirierende Motto „Stadt im Überfluss?“ und rückte damit die Frage des Überflusses an Konsum, Krisen und Konflikten und die scheinbar unendlichen Möglichkeiten des Konsumierens sowie dessen Auswirkungen in den Fokus. Aber die Frage reichte weiter: Von allem zu viel – und doch zu wenig? Ist es Zeit, unser Streben nach Mehr zu überdenken? Brauchen wir weniger Mehr? (Aus differenzfeministischer Perspektive hätte ich gern noch hinzugefügt: Brauchen wir ein anderes Mehr?) Was genau ist eigentlich überflüssig? Und welche Auswirkungen hat positiver und negativer Überfluss? Welche Alternativen und Lösungsansätze könnte es geben?
Und nun wusste ich auch, mit wem ich die Betten-Idee umsetzen konnte: mit den Parents for Future Esslingen, die ich zusammen mit zwei anderen Müttern 2019 gegründet hatte. Momentan haben wir fünf mitdenkende Mitglieder (und einige „stille“, die da sind, sobald wir konkrete Mithilfe benötigen). Ich stellte ihnen die Betten-Idee vor, und es begannen hitzige Diskussionen: Was hat denn Nichtstun mit Klimagerechtigkeit zu tun? Müssen wir nicht alle viel viel viel mehr und nochmal mehr machen, damit wir uns noch irgendwie halbwegs unversehrt in die planetaren Grenzen zurückbugsieren können? Mitten in diese sehr fruchtbaren und interessanten, aber immer noch Uneinigkeit widerspiegelnden Gespräche organisierte die Stadt eine Art Speed-Dating: Hier sollten und konnten sich die Tandems finden. Ich bekam noch unter Vorbehalt das „Go“ von den anderen Parents.
Der Saal des Rathauses war rappelvoll, und ich war frohen Mutes, uns Parents einen guten Tandem-Partner zu angeln. Nachdem alle Institutionen sich vorgestellt hatten, ging ich auf einige Kunst- und Kulturschaffende zu, mit denen ich mir eine Zusammenarbeit vorstellen konnte. Aber da waren diese jeweils schon mit anderen Gruppen tief ins Gespräch vertieft. Erst, als ich schon etwas resigniert die Jacke anhatte und gehen wollte, kamen zwei Mitglieder des Oberton-Vokalensembles „Beyond Vowels“ auf mich zu, weil sie fanden, ihr Gesang und unsere Betten-Idee: daraus könnte doch etwas entstehen. Ich war sofort Feuer und Flamme!
Mit diesen positiven Nachrichten ging es in die nächsten Parents-Sitzungen. Fest stand nun immerhin: Wir machen mit! Aber immer noch war nicht allen klar: Was haben Betten und Nichtstun und zudem jetzt auch noch andere Bewusstseinszustände, die mit diesem sehr speziellen Gesang „erweckt“ werden können, mit Klimagerechtigkeit zu tun? Um Zeit und Energie gerade im Ehrenamt für so ein doch etwas größeres Projekt in einer so kleinen Gruppe aufbringen zu können, ist es wichtig, dass sich alle in der Projektidee wiederfinden.
Doch nicht nur Schwierigkeiten mit dem Konzept des Kunst-Projektes, sondern noch eine weitere Ambivalenz begleitete uns das ganze Jahr der Vorbereitung: wir beschäftigen uns mit den Möglichkeiten von Zeitwohlstand/„Zeit im Überfluss“ und wie es damit gelingen könnte, Ideen für ein gutes Leben zu entwickeln, aber hatten oft selbst keinerlei Zeitwohlstand: Die Vorbereitungen fanden oftmals in (halb) kranken oder in bedenklichen Erschöpfungszuständen statt, weil es gerade Müttern (darunter einer alleinerziehenden und vor einigen Jahren Geflüchteten) und Vätern mit Kindern im Kita- und Schulalter kaum möglich ist, Zeit für so ein kreatives und auch aufwendiges Projekt aufzubringen.
Aber dennoch gelang es uns, weil wenn wir es denn schaffen, zusammen zu sein und gemeinsam weiterzudenken, dann entsteht fast immer eine wundervolle kreative Energie. Und so entwarfen wir verschiedenste Betten-Konzepte, von denen wir dann am Ende drei zu den Gewinnern kürten: Das Mindestlohnbett, das Burnoutbett und das Traumbett.
Das Traumbett verband uns mit dem Oberton-Vokalensemble: in unseren gemeinsamen Treffen stellte sich heraus, dass wir irgendwann alle mehr oder weniger die Idee spannend fanden, dass wir Menschen anderen Bewusstseinsformen wieder mehr Aufmerksamkeit schenken müssen, um aus ihnen neue Ideen für ein gutes Leben für alle Würdeträger*innen dieser Welt entwickeln zu können. Der rationale Bewusstseinszustand gibt uns hier einfach nicht mehr genug sinnvollen Input, der uns wirklich in die planetaren Grenzen zurückbringt; er ist zu „verseucht“ von jahrtausendealtem Patriarchat und Kapitalismus usw.; ja seine Dominanz und schleichende, bald in alle Lebensbereiche hineinreichende Ausschließlichkeit hat uns überhaupt erst über viele Jahrhunderte in diesen desaströsen Weltzustand hineinmanövriert. Andere Bewussteinsformen wie zum Beispiel jener in den Nachtträumen zeigt uns fast jede Nacht, was nicht richtig läuft in unseren jeweiligen sehr individuellen Lebensentwürfen und Identitätskonstrukten und Beziehungsweisen.
Aber Nachtträume könnten uns Europatriarch*innen weit über das Anzeigen von Stress, Angst, Überforderung und Ungenügsamkeitsgefühlen im Alltag hinaus wichtige Ideen für ein gutes Leben geben. In indigenen Kulturen in der ganzen Welt ist genau das Realität, Alltag und Erfahrungswissen, und zwar bereits jahrzehntetausendelang. Deutungshoheiten zu entkolonialisieren, müsste bedeuten, diese Wissensbestände ernst zu nehmen; beginnend bei der Frage: Warum messen wir Europatriarch*innen den Träumen keine Bedeutung zu? Warum hetzen wir lieber das ganze Leben in unseren Nachtträumen halbnackt durch die Stadt, verpassen Züge, vergessen die wichtigen Unterlagen, können unsere Kinder am Abgrund nicht festhalten oder werden von Riesenspinnen bis in den hintersten feuchten Kellerraum verfolgt, wo es kein Entrinnen mehr gibt? Warum ziehen wir keine Schlüsse aus diesen Träumen, warum ignorieren wir sie (und damit auch beispielsweise die Traumspinne, die uns vielleicht etwas Wichtiges mitteilen wollte) und verdammen sie dadurch als Endlosschleife in unser Nachtbewusstsein?
Und warum wünschen wir uns nicht Träume, die uns mehr über unser Sein und Wirken auf dieser Welt verraten könnten? Aber da sind wir wieder beim Burnout-Dilemma: Um weltverbundene Träume zu erlangen, müssten die meisten Europatriach*innen ihr gesamtes Leben umstellen. Aber vielleicht muss es auch nicht gleich die ganz große Umwälzung sein. Vielleicht reicht es, erstmal ganz behutsam Kontakt mit anderen Lebewesen und Seinsformen aufzunehmen; oder ganz behutsam das in jeder Person schlummernde kosmische Bewusstsein zu wecken. Vielleicht muss der Wandel eh organisch geschehen und nicht als Hauruck-Aktion. Oder vielleicht ist es bei jeder Person anders. Jede noch so kleine Umstellung kann ein großer individueller Schritt hinein in die planetaren Grenzen sein; davon bin ich überzeugt. Das ist der Wandel, den wir brauchen: Menschen müssen befähigt werden, wieder tiefen Kontakt mit der Welt aufzunehmen.
Obertongesang braucht Ruhe und Langsamkeit. Lässt man sich in ihn fallen, fällt man aus Raum und Zeit hinein in andere Seinsebenen. Das Besondere am Obertongesang: Er hat keinen Text. Der Fokus liegt ganz auf dem klanglichen Aspekt. Dennoch können uns die Obertöne zutiefst berühren. Sie bringen uns in Verbindung mit einem höheren, universellen Prinzip. Töne von ätherischem Charakter schweben scheinbar schwerelos im Raum. Man kann nur schwer orten, wo sie herkommen, vielmehr umgeben sie die Zuhörenden von allen Seiten. Sie klingen wie aus einer anderen Welt und werden oft mit spirituellen Erlebnissen assoziiert.
Zum Glück haben wir in den Reihen unserer Parents die wundervolle Künstlerin Moujan Taher, die zu dem Gesang eine berührende Traumbett-Performance im Sinne der Erforschung der Langsamkeit und des Gedeihens gestaltet hat.
Unser Traumbett stand auch einen Tag lang auf einer kleinen hübschen Fußgängerbrücke mitten in der Stadt. Es gehört zum common sense vieler indigener Kulturen, dass sich der Mensch eigentlich nie schneller bewegen sollte als das schnellste Lebewesen oder Seinsform in der ihn umgebenden Natur. Für Menschen, die am Fluss leben, bedeutet dies, nie schneller als der Fluss zu sein, weil sie sonst die Bindung zu der sie umgebenden Welt verlieren. Und ein Mensch ohne eine solche Bindung begibt sich viel einfacher auf tödliche Pfade raus aus den planetaren Grenzen. Die sich verändernde Beziehungsweise oder gar die Beziehungsauflösung ist hier nicht metaphorisch zu verstehen; sie ist ganz real und konkret.
Eine Maßnahme hinein in die planetaren Grenzen wäre also, die Nachtträume wieder dem Flussrhythmus zu überlassen. Im Flussrhythmus geträumt, geben Träume sicher Hinweise und Ideen für ein gutes Leben innerhalb der planetaren Grenzen, die uns Menschen auch im rationalen Bewusstseinszustand leiten können.
Das Burnoutbett ist konzeptionell das absolute Gegenteil vom Traumbett. Was macht eine von den gesellschaftlichen Anforderungen völlig erschöpfte Person stundenlang in ihrem Bett? Nach Erholung oder raumöffnendem Nichtstun sieht das nicht aus. Es gibt also gleichzeitig – neben der Notwendigkeit von Nichtstun – auch ein Zuviel an menschenunwürdigem Zeitstillstand auf der anderen Seite. Ein Zuviel an (Lebens-)Zeitverschwendung. Zuviel Energie und Zeit fließt dann in erschöpfende, menschenunwürdige Tätigkeiten und Kämpfe, in das Ertragen von Gewalt und Ungerechtigkeit. Für viele Menschen kann dadurch zu wenig Energie in die Liebe (zur Welt), in Wahrnehmung, Erkenntnis, Wertschätzung usw. fließen. Viele Menschen mit schweren Traumata – beispielsweise Geflüchtete – fühlen sich erschöpft oder rastlos ans Bett gekettet, gezwungen zum Nichtstun. Menschen müssen immer die Möglichkeit haben, weniger Zeit in Betten verbringen zu müssen. Sie müssen aufstehen dürfen, sie brauchen Heilung. Und für Heilung braucht es nicht selten wiederum ein Herausfallen aus den gesellschaftlich akzeptierten Rhythmen und Angeboten.
Der Rhythmus, der Takt, den unsere Gesellschaftsordnung vorgibt, ist schneller als der Fluss, der durch unsere Stadt fließt. Noch immer befinden wir uns in einer Zeit des „Weiter-So“, des „Schneller, Höher, Weiter, Besser, Schöner, Länger-leben-Wollens“, des „Schaffe Schaffe“ – sind wir von Zielen und „Tugenden“ geradezu besessen, die im Zeichen des im wahrsten Sinne des Wortes unermüdlichen Tuns und Machens stehen. Das Leistungsprinzip bestimmt unser Leben und Streben: nur wer etwas „leistet“, hat ein Recht auf ein gutes Leben. Das positive Sprechen über all das Abrackern ist Teil der neoliberalen Erzählung, das weit älter ist als der Kapitalismus: „Wer rastet, der rostet“, „Morgenstund hat Gold im Mund“, „Der frühe Vogel fängt den Wurm“, „Carpe Diem“ usw.
Aber auch in der Klimabewegung ist dieser Leistungsdruck teils übernommen worden, ganz nach dem Motto: Wenn ich nicht alles tue und noch viel mehr – auch weit über meine Kräfte, eventuell sogar bis zum Hungerstreik –, dann habe ich nicht meinen Teil zur Rettung der Welt beigetragen. In so einem Zustand des Sich-Kaputtrackerns bis kurz vor den Burnout oder gar Tod ist es absolut unmöglich, über das gute Leben für alle nachzudenken. Wenn ich nicht gut zu mir selbst bin, wie kann ich dann gut zur Welt sein?
Wie oft haben wir Parents gehört: ich würde ja gern klimaaktiver sein, aber ich habe keine Zeit. Und wir verstehen das absolut, denn wir sind ja auch oft total k.o. Aber wie können wir denn aus der Ameisenmühle (googelt mal Ameisenmühle! Sehr interessant!) ausbrechen, bevor wir in ihr getötet werden?
Nach fünf Jahren Klimaaktivismus ist eins unserer Esslinger Parents-Fazite: Wir alle brauchen mehr Zeit, um wirklich tief und innig über unser Wirken, unser Verhältnis und unsere Beziehungsweisen in der und mit der Welt nachzudenken, und so unser Wirken und unser Sein in ihr und mit ihr wirklich nachhaltig zu verändern. Wir müssen zuerst darüber nachdenken, woher wir “freie Zeit” nehmen können. Mehr Nichtstun, das der Lohnarbeit abgezwackt wird, bedeutet meist ein finanzielles Downgrade; es kann einen Klassenunterschied ausmachen. Was bedeutet das für das Selbstbild, den Lebensstandard, ist es überhaupt möglich, weniger zu verdienen, werden dann noch alle existentiellen Notwendigkeiten abgedeckt? Das alles sind sehr schwierige und umwälzende Fragen. Denn fast niemand kann von heute auf morgen dem Gesellschaftsvertrag entkommen, dass das Geld zum Leben (teils hart und manchmal ohne Freude oder Sinnhaftigkeit) verdient, das Haus geputzt, Familienmitglieder versorgt und Kinder liebevoll erzogen werden müssen und wollen, dass auch noch Zeit für das Hobby bleiben muss und der Urlaub die notwendige Erholung für das Weiterfunktionieren bringen muss usw. usf.
Das Burnoutbett stand am Samstag, den 28.9.24 für 6 Stunden auf einer kleinen Insel mitten auf einer der meistbefahrenen Kreuzungen der Stadt. Hunderte von Menschen in Autos, Bussen, Motorrädern, Fahrrädern und zu Fuß kommen hier stündlich vorbei. Bei etwa jeder dritten Ampelschaltung von rot auf grün wurde ordentlich gehupt – die Performance schien die Leute am Steuer in ihren Bann zu ziehen. Jedes Hupen fühlte sich dadurch für uns wie ein Applaus an.
Wir entwickelten vier Performances für je anderthalb Stunden:
Den Anfang machte ein geburnouteter Klimaaktivist. Das Gefühl, dass politisch nichts getan wird, dass sich eher alles verschlimmert, hat sich in seinen Körper gefressen in Form von Panik und Erschöpfung. Unermüdlich war er jahrelang auf der Straße, gefühlt ohne Erfolg. Zudem die schleichende, aber bereits massiv spürbare Kriminalisierung der Klimabewegung. Das Bild von Steffen, der selbst sehr aktiv auf verschiedenen Ebenen der Klimapolitik ist, berührt mich zutiefst. Es löst bis jetzt Tränen in mir aus, sobald ich nur an das Foto denke. Ich kenne diese Erschöpfung und auch das Gefühl der Hilflosigkeit so gut.
Anderthalb Stunden besetzte eine geburnoutete Familienmanagerin das Bett: Am Bett multiple Zettelchen befestigt, die sie an alles erinnert, an was sie denken muss: die Windeln der Mutter sind undicht, es müssen dringend neue besorgt werden! Die Pflege der (kranken? alten?) Mutter obliegt also anscheinend ihr. Es muss ein Termin beim Kieferorthopäden ausgemacht werden! Die Tochter hat plötzlich Gluten-Intoleranz! Was bedeutet das für den täglichen Essens-/Kochplan für die ganze Familie?? Ein Ausflug in den Wald im Kindergarten steht an: Zeckenimpfung muss u.a. gemacht werden! Die Winterreifen müssen gewechselt werden! Ein Kindergeburtstag muss geplant werden! Was passiert, wenn sie ausfällt? Wer macht dann all die unbezahlte Care-Arbeit, das ganze Familien-Mental-Load? Warum nimmt ihr niemand etwas Arbeit ab, damit sie auch Spaß empfinden kann? Was ist hier los?
Danach besetzte ein erschöpfter Manager – jene, die ausziehen, um den Kapitalismus zu retten – das Burnoutbett. Sicherlich hat er nicht nur viel zuviel Arbeit und Verantwortung für viele Mitarbeiter, sondern er weiß mittlerweile, dass das, was die Firma, in der er arbeitet, produziert, nicht gut ist im Sinne des guten Lebens für alle. Wie fühlt er sich beispielsweise in einer Firma, die Kriegswaffen herstellt, und für deren Verkäufe er zuständig ist, und von denen er natürlich weiß, dass diese nicht nur das Klima killen? Wie viele für den Körper ungesunde Denkschranken und denkerische Fehlleitungen und -konstruktionen braucht ein solcher Mensch, um weiterhin funktionieren und seiner Arbeit nachgehen zu können?
Und was passiert, wenn er diese Arbeit sein lässt? Mit welchem Geld wird dann der familiäre Lebensstandard gehalten? Gibt es überhaupt vergleichbare Jobs mit ähnlich hohem Verdienst, welche die Welt nicht zerstören? Und klar, darüber denkt er natürlich auch nach: Muss er überhaupt so viel Geld verdienen? Geht es nicht eine Nummer kleiner? Aber das noch längst nicht abbezahlte Haus, die Kinder in den Privatschulen, der Urlaub… sollen sie das alles lassen? Können sie dann glücklich sein in dieser Gesellschaft, in der die Sicherheit – und zwar nicht nur die finanzielle – mit dem Einkommen steigt? All diese belastenden gedanklichen Endlosschleifen trägt dieser Mann in der Rolle als Manager mit sich herum. Ich möchte gar nicht wissen, wie seine Nachtträume aussehen.
Eine junge Mutter mit einem frischgeborenen Baby wühlte sich als letztes durch das Burnoutbett. Es wird sofort klar: sie hat keinerlei Hilfe mit dem Baby, sie kann ihr Baby nicht genießen, sie ist heillos überfordert. Niemand fragt sie, wie es ihr besser gehen, wie sie wieder in Balance kommen könnte. Der Ehemann hilft nicht mit; er ist vielmehr eine zusätzliche Belastung, besonders emotional. Er bittet sie beispielsweise, von ihm verkipptes Bier aufzuwischen und beschwert sich, dass das Kind die ganze Zeit schreit; er habe nach seiner anstrengenden Lohnarbeit auch mal Ruhe und ein bisschen Bemutterung verdient; und überhaupt, wie sieht es hier nur aus??
Ich sah meinen beiden Parents-Freund*innen bei ihrem Schauspiel zu, und obwohl es mich auch sehr amüsierte, fühlte ich den Stress in my bones. Wir haben lange überlegt, ob das Bild zu klischeehaft ist. Aber aktuelle Erfahrungen und Schilderungen aus Freundes- und Familienkreisen zeigten uns: es ist leider immer noch oft so. Wir blamen hier auch nicht nur den unfähigen Vater/Ehemann, der nicht sieht, wie sehr seine Frau praktische Hilfe und emotionale Unterstützung braucht, ja wie sehr er selbst zur Mutter werden müsste; wir fragen vielmehr: Wo ist hier das Dorf, das ein Kind erzieht? Warum kann diese junge Mutter ihr Kind nicht so genießen, so bei ihm sein, wie sie es braucht und möchte? Was läuft hier alles falsch? Die Antworten sind so komplex wie in allen anderen Burnoutfällen, die wir dargestellt haben. Es gibt keine einfachen Lösungen. Das Europatriarchat hält uns alle in der ein oder anderen Weise mehr oder weniger eng und gewaltvoll umschlungen, und teils wissen wir noch nicht mal, wo und wie die Gewalt wirkt und halten das, was wir fühlen, für einen normalen Zustand (oder schlimmer noch: einen Zustand, den wir selbst verursacht und an dem wir deswegen auch ganz allein die Schuld tragen), bis wir uns eben eines Tages einfach nicht mehr von unseren Betten erheben können.
Das Bett, mit dem wir am meisten Aufmerksamkeit erhielten, war aber unser Mindestlohnbett. Wir platzierten es mitten auf den sehr belebten Bahnhofsvorplatz am Freitag, den 27.9. von 8 bis 16 Uhr; normale Lohnarbeitszeit.
In diesem Zeitraum bekam jede Person, die sich für eine Stunde nichtstuend – auch Beschäftigung mit dem Handy oder Quatschen mit Freund*innen war untersagt – ins Bett legte, 12,50 Euro von uns. Sie verdiente also Geld mit Nichtstun. Die Reaktionen waren enorm. Von den acht Stunden war das Bett insgesamt sieben Stunden besetzt. Siebenmal gaben wir einen Lohnzettel und den Verdienst aus. Viele Passant*innen dachten, sie müssten für das Nichtstun die 12,50 Euro zahlen. Umso überraschter waren jedes Mal die Blicke und Ausrufe und das Lachen, wenn wir das richtigstellten.
Mit Nichtstun Geld verdienen. Manche Passant*innen sagten den Satz langsam und genüsslich vor sich her. Vielleicht wurde ihnen in dem Moment zum ersten Mal bewusst, wie verpöhnt Nichtstun oder gar „Nutzlosigkeit“ ist. Und wie sehr wir unser Nichtstun – wenn wir uns doch mal reinfallen lassen – verstecken vor allen Augen. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass Nachbar*in uns beim Nichtstun erwischt; wo wir die Hecke doch noch nicht geschnitten haben!
Die negative Sicht auf das Nichtstun begann nicht erst mit dem Kapitalismus. Bereits die katholische Kirche unterstützte den Drang der Moderne nach neuer Zeitdefinition, indem sie die Trägheit erfand und sie zu einer der sieben Todsünden erklärte. Was ist das überhaupt: Nichtstun? Nutzlos sein? Nutzlos für wen oder was?
Wir fragen vielmehr: Ist das, was nutzlos für den Kapitalismus ist, vielleicht oftmals heilsam für die Welt? Heilsam auch für uns? Könnten uns im Zustand der Leere vielleicht wichtige und ungewöhnliche Ideen für ein gutes Leben für alle innerhalb der planetaren Grenzen kommen? Ich formuliere absichtlich im Passiv: im Nichtstun knipsen wir das unentwegt ratternde rationale Bewusstsein mal aus. Was entsteht an seiner Stelle, ohne dass wir da überhaupt Tun und Denken reinstecken? In dieser Leere könnte Anderes gedeihen, das sonst keinen Platz hat im sonst so durchgetakteten Berufs- und Alltagsdenken. Vielleicht gedeiht an der Stelle unseres Nichtstuns eine Pflanze oder schaut uns ein Tier in die Augen. Vielleicht gedeihen an der Stelle ganz ohne unser aktives Tun neue Ideen über das Zusammenleben von Menschen, aber in besonderem Maße Ideen für das Wachsen und Gedeihen von Beziehungsweisen zwischen Menschen und Nichtmenschen. Dieses Wachsen und Gedeihen gibt es nicht im europatriarchalen Rhythmus, weil es Langsamkeit braucht wie ein Samen Erde, Licht und Wasser zum Gedeihen braucht. Und falls doch etwas unbemerkt und unbeeindruckt von unserem eiligen Hin- und Hergerenne wachsen sollte, so braucht es unsere Langsamkeit, damit wir überhaupt die Chance haben, es entdecken und wertschätzen zu können.
Immerhin fragen wir doch jetzt immer öfter: Wie können wir uns wieder mit der Welt in Verbindung setzen? Meine Antwort wäre: Langsamkeit und einfach mal aus dem Fokus treten. Das heißt nicht, dass wir verschwinden sollen. (Das Konzept des Postanthropozäns wird oft missverstanden.) Wir sollen nur ab und an, aber regelmäßig zur Seite treten und uns in diesen Momenten nicht so wichtig nehmen. Wenn wir von dem von uns eigens gebauten modernen hierarchischen Treppchen hinabsteigen, können wir uns plötzlich in Beziehungsweisen wiederfinden, die uns jetzt vielleicht noch völlig absurd vorkommen, die aber ebenfalls gut für uns und gut für die Welt sind. Einfach, weil sie ohne unser unentwegtes Acten und Busy-Sein einfach so aufgekommen sind.
Antje Schrupp schrieb schon vor 12 Jahren: „Alles, was ich machen muss, ist nichts kaputt“. Ihr Plädoyer zur Ambitionslosigkeit reiht sich gut ein in die Gedanken zum Nichtstun, und auch Nadia Shehadehs Abgesang auf Karriere-Ambitionen zugunsten von beispielsweise Zeit für Daddeln auf dem Sofa mit Freund*innen in Den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen. (Obwohl: was sie sich bereits an „Karriere“ aufgebaut hat – beispielsweise zusammen mit Jacinta Nandi zu einer Lesung eingeladen zu werden – das wären schon meine allerhöchsten Karriere-Ambitionen ;) Caroline Krüger schrieb hier bei bzw. über die Muße, die etwas anderes ist und hervorruft als das Nichtstun. Ich bin mir aber nicht sicher, ob sie sich beide irgendwann zumindest partiell in anderen Bewusstseinsformen treffen. Wie viele Philosophen (ich schaffe das Sternchen hier nicht; es waren einfach fast nur Männer damals) früherer Zeiten drifteten ab in Trance, Traum und Ekstase, und flochten die dort erlebten Offenbarungen in ihre Weltsicht und Philosophien mit ein? Nichtstun und Muße geben dem rationalen Bewusstsein unterschiedlich viel Gewicht, aber sie geben beide Raum, um „abzudriften“. Das wäre jetzt eine These von mir, die gern diskutiert werden kann.
Vielleicht sind wir der Welt näher, wenn wir uns nicht mit rationalem Bewusstsein auf sie stürzen, uns auf sie fokussieren und konzentrieren, sie scharf stellen, sie analysieren und sezieren. Vielleicht will sie uns lieber in unseren Träumen begegnen. Ganz unscharf und unklar. Weil dann nicht immer wir reden und ihr die Welt – sich selbst also – anthropozentrisch erklären; humansplaining (you heard it hear first ;)… ach, aber wahrscheinlich gibt es das Konzept schon längst) sozusagen machen: Menschen erklären uns selbst und der Welt, wie die Welt funktioniert. Würden wir ihr mehr zuhören, und zwar auf die Weise, wie sie sich uns mitteilen will, dann würden wir sie wahrscheinlich nicht so sehr zerstören.
Zurück zum Mindestlohnbett: Nun ist es ja nicht angelegt in unserem Gesellschaftsvertrag, Geld mit Nichtstun zu verdienen. Wie sähe denn ein Gesellschaftsvertrag aus, wenn wir gesellschaftlich anerkannt und abgesichert Zeit mit Nichtstun verbringen könnten? Denken wir doch Gesellschaft zur Abwechslung mal ausgehend vom Nichtstun.
Zunächst einmal hat uns die Arbeit am Projekt mit tollen Künstler*innen zusammengebracht. Unsere Zusammenarbeit war immer zugewandt, empathisch und lösungsorientiert. Auch die Mitarbeiter*innen der Stadt haben alles gegeben, damit wir unsere Ideen umsetzen konnten. Wir Parents haben in dem Projekt zudem unsere eigenen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten und Bedürfnisse wiederentdeckt: drei von uns fünfen machten selbst eine Performance im Burnoutbett oder im Traumbett. Das waren sehr emotionale und schöne Erfahrungen voller gegenseitiger Dankbarkeit für uns als Gruppe.
Die Außenwirkung war enorm. Enorm zumindest im Vergleich dazu, was Klimaaktive momentan mit Aktionen sonst so für Wirkung erzielen. Das Mindestlohnbett machte in Windeseile die Runde; am Samstag (es stand nur Freitag auf dem Bahnhofsvorplatz) wurden wir unentwegt gefragt, wo denn das Mindestlohnbett heute stünde, denn: „Heute hätte ich Zeit, um Geld mit Nichtstun zu verdienen“. Wir konnten dann immerhin auf unser Traumbett auf der Brücke verweisen: Kein Geld, aber schöne Träume garantiert, im Träumen über dem Fluss im Flussrhythmus! Und tatsächlich legte sich gleich zu Beginn sogar bei Regen eine Frau zwei Stunden lang ins Bett unter die Bettdecke, schützend überdeckt mit transparenter Regenfolie.
Auffällig war allerdings, dass es nur eine weibliche Person (eine Schülerin) gab, die sich am Freitag in unser Mindestlohnbett gelegt hat. Dabei standen doch ziemlich viele Frauen interessiert an dem Bett und spielten den Gedanken immerhin durch. Was hat sie dann zurückgehalten? Was bedeutet es für Frauen, sich eine Stunde lang in der Öffentlichkeit ins Bett zu legen? Konnte hier das öffentliche Nichtstun einer Frau auch als Verfügbarkeit gelesen werden? War das die Angst der Frauen? Oder zeigten Frauen noch immer viel weniger gern als Männer, wenn sie Zeit hatten? Oder ist es ganz einfach so, dass Frauen generell einfach weniger Zeit haben? Sich keine Zeit geben, weil es auf der Prio-Liste weit weit weit weit hinter Lohnarbeit und unbezahlter Care-Arbeit steht; eigentlich gar nicht existiert? Oder weil über Nichtstun von Frauen in unserer Gesellschaft viel härter ins Gericht gegangen wird als über das Nichtstun von Männern? Wir hatten uns über diesen Gender-Aspekt tatsächlich kaum im Vorhinein Gedanken gemacht. Es überraschte uns. Interessanterweise wurde das Traumbett am Samstag auf dem Fluss aber auch von einigen Frauen genutzt.
Zur letzten Aufführung mit Gesang und Performance am Traumbett in einem wunderschönen Kirchenraum kamen beinahe 100 Leute. Als wir uns verbeugten und Applaus bekamen, musste ich unwillkürlich loslachen: so viel Applaus für eine Klima-Aktion von einem nicht ausschließlich klimabewegten Publikum haben wir lange nicht mehr bekommen.
Kunst versetzt Flügel. Ich liebe es, wie Kunst Menschen erreicht, die sich vielleicht gar nicht mit dem Thema Klima auseinandersetzen wollen und können. Das Thema Klima/Welt steckt eigentlich jedem Menschen in jeder Pore. Daher hat jede gute Kunst die Anlage, unsere Verbindung mit der Welt herzustellen, zu intensivieren, zu heilen… auch wenn sie sich nicht dezidiert mit Klima beschäftigt.
Gespräche, Diskurse erreichen das hingegen nicht immer: Das merkten wir, weil wir nach einer der insgesamt vier Aufführungen ein Gespräch anboten zu der Frage „Was hat Zeit im Überfluss mit Klimagerechtigkeit zu tun?“ Von den etwa 40 Besucher*innen bei der Vorstellung blieben für das Gespräch nur sage und schreibe drei Personen (plus zwei meiner Familienmitglieder) im Raum. Das Gespräch war zwar tief und schön, aber hätten wir nur auf Reden gesetzt, wir hätten nur drei Leute erreicht statt vieler Hunderte, welche in den drei Tagen mit unseren Betten auf die ein oder andere Weise in Berührung kamen.
Die Bettenidee hatte ich übrigens eines Morgens, nach dem Aufwachen. Sie war einfach da. Vielleicht müssen Ideen für klimabewegte Aktionen auch mehr aus den anderen Bewusstseinszuständen in unser rationales Bewusstsein rüberwachsen dürfen. Vielleicht erreichen und berühren wir so mehr Leute. Und vielleicht erreichen und berühren wir so die Welt und damit uns selbst.
Liebe Anne, was für eine tolle Aktion und was für spannende Gedanken! Vielen Dank dafür! Das motiviert mich, hier auch etwas auf die Beine zu stellen… wenn es nicht an der Zeit mangelt.
das habe ich sehr! gern gelesen. aus meiner sicht ist es wunderbar und inspirierend, dass du, dass ihr diese aktion habt durchziehen können. vielen dank! und auch vielen dank an “weiterdenken” fürs veröffentlichen und “letting me know”.
Tolle Aktion und schöner Text! daran gemeinsam weiterzudenken und auszuprobieren habe ich Lust! herzlich, Caroline
Oh wow das ist sehr toll.
Ein differenzierter, richtig guter Text zu einer inspirierenden Kunstaktion, die hoffentlich viele Nachahmer*innen findet.
Herzlichen Dank
Uta
Vielen Dank Anne für diesen inspirierenden Artikel über eure Aktion. So viel gründliche Reflexion. Das war eine große Freude für mich das zu lesen!!
Als eine für die ihr Bett immer einer der Wichtigsten Orte auf der Welt war und die seit Jahrzehnten mit den eigenen Träumen und denen anderer arbeitet, konnte ich mich voll damit verbinden.
Und Betten draussen aufzustellen hat immer eine große Magie. Auch im Wald oder in Gärten. Da habt ihr ganz tiefe Schichten angesprochen und offensichtlich auch erreicht. Glückwunsch!!!