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Arbeit, die nicht unbedingt nötig ist, ist ein Stressfaktor

Von Juliane Brumberg

In unsere Serie Weniger ist mehr!? stellen wir Expertinnen aus verschiedenen Arbeitsbereichen vor und fragen sie, wie mit den vorhandenen Ressourcen besser umgegangen werden kann, was wegfallen könnte und worauf es wirklich ankommt? Denn es hat sich gezeigt, dass die Forderung nach immer mehr Geld für alles Mögliche keine guten Lösungen bringt.

Als wir unsere Serie „Weniger ist mehr“ mit einem Artikel angekündigt und unsere Leserinnen um weitere Beispiele gebeten haben, hat sich Ulrike Reiche gemeldet. Sie beschäftigt sich beruflich damit, Arbeitsmodelle in Unternehmen zu flexibilisieren und hat dabei sehr umständliche Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse erlebt.

Ein immer wiederkehrendes Problem ist, dass der Chef alles selber abnicken und kontrollieren möchte. Hier macht die Unternehmensanalystin gleich ein Beispiel auf: „Ein Team mit acht Leuten arbeitet gut zusammen. Sie kennen die Arbeit und haben sich für die Urlaubsplanung untereinander abgestimmt, so dass alles gut funktioniert. Den fertigen Urlaubsplan haben sie dem Chef vorgelegt. Das Team hat also selbständig agiert. Der Chef jedoch hat sich übergangen gefühlt, er wollte selber den Urlaub einteilen. Mit der Folge, dass er 3 Stunden mit dem Team darüber diskutiert hat.“ Und dann macht sie eine Rechnung auf: „Acht mal drei Stunden sind drei Arbeitstage, an dem die Kollegen und Kolleginnen gut etwas anderes hätten tun können.“ Ulrike Reiche sieht das Problem jedoch nicht nur bei dem Chef: „Das Team hat dieses Spielchen mitgemacht. Die Kuh kann man eleganter vom Eis bringen, wenn man den Chef im nächsten Jahr ein bisschen vorbereitet.“ Das Unternehmen würde in jedem Fall profitieren: Eigenständige Abstimmungsprozesse innerhalb eines Teams fördern die Produktivität und beschleunigen Arbeitsabläufe.

Das nächste Beispiel: „In einem Unternehmen gab es vier Hierarchiestufen. Die Teamleiter und Teamleiterinnen hatten keine eigenen Mailadressen. Alle Arbeitsanweisungen gingen an eine Sammelmailadresse. Sechs bis zehn Leute hatten Zugriff auf das Postfach und mussten sich bei Schichtbeginn jeweils unter 100 E-Mails heraussuchen, welche Mails eigentlich für sie bestimmt war. Das dauerte eine bis anderthalb Stunden. Wenn sechs Leute eine Stunde am Tag mit Heraussuchen verbringen, macht das sechs Arbeitsstunden pro Tag. Insgesamt gab es aber 24 Teamleiter:innen, die davon betroffen waren ….. und das bei engen Personalkapazitäten! Ausgangspunkt für die Sammelmailadresse war, dass die IT-Abteilung die für die Vergabe von Mailadressen notwendigen Lizenzgebühren sparen wollte. So kam es zu wirklich überflüssiger Arbeit“, meint Ulrike Reiche, „zumal der Personalkostenfaktor ja viel schwerer wiegt. Hier müsste der Vorstand aufgrund einer Gesamtbetrachtung entscheiden anstatt einzelne Geschäftsbereiche getrennt voneinander zu messen“, und etwas resigniert fügt sie hinzu, „das Unternehmen gehört jedoch zu einem amerikanischen Konzern und dort will man mit dem klein-klein in Deutschland nichts zu tun haben.“

Beruf und Gesundheit

Und hier sind wir nun beim eigentlichen Thema von Ulrike Reiche. Seit 20 Jahren beschäftigt sie sich mit Beruf und Gesundheit und hat dabei beobachtet: „Wenn die Sinnhaftigkeit der Arbeit fehlt, hat das psychosoziale Konsequenzen. Arbeit die nicht unbedingt nötig ist, ist ein Stressfaktor, der zu gesundheitlichen Schäden führt.“ Andererseits erlebt sie, dass Gesundheitsthemen den Firmen lästig sind.
Ulrike Reiche hat sich selbstständig gemacht und berät Unternehmen und Führungskräfte zur Arbeitszeitzeitgestaltung. Sie bietet auch persönliches Coaching für Führungskräfte an. Auf ihrer Homepage bezeichnet sie sich als Expertin für Entschleunigung im Berufs- und Privatleben. In ihren Kursen und Beratungsgesprächen erfährt sie viel über überflüssige Arbeit.

Wie war ihr beruflicher Werdegang? Ursprünglich ist sie über den zweiten Bildungsweg Bankerin in Frankfurt geworden. Bankkauffrau, Bankfachwirtin, ein berufsbegleitendes Studium der Bankbetriebswirtschaft, das sie aber dann nicht abschloss, weil sie zur Personalabteilung wechselte und dort für Restrukturierungsprojekte zuständig war. 2004 ist sie aus dem Bankbetrieb ausgestiegen: „Die Werte hatten sich verändert, es gab keine Verlässlichkeit mehr, das passte dann nicht mehr zu mir. Das System wurde toxisch.“ Mit einer Kollegin gründete sie eine Firma für betriebliche Gesundheitsförderung mit Kursen zur Stressbewältigung, Yoga oder für einen gesunden Rücken, bzw. sorgte sie dafür, dass die Kurse in den Firmen weiterliefen. „Das war aber nicht wirklich nachhaltig“. Deshalb machte sie sich 2012 selbstständig und konzentriert sich auf die Beratung zu flexiblen Arbeitszeiten.
Ulrike Reiche hat es aus der Großstadt weg gezogen, sie lebt mittlerweile nicht mehr in Frankfurt, sondern in Konstanz am Bodensee. Dort hat sie sich auch feministisch vernetzt, gehört zu dem Schweizer Verein fem! feministische fakultät, organisiert dort Veranstaltungen für Frauen und beschäftigt sich mit dem philosophischen Denken der Libreria delle Donne aus Mailand. Ebenfalls engagiert sie sich ehrenamtlich in dem Initiativkreis #CloseEconDataGap, in dem es darum geht, den Umfang der unbezahlten Sorgearbeit sichtbar zu machen und auf die unzureichende Datenlage hinzuweisen, also Daten und Zahlen zu sammeln und zu veröffentlichen.

Zeit ist eine limitierte Ressource

Das kann sie dann wiederum auch beruflich nutzen, denn die Zahlen machen deutlich, wieviel Zeit Sorgearbeit, vorwiegend unbezahlt im privaten Sektor, in Anspruch nimmt. „Ich erlebe immer wieder, dass diese übergeordnete Betrachtung denjenigen, mit denen ich beruflich zu tun habe, also den Führungskräften, erst bewusst macht, dass Zeit eine limitierte Ressource ist. Im beruflichen Umfeld wird das nach meiner Erfahrung oft ausgeblendet, z.B. bei der Personaleinsatzplanung, Festlegung von Arbeitspensen, der Gestaltung von Schichtplänen etc. Deswegen wird nicht nur an den Bedürfnissen, sondern auch den zeitlichen Möglichkeiten der Mitarbeitenden vorbeigeplant.“
Da die meiste Sorgearbeit immer noch von Frauen geleistet wird, ist es naheliegend, dass Ulrike Reiche auch in ihren Coachings Angebote hat, die sich speziell an Frauen wenden.
Sie erzählt, dass Frauen häufig auf der sachlichen Ebene nach Lösungen suchen. Männer dagegen müssten häufig zuerst die Machtfrage untereinander klären, also die Frage ‚Wer hat das Sagen?‘ Dabei wird viel Zeit mit überflüssiger Kommunikation vertan.

Seit der Pandemie hat sich ihre Arbeit sehr verändert. Wenn sie Führungskräfte zur Personaleinsatzplanung und Arbeitszeitgestaltung berät, hört sie viel über Fachkräftemangel und Krankheitszunahmen. „Und in Einstellungsgesprächen wird nicht mehr über Geld, sondern über Zeit diskutiert.“

Jedes Jahr wieder überflüssige Arbeit

Und mit Zeit könnte man sinnvoller umgehen. Sie hat zwei weitere Beispiele parat: „Eine Klientin arbeitet im Vertragswesen. Die Produktionsabteilung sagt, was neu angeschafft oder bestellt werden muss oder umgekehrt verkauft und geliefert werden soll. Der Abteilungsleiter segnet das ab. Die genannte Klientin erarbeitet den Vertrag, legt Zahlungsbedingungen fest usw. Der Abteilungsleiter bekommt es wieder vorgelegt. Dann kann die Klientin den Vertrag unterschriftsreif machen. Also muss sich der Abteilungsleiter zweimal damit beschäftigen. Darüber vergeht jeweils Zeit und es kostet Zeit. Aber es war nicht möglich, das zu ändern. Das schafft Frustration.“ Die Arbeitszeitexpertin beklagt „die Unbeweglichkeit in der Kultur nach dem Motto, das haben wir doch schon immer so gemacht… Solche Widerstände sind ein Stressfaktor.“
Ulrike Reiche kann es nicht verstehen, wenn über Jahre hinweg überflüssige Dinge immer wieder gemacht werden müssen: „Ein Kunde lässt einmal im Jahr etwas komplizierte Ersatzteile produzieren. Dabei gibt es 20 Prozent Ausschuss. Das ist relativ viel. Aber da es ‚nur’ einmal im Jahr über drei Wochen geht, lässt man es laufen. Der Vorgesetzte müsste sich eigentlich nur mal einen halben Tag Zeit nehmen, um herauszufinden, wo die Ursache steckt. Stattdessen hilft er selber an der Maschine aus, damit die Ersatzteile rechtzeitig fertig werden. Er weiß, dass das ein Problem ist, aber erschafft es nicht, das zu ändern – und macht jedes Jahr wieder Überstunden! Die Erkenntnis war da, aber im Arbeitsprozess keine Zeit, das zu ändern.“ Ulrike Reiche meint: „Das ist eine Frage der Prioritätensetzung. Man muss nicht zuerst die Arbeit vom Tisch holen, sondern schauen, wie die Situation qualitativ verändert werden könnte.“

Das sind alles Beispiele, die so oder ähnlich mit Sicherheit auch in vielen anderen Betrieben, Institutionen, Behörden oder auch Krankenhäusern vorkommen.

Im Coaching spricht sie mit ihren Klienten und Klientinnen darüber, was sie für Vorstellungen haben, um eine bestimmte Situation besser lösen zu können. Sie fragt: ‚Was war die Situation Deines Chefs? Was ist Deine Motivation für die Zukunft?‘ Denn sie weiß: „Auch das ‘kleine Licht‘ kann Chefs an die Wand laufen lassen, in dem es ihnen Informationen vorenthält“. Sie lässt darüber nachdenken, welche Handlungsmöglichkeiten als Strategie in Frage kommen könnten – letztendlich mit dem Ziel die berufliche Zufriedenheit zu verbessern und überflüssige Arbeit zu vermeiden.

In dieser Serie ist bereits jeweils ein Artikel zu der Problematik in der Bäckereibranche, in den Pflegeberufen und in der schulischen Bildung erschienen.

Kommentare zu diesem Beitrag

  • Elfriede Harth sagt:

    Liebe Juliane, liebe Ulrike, das ist hier ein sehr spannedes Thema. Es geht um Selbstbestimmung vs Fremdbestimmung/Kontrollbedürfnis, um Verantwortung, um Vertrauen, um einen Haufen Dinge. – Mikromanagment ist sehr oft etwas Schreckliches, wenn jemand Aufgaben erledigen muss/soll/will, die eine bestimmte Komplexität überschreiten. Wo jemand eben ein Wissen und eine Erfahrung hat, die es ermöglichen in bestimmten Situationen einfach die bessere Entscheidung zu treffen. Warum Teamarbeit? Weil jedes Mitglied eben etwas Bestimmtes besser/effizienter kann, als die anderen und es daher Verschwendung ist, das nicht sie das erledigt. Weil dann die Summe der einzelnen Beiträge für das Ziel des Teams eben nicht eine einfache Summe ergibt, sondern eine Multiplikation. In solchen Kontexten sind Hierarchien oft ein schlimmes Übel.

    Es ist weiterhin ein spannendes Thema, weil auch im Alltag – nicht nur in einer Firma – sich manches rationalisieren läßt. Ein großes Thema ist da die liebe Ordnung, Wenn ich einen Hausschlüssel systematisch an einem bestimmten Ort ablege, verschwende ich dann keine kostbare Zeiet (und Nerven), ihn überall suchen zu müssen. (Ordentliche Leute sind nur zu faul zum suchen, heißt es!) – Aber es ist auch so, dass Prävention (z.B. was Gesundheit angeht) – ebenfalls Arbeit reduzieren kann. Wenn wir den Klimaschutz ernst nehmen würden, dann könnten allerlei Krankheiten verhindert werden (die z.B durch Hitze verursacht werden). Wenn Erwerbsarbeitszeit verkürzt werden würde, würden sich viele Menschen weniger durch (unbezahlt) zu erledigende, einfach notwendige Sorgearbeit nicht überfordert fühlen und dann ggf einen Burnout bekommen, was allerlei gesellschaftliche wie menschliche Kosten nach sich zieht.

    Ja, Zeit wird ein immer wichtigeres Thema in unserer Gesellschaft. Es geht schließlich um unsere Lebenszeit. Und der Kapitalismus ist gierig danach, weil er nur durch die Ausbeutung dieser Lebenszeit weiter wachsen kann.

    Wir haben im Netzwerk Care Revolution eine “Arbeitsgruppe Zeitsouveränität” gegründet und eine kleine Broschüre dazu verfasst, die kostenlos heruntergeladen werden kann: https://care-revolution.org/wp-content/uploads/2024/10/AG-Zeitsouveraenitaet-Zeitsouveraenitaet-fuer-alle.pdf.

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