beziehungsweise – weiterdenken

Forum für Philosophie und Politik

Rubrik handeln

Weniger ist mehr – eine gute Idee für die Schulen?!

Von Juliane Brumberg

In unsere Serie „Weniger ist mehr!?“ stellen wir Expertinnen aus verschiedenen Arbeitsbereichen vor und fragen sie, wie mit den vorhandenen Ressourcen besser umgegangen werden kann, was wegfallen könnte und worauf es wirklich ankommt? Denn es hat sich gezeigt, dass die Forderung nach immer mehr Geld für alles Mögliche keine guten Lösungen bringt.

Für das Interview habe ich meine bzw-Kollegin Dr. Jutta Pivecka in ihrem Zuhause besucht und wir haben zunächst gemütlich gefrühstückt. Schon da kamen wir im Gespräch schnell auf unser Thema Ressourcennutzung, Stichwort Steuererklärung. Nicht nur, dass wir Bürger:innen uns jedes Mal damit herumquälen müssen, nein, auch ein Heer von Finanzbeamt:innen ist damit beschäftigt und wird dafür bezahlt, diese ganzen Steuererklärungen zu prüfen. Und meistens geht es nur um ein paar hundert Euro hin oder her. Könnte man das nicht auch unbürokratisch über Pauschalen lösen? Und die Finanzbeamt:innen für Betriebsprüfungen einsetzen, wo es tatsächlich um viel Geld für den Staat geht?
Es ist so offensichtlich, Jutta ist eine politisch denkende Frau und das gute Zusammenleben der Menschen in unserer Gesellschaft beschäftigt sie.

Im Interview frage ich sie zunächst nach ihrem Arbeitsalltag. Sie ist seit 23 Jahren Lehrerin, mittlerweile Oberstudienrätin, an einer großen beruflichen Schule mit unterschiedlichen Schulformen in der Nähe von Frankfurt. Insgesamt gehen dort mehr als 2000  Schülerinnen und Schüler ein und aus, viele davon mit Migrationshintergrund. Sie kommen meistens im Alter von 16 oder 17 Jahren an die Schule. Unterrichtet werden sie von über 150 Lehrkräften, von denen viele in Teilzeit arbeiten. Auch Jutta arbeitet in Teilzeit und zwar am beruflichen Gymnasium. Sie hebt hervor, dass sie nicht an ein „normales“ Gymnasium wollte, weil es ihr wichtig ist, junge Menschen aus allen sozialen Schichten zu unterrichten. An ein berufliches Gymnasium kommen die Jugendlichen für die letzten drei Schuljahre nach dem Realschulabschluss oder von einem allgemeinbildenden Gymnasium. Sie können dort das Abitur machen, auch wenn ihnen die Hochschulreife nicht schon in die Wiege gelegt war. Stolz fügt sie hinzu: „Wir beweisen, dass das deutsche Schulsystem durchlässig ist. Und wenn jemand es nicht auf Anhieb schafft, geben wir Hilfestellung und finden Alternativen.“

So viele Team-Sitzungen und Konferenzen

Ich höre heraus, dass Jutta ihre Arbeit gerne macht und die Zukunft der Schülerinnen und Schüler ihr am Herzen liegt. Warum arbeitet sie dann nur in Teilzeit? „Bei einer Vollzeitstelle würde mir die Zeit für die für die gründliche Vor- und Nachbereitung und die Entwicklung neuer Unterrichtskonzepte fehlen oder ich müsste mehr als 60 Stunden arbeiten.“ Schon jetzt sei dazu oft zu wenig Zeit. Als ich sie frage, ob sich ihre Arbeit in den letzten Jahren verändert hat und ob sie das Gefühl hat, Dinge tun zu müssen, die eigentlich überflüssig sind, da sprudelt es nur so aus ihr heraus: „Die vielen Team-Sitzungen und Konferenzen! Oder die Digitalisierung, die hat uns nichts gebracht. Ich muss trotzdem alles kopieren und dann online einstellen. Die Zahl der Klausuren ist stark erhöht worden. Ich muss viel mehr prüfen und kontrollieren, anstatt zu unterrichten. Dann der Fehlerindex, für den wir in jeder Klausur die Wörter zählen müssen!“ Am meisten überflüssige Arbeit machen aber wohl die vielen Ausnahmeregelungen und die ganzen Stellungnahmen, die dazu eingeholt werden müssen, zum Beispiel bei einer Lese-Rechtschreib-Schwäche. Etwas verbittert meint sie: „Es geht dabei nicht darum, das Lernproblem des Schülers oder der Schülerin zu lösen, sondern darum, juristische Vorgaben zu erfüllen.“ Nicht nur deshalb ist auch die Klassenleitung viel aufwändiger geworden: „Allein zu Beginn des Schuljahrs muss ich jeweils acht Zettel austeilen zu Datenschutz und solchen Sachen, und dann, wenn sie unterschrieben sind, wieder einsammeln und in die Akten heften. Auch hierbei geht es um die juristische Absicherung, all diese bürokratischen Vorgaben bringen keinen Nutzen für Schülerinnen und Schüler oder Lehrkräfte.“

Schon bevor ich weitere Fragen stellen kann, kommt Jutta auf das, was ihr ein großes Anliegen ist und wie sie sich gute pädagogische Arbeit mit den vorhandenen Ressourcen vorstellen kann: „Viel zu viel Energie und Zeit geht in das Austüfteln des Stundenplans, das dominiert alles.“ Und warum ist das so kompliziert und zeitaufwendig? „Bei uns in der Oberstufe werden 12 – 13 Fächer unterrichtet, die Lehrer lehren aber in der Regel nur zwei Fächer, da sieht man doch schon, wieviel organisiert werden muss, damit alles zusammenpasst.“

Könnte man nicht die Schulfächer reduzieren?

Aber: Sie hätte eine Idee, die für die Schulen und die Kultusbürokratie wohl eine kleine Revolution bedeuten würde – und zugleich pädagogisch viel sinnvoller wäre. Und zwar möchte sie die Fächer reduzieren. „Es gibt nur noch fünf Fächer: Deutsch, Mathe, Englisch, Naturwissenschaften, Sozialkunde – und die jeden Vormittag eine Stunde. Dann sehen die Lehrkräfte die Schüler und Schülerinnen jeden Tag, können eine echte Beziehung zu ihnen aufbauen und bekommen deren Nöte und Sorgen viel eher mit. Außerdem haben sie dann in den jeweiligen Klassen nur vier Kollegen und Kolleginnen, mit denen sie sich bei Organisationsfragen absprechen müssen und bei Problemfällen gemeinsam unterstützen können.“ Und dann wird Jutta leidenschaftlich: „Das würde so viel Druck aus dem System nehmen! Bei den herkömmlichen Stundenplänen ist es so schwierig, sich mit den Kollegen zu einem Gespräch zu verabreden, weil sie entweder im Unterricht oder gar nicht da sind. Die meisten Probleme sind nämlich soziale Probleme und müssten pädagogisch und nicht juristisch gelöst werden. Zum Beispiel wenn ein Jugendlicher regelmäßig zu spät kommt – das können wir nicht über Verordnungen und Abmahnungen regeln, sondern über soziale Kontrolle durch Beziehung und ständigen Kontakt.“

Jutta weiß, dass ihre Idee den Schulalltag und vor allem auch den Berufsalltag des ganzen Lehrkollegiums komplett durcheinanderbringen würde. Jeder und jede wären den ganzen Vormittag, auch während der Freistunden, in der Schule und hätte dort eine Arbeitszeit von ca. 30 Stunden. Jutta malt sich aus: „Wenn es gut läuft, hätte jede Lehrkraft jeden Tag in jeder Klasse 2 Stunden, müsste also nur 50 Schüler kennen, aber die dann richtig. Momentan unterrichtet eine Vollzeit arbeitende Lehrkraft je nach Fächerkombination zwischen sechs bis zehn Klassen in der Woche, das sind ungefähr 150 bis 200 Schülerinnen und Schüler. Zu meiner Idee gehört, für jede Klasse eine Wochenstunde Besprechung einzuplanen, in den Freistunden könnten wir korrigieren und man bräuchte viel weniger Arbeit mit nach Hause zu nehmen. Sport und die musischen Fächer würden über Mittag oder am frühen Nachmittag unterrichtet.“ Etwas resigniert fügt sie hinzu: „Leider orientiert sich unser Stundenplan an den Universitätslehrfächer, anstatt die Beziehungen in den Vordergrund zu stellen. Wir reden viel zu viel über Methoden und Digitalisierung, anstatt über die Beziehung zu den Jugendlichen. Dabei ist doch bekannt, dass Beziehung das Wichtigste in der Pädagogik ist.“

Durch Leistung kann man was erreichen

Da ihr Vorschlag ja auch eine Reduzierung der Fächer bedeutet, holt sie noch weiter aus: „Das allgemeinbildende Abitur ist doch ein großer Popanz, das haben wir doch  faktisch aufgegeben. Nicht umsonst machen die Universitäten schon Eingangsprüfungen….“ Das Wichtigste ist aber eigentlich, dass mit der Umsetzung von Juttas Vorschlag viel Stundenplan-, Kontroll- und Verwaltungsarbeit eingespart würde und die Lehrkräfte stattdessen mehr Zeit zum Unterrichten hätten. „Bei dem jetztigen System“, findet Jutta, „werden sie verschlissen.“

Als ich sie frage, ob sie mit ihren Vorgesetzten oder dem Kollegium über ihre Ideen sprechen kann, antwortet sie: „Drüber reden schon, aber es ist nicht durchsetzbar. Meine Vorgesetzten könnten so etwas beim Kultusministerium nicht durchbringen. Das wird abgewehrt und stattdessen über irgendwelche Verordnungen gestritten. Niemand hat die Kraft dazu, den gordischen Knoten zu zerschlagen, niemand will an die Systemfrage ran!“ Und weiter: „Für das Kultusministerium ist es vor allem wichtig, Elternbeschwerden zu vermeiden. Deshalb soll es keine Systemdebatten geben.“

Jutta macht sich darüber hinaus gesellschaftspolitische Gedanken. „Für die, die aufsteigen wollen, ist es ein gutes Signal, durch Leistung etwas erreichen zu können. Durch linke Narrative geht das verloren. Sie bemängeln den Leistungsdruck und wollen ihn abschaffen. Wertvolle Dinge im Leben müssen wir uns jedoch gegen unsere eigenen Schwächen erkämpfen. Ich komme aus einem Arbeiterhaushalt und Bildung hat mir die Möglichkeit eröffnet, meinen Horizont zu erweitern und eigene Ziele im Leben zu erreichen. Es ist sehr wichtig für die Zufriedenheit, dass Menschen sich nicht als fremdgesteuert erleben. Heute heißt es immer, die Umstände sind für alles verantwortlich. Das bremst! Es geht darum, jedem und jeder Möglichkeiten zu eröffnen. Die Ergebnisse werden aber verschieden sein. Das ist auch ok so. Wir müssen lernen, damit zu leben, dass nicht jede und jeder alles erreichen kann, weil vielleicht das Talent fehlt. Aber jede und jeder sollte die Chance haben, den eigenen Lebensweg selbst zu gestalten und auf eigene Leistungen stolz zu sein.“

In dieser Serie sind bereits Artikel zu den Problemen in der Bäckereibranche und in den Pflegeberufen erschienen.


 

Autorin: Juliane Brumberg
Redakteurin: Juliane Brumberg
Eingestellt am: 27.09.2024
Tags: , , , ,

Kommentare zu diesem Beitrag

  • Antje Schrupp sagt:

    Danke für diese Idee, sie ist prima. Fünf Fächer sind wirklich genug.

  • Anne Newball Duke sagt:

    Liebe Jutta, liebe Juliane, vielen Dank für das Gespräch,

    vielen Dank für diese innovative 5-Fächer-Idee, muss ich drüber nachdenken. In mir hat erstmal alles rebelliert, weil ich dachte, wo ist Musik, Kunst, Sport? Und was, wenn ich gerade in diesen Fächern “Leistung” zeigen will? ;)
    Guter Übergang, denn ich finde es einfach zu pauschal, wenn du sagst, “linke Narrative wollen den Leistungsdruck bekämpfen”. Hier Sind die Gründe wirklich nicht egal.
    Zunächst einmal geht es darum, Ungerechtigkeiten irgendwie in den Griff zu bekommen: warum soll ein weißes Mädchen 10 Meter weiter rennen und trotzdem dieselbe Leistung abliefern wie ein weißer Junge, und ein Mädchen of Colour muss gleich nochmal 10m weiter hinten anfangen zu rennen? Jetzt mal ganz grob. Darum geht es viel in linker Politik. Warum sind Mädchen in der Schule gerade den Jungen immer weit voraus, aber dann im Arbeitsleben und wenns so richtig mit Karriere losgeht – meist wenn die Frauen die Babies bekommen -, sind dann die Jungen mit ihren mittelmäßigen Abschlüssen überall die Absahner des Systems? Darum dreht sich linke feministische Politik auch viel (oder sollte sich drehen).
    Und natürlich: es darf einfach die Frage nicht hinten runterfallen: Leistung für was? Für wen? Für was gebe ich Zeit her, die ich mit anderen wichtigen Dingen im Leben füllen müsste, nur damit ich gewisse Ziele erreichen kann? Welche Ziele? Ist es ok, in dieser Zeit für diese Ziele seine Beziehungen nicht zu pflegen? Ist es ok, nicht so genau hinzuschauen, wenn es anderen und der Welt schlecht geht? Ist es ok, all die Bereiche außerhalb der “individuellen/beruflichen Leistungserbringung” auszuschalten, manchmal für immer?
    Ich finde es durchaus wichtig, dass jede Person ihre Ziele verfolgen kann und Chancen hat, das zu erreichen. Aber ich finde es in einer Welt, die sich mitten im Massenaussterben befindet, umso wichtiger, dass sich jede Person fragt: Leistung wofür? Leistung wohin? Leistung warum?
    Und wenn ich als linke Denkerin gegen Leistungsdruck bin, dann, weil schon dem Wort “Leistungsdruck” ja ein bisschen Gewalt inneliegt, oder? Wer oder was drückt hier? Und was wird dabei unterdrückt? Und weil ich glaube, dass wichtige Dinge des Lebens hier aus den Augen verloren werden, die man zu sehen dadurch auch ganz verlieren kann.
    Ich verstehe, wenn Menschen nur Sinn für eine Sache haben. Wenn sie Leidenschaft nur für bestimmte Dinge entwickeln können und da komplett durchmarschieren. Und das dann auch gut für den Rest der Menschheit ist. Mir fällt jetzt gerade nur Katharina Witt ein, da freue ich mich, dass ich ihre Olympiasiege miterleben durfte. Was sie aber dann an Weltbeziehung und anderen Aufgaben nicht erfüllen kann und konnte, das muss dann von anderen abgedeckt werden. Für einen solchen Ausgleich muss dann eben auch gesellschaftlich gesorgt werden.
    Du erwischst mich natürlich insgesamt auf dem falschen Fuß, denn ich plädiere momentan ja für Nichtstun und Nutzlosigkeit (für den Kapitalismus), um die Welt wieder ins Lot zu bringen. Ich finde gerade tatsächlich, wir müssen erstmal alle bissn runterkommen. Von unseren Ansprüchen, ja, auch von unseren Leistungsansprüchen. Es darf nicht so schwer sein, das zu tun, was man will und worin man gut sein will und damit ein gutes Leben zu haben. In der nächsten Zeit wird das Begehren außerhalb der kapitalistischen Verdienstlinie, außerhalb der Vermehrung des abstrakten Reichtums weiter wachsen. Weil “Leistung” und Know-How notwendig wird in Bereichen, die jetzt noch keiner aufm Schirm hat. Was ist mit dieser Leistung, die man erbringen will, die aber kein Dach über dem Kopf im Kapitalismus garantiert?
    Und bringen dann Begriffe wie “Fremdsteuerung” was?
    Ich bin voll und ganz dafür, dass man seine Ziele intensiv und mit viel Liebe und auch mal mit Schmerz, Entbehrung und Zähigkeit verfolgen muss. Wenn daraus dann ein Mehr für sich selbst und für die Welt entsteht. Aber das ist für mich eine andere Art von “Leistung”; die hat nichts damit zu tun, dass man sich in diesem ungerechten europatriarchalen Gesellschaftssystem “durchbeißen” muss und auch mal “Scheiße gefressen” haben muss, um es “nach oben” oder zu einem angemessenen Gehaltszettel zu schaffen. Systeminhärentes Leistungserbringen ist für mich oft fremdgesteuerter als das, was du glaube darunter verstehst. Wir müssen hinterfragen, warum manches als Leistung gilt und anderes wiederum nicht.

    Ich weiß nicht, der Begriff “Leistung” ist für mich zu sehr in das neoliberale Wachstumscredo-Narrativ verwoben; und diese Art und dies Richtung der Leistungsverfolgung ist für mich tatsächlich ein tödlicher Pfad.
    Vielleicht ist es notwendig, das mal auseinanderzudröseln: Welche Leistung… oder … welche Leistungsintensivität ist gut für mich und die Welt? Und welche ist schlecht, mit welcher verliere ich das Große und Ganze aus den Augen?

  • Jutta Pivecka sagt:

    Liebe Anne, ich wusste, dass ein Plädoyer für Leistung – oder anders formuliert – für die Meritokratie, in diesem Kontext auf Widerstand stößt und sogar provoziert. Ich bin dennoch aus der Perspektive der Praxis des Lehrberufes sehr dafür, die Leistungsidee wieder zu beleben. Mir geht es dabei schlicht um die Basis, um überhaupt Chancen wahrnehmen zu können: lesen, schreiben und rechnen können. Das können erstaunliche viele Kinder und Jugendliche nicht. Doch das gegenwärtige System betrügt sie lange darüber, diesen Mangel zu erkennen. Denn es ermuntert Kinder und Jugendliche, Anstrengungen auszuweichen und sich auf das zu konzentrieren, was ihnen ohnehin leicht fällt oder naheliegt. Mein Vater, der nur eine Hauptschule absolviert hat, kann verstehend lesen. Viele meiner Schüler und Schülerinnen, die das Abitur anstreben und schon einen mittleren Abschluss haben, können es nicht. Ihre Chancen sich überhaupt zum “neoliberalen Wachstumscredo” (völlig unverständliche Formulierung für fast alle zum Beispiel) verhalten zu können, ist und bleibt gleich null, wenn sie das in der Schulzeit nicht lernen. So wie es momentan läuft – und die Pädagogik und Didaktik wird überwiegend von “linken” Ideologien geprägt – gelingt es einem privilegierten Milieu, seine eigenen Kindern durch das kollabierende System zu lotsen und die anderen verlassen es,ohne grundlegende Fähigkeiten und Kenntnisse erwerben. Das ist mein Ausgangspunkt, das erlebe ich.
    Dass Kunst und Musik fehlen, tut mir auch weh, denn für mich persönlich ist Kunst ja fast wichtiger als alles andere. Ich denke aber dennoch, dass sie nicht unbedingt zum Pflichtprogramm gehören muss. Es geht in dieser Serie ja darum, überforderte Systeme so zu entlasten, dass sie ihre Kernaufgaben wieder wahrnehmen können. Und dass die Schule ein überfordertes und überforderndes System für alle Beteiligten ist, beweisen ja alle einschlägigen Studien.

  • Anne Newball Duke sagt:

    Ja ich glaube, nun können wir hier hin- und herschreiben ohne Ende, hehe. Vielleicht ist es immer eine Frage, worauf man sein Augenmerk richtet, oder? “Linke” Ideologien? Ich glaube das ganz und gar nicht. Schule wird immer noch oft als ein vorrangig “apolitischer” Ort (ohne es natürlich zu sein) konstituiert. Im Geografieunterricht meiner Tochter wird noch immer ganz ohne Scham und irgendein Verständnis von “Less developed Countries” gesprochen, mit all den daraus folgenden “Must-Learnings”: um eine gute Note zu bekommen, muss sie diesen schmerzhaften Blödsinn reproduzieren. (und hat draus resultierend keinen Bock mehr auf das Fach) In Fächern wie Ethik und Sozialkunde langweilt sie sich tot, weil die Fächer uninspirierend und fantasielos aufgebaut sind und keine Anreize zu weiterem Nachdenken geben. Hier werden nur gewohnte Gleise betreten; und rein gar nichts, was man braucht für eine Welt im fundamentalen Wandel. Hier werden immer noch die falschen, tödlichen Narrative zementiert und tradiert.
    Wir hatten jetzt gerade erst eine Diskussion am Wochenende: eine Freundin erzählte, dass sie null Punkte im Mathe-Abi hatte, und zwar zuvor ausgerechnet und wissentlich. Daraufhin gab es einige geschockte Gesichter in der Runde und die Versuche, sie zu überzeugen, dass sie wirklich ein einfacheres Leben hätte mit Mathekenntnissen. Sie wiederholte nur immer, sie sei jetzt weit über 40 und sie sei sehr gut durch das Leben gekommen ohne Mathe. Ich fand das von der anderen Seite ziemlich übergriffig und von oben herab, ihr klarmachen zu wollen, dass ihr Leben mit Mathekenntnissen besser wäre. Ich mache hier kein Plädoyer für das Akzeptieren von Dyskalkulie usw. usf. Aber sie teilt etwas Persönliches, und man könnte hier von IHR lernen und ihr zuhören, denn hier hat garantiert SIE mehr zu erzählen. Stattdessen gibt es keine einzige kleine hermeneutische Sekunde (siehe Text von Caroline vor kurzem), und das eigene “ich-weiß-es-aber-besser” wird ihr übergestülpt. Wir haben den Bogen noch gekriegt, keine Angst, wir haben uns immer noch alle lieb, hehe, aber mit einem echten Mehr ist dann gefühlt niemand rausgegangen.
    Jetzt springe ich nochmal in Gedanken – die Welt braucht momentan meines Erachtens sehr viel mehr Kunst als Mathe, um zurück in die planetaren Grenzen zu kommen. Ich sage das so ganz provokativ, und bald folgt zum Kunst-Teil ein Artikel. Ich denke nicht, dass Schule überfordert ist, weil Kunst und Musik darin existiert. Wenn es diese Fächer nicht mehr gibt, werden wir als Gesellschaft noch ärmer und dümmer und orientierungsloser und weltloser. Wir werden noch weniger wissen, wie ein gutes Leben funktioniert. Die Fächer, die du wichtig findest, fördern übrigens lediglich den Status Quo, und bereitet die Kinder gut vor für ein Leben im fantasielosen Kapitalismus. Es müsste neue Fächer und neue Lehr-Methoden geben, die dem Individualismus entgegenwirken, die den Kindern nicht ihre angeborenen Neigungen abtrainiert, sich als Teil dieser Welt und ihres Verbundes zu verstehen. Die ihnen nicht sagt, du allein musst stark und klug für ich ganz allein sein, dann schaffst du es in dieser Welt. Wir wollen soziale Wesen, und Wesen, die um ihre Verwobenheit in Ökologien wissen, aber was in der Schule immer noch beigebracht wird, ist: jede/r kämpft für sich allein. Oder was machen wir dann gemeinsam? Was steht momentan an den Türen des Gymnasiums meiner Tochter: “Wir sammeln Geld für arme Kinder in Ecuador.” Ich weiß nicht… ist das Stand Oktober 2024? Bringen wir so den Kindern und Jugendlichen bei, sich in Beziehung zu anderen Menschen auf der Welt zu setzen: über weiterhin koloniale Hierarchien, Strukturen etcpp.? Ich möchte kotzen, wirklich. Oder sanfter ausgedrückt: Ich würde mir wünschen, wir wären weiter.
    Ich finde es auch gut, wenn Kinder sich darauf konzentrieren können, was sie gut können, ohne das andere deswegen ganz zu lassen. Sonst ist Leistung/ dem Folgen des Begehrens in einzelnen Bereichen, für die sie brennen, nicht möglich.
    Das einzige – glaube ich, wo ich mit dir übereinstimme, ist, dass Kinder heute nicht mehr ordentlich lesen und schreiben lernen; das ist aber eine Frage der Grundschule und wie die Zeit davor gestaltet wird, in der KiTa usw. Ich glaube, es ist eine Frage der Methode. Und wie zum Beispiel Kinder mit Migrationsgeschichte gut Deutsch lernen, darüber muss viel mehr geforscht werden und innovative Ideen viel mehr in den Unterricht integriert werden, es bräuchte mehr Lehrkräfte in einer Klasse usw. usf.
    Liebe Jutta, nichts für ungut, wir sind hier einfach auf sehr unterschiedlichen Wellen unterwegs. Ich danke dir von Herzen für den Austausch. :)

  • Antje Schrupp sagt:

    @Anne und @Jutta – ich glaube, ihr habt beide recht, schreibt aber aus unterschiedlichen Milieus. Bei deiner Replik, Anne, habe ich ein bürgerlich-kleinstädtisches Gymnasium vor Augen, in dem es keine Frage ist, ob die “Grundkenntnisse” in Lesen, Schreiben und Rechnen vorhanden sind. Weil die Reichen schon dafür sorgen, dass “ihre” Kinder hier auf ein Mindestniveau kommen. Oder wie viele Schüler:innen sind in der Klasse deiner Tochter, die wirklich nicht lesen und schreiben können? Würdest du es das tatsächlich hinnehmen? Das ist ja etwas ganz anderes, als im Mathe-Abitur Null Punkte zu haben. Im Mathe-Abitur geht es um höhere Mathematik, ohne die man im Alltag tatsächlich gut durchkommt. Man braucht keine Sinuskurven oder Vektorgrafen im Leben, aber Multiplizieren und Dividieren eben schon. Ob es allerdings gerade die “Linken” sind, die das zu verantworten haben, weiß ich auch nicht, ich glaube ja, dass es eine ungute Mischung aus “links” und “rechts” ist, die hier verantwortlich ist. Beziehungsweise sich aus der Verantwortung stiehlt. Neulich habe ich irgendwo gelesen (Quelle vergessen), dass Psychotherapeuten über einen Trend klagen, dass immer mehr Leute ihre Eltern für ihre Probleme verantwortlich machen. Ich würde über das alles sozusagen ein Haupt-Problem identifizieren, und das bedeutet, dass immer irgendjemand anderes verantwortlich ist für das, was schief läuft, nur nicht ich. Die Schule ist schuld, wenn ich nichts lerne, die Eltern sind schuld, wenn ich depressiv bin oder ADHS habe, die Ampel ist schuld, wenn mir irgend was nicht gefällt, die Grünen sind sowieso immer schuld, die Bürokratie ist schuld, wenn meine Firma nicht läuft usw. Das ist so eine generelle Stimmung im Land, aber tatsächlich bezahlen den hauptsächlich Preis dafür die unterprivilegierten Jugendlichen, die Jutta an der Berufsschule hat. Die werden nämlich irgendwann merken, dass niemand für sie sorgt, wenn sie es selbst nicht tun. Und dafür brauchen sie Kompetenzen und Kenntnisse.

  • Anne Newball Duke sagt:

    Da hast du total recht, Antje. Ich denke, ich springe einfach auf, wenn pauschal von “linker” Ideologie gesprochen wird, das mag ich einfach nicht. Alles was ich unter “links” verstehe, gibt es m.E. an vielen Grundschulen und Gymnasien (letztere bürgerlich-kleinstädtisch, richtig ;) viel zu wenig. Ach ja, aber Schule ist insgesamt viel zu wenig darauf ausgerichtet, wie ein gutes Leben für alle mit allen gemeinsam funktionieren könnte. Das ist für mich links.
    Die “Schuld”-Frage finde ich komplex. Für mich ist klar, dass wenn eine junge Person mit multiplem, viel schwierigerem Start ins Leben (geflüchtet, lieblose Erziehung, missbraucht, gemobbt usw.), auch sehr viel mehr Probleme haben wird, sich auf das rein “Schulische” zu konzentrieren. All diese Symptome kommen ja von irgendwoher. In der Klasse meiner Tochter im Grundschulalter geht es teils derart abgefahren ab… diese Zustände und Umgänge zwischen den Kindern kenne ich in dieser Dimension einfach gar nicht aus meiner Kindheit. Ich weiß wirklich nicht, wer da Schuld hat… oder ob das überhaupt die richtige Frage ist. Ich habe einfach das Gefühl, dass das Leben, der Alltag, das ganze Mental Load usw., für viele Menschen zuviel und zu komplexe Strukturen angenommen hat. Würde man das alles auf sich nehmen – die “Schuld” sozusagen, dann bräche man zusammen. (Selbst wenn man sich aus den Strukturen etwas befreien und entwickeln wollte, bräuchte es wieder multiple Coaching-Angebote… Worauf kann ich verzichten? Was ist notwendig? Es ist schwer für eine Person, das zu entscheiden.) Gesellschaft im Spätkapitalismus ist einfach belastend, hehe. Vielleicht ist es wie mit dem ökologischen Fußabdruck. Diese ganze Individualisierung tut so, als hätte es die einzelne Person in der Hand. Und ist dann auch Schuld am Klimakollaps. Ich weiß nicht… “Wer hat Schuld?” ist insgesamt keine sehr produktive Frage. Oder? Die Stimmung im Land kommt ja nicht aus dem Nirgendwo. Und die Leute sind auch nicht alle blöd oder unfähig geworden oder können nicht mehr mit Verantwortung umgehen. Nur… Verantwortung für was? Wie weit? Das ist alles entweder sehr klein zu verstehen oder sehr sehr weit. Und das wird dir freigestellt, wo du dich da verorten willst. Schon wieder eine Entscheidung zu fällen. Ich glaube, wir würden alle gern unser Bestes geben. Ich habe gerade den Faden verloren, aber ich versuche ja auch immer noch, diese Serie in mir zu verhaken. Ich weiß, ich darf es auch lassen, hihi. ;)
    Ich verstehe auch deinen letzten Punkt total, Antje, und bin da auch komplett bei euch. Wirklich. Ich halte das 5-Fächer-Modell nur für keine Lösung. Das Kennen-und Liebenlernen von Kunst oder Musik kann lebenserhaltend sein. Und ich fände es wirklich ein Armutszeugnis, wenn mann sagen würde, “ja wir müssen uns jetzt hier einfach beschränken, weil sonst können sie es gar nicht schaffen in dieser Gesellschaft”. Was wissen wir denn, was jungen Leuten fehlt, die schwer lesen und schreiben und rechnen lernen können? Vielleicht fehlt ihnen genau das: Kunst und Musik. Andere Zugänge als das rein rationale Herangehen. Ich könnte ewig weiterschreiben und zu keinem Punkt mehr kommen, hehe. Daher Punkt jetzt erstmal.

  • Jutta Pivecka sagt:

    Nur ganz kurz zur Erklärung, die Vereinfachung und falsche Pauschalisierung bezieht sich hier konkret auf die „konstruktivistische“ Pädagogik und die Didaktik, die seit ca. 3 Dekaden in der Lehrkräfteausbildung dominiert und von sich selbst als „links“ verstehenden Professoren und Professorinnen durchgesetzt wurde.

Weiterdenken

Menü