Forum für Philosophie und Politik
Von Juliane Brumberg
In unsere Serie „Weniger ist mehr!?“ stellen wir Expertinnen aus verschiedenen Arbeitsbereichen vor und fragen sie, wie mit den vorhandenen Ressourcen besser umgegangen werden kann, was wegfallen könnte und worauf es wirklich ankommt? Denn es hat sich gezeigt, dass die Forderung nach immer mehr Geld für alles Mögliche keine guten Lösungen bringt.
Für das Interview habe ich meine bzw-Kollegin Dr. Jutta Pivecka in ihrem Zuhause besucht und wir haben zunächst gemütlich gefrühstückt. Schon da kamen wir im Gespräch schnell auf unser Thema Ressourcennutzung, Stichwort Steuererklärung. Nicht nur, dass wir Bürger:innen uns jedes Mal damit herumquälen müssen, nein, auch ein Heer von Finanzbeamt:innen ist damit beschäftigt und wird dafür bezahlt, diese ganzen Steuererklärungen zu prüfen. Und meistens geht es nur um ein paar hundert Euro hin oder her. Könnte man das nicht auch unbürokratisch über Pauschalen lösen? Und die Finanzbeamt:innen für Betriebsprüfungen einsetzen, wo es tatsächlich um viel Geld für den Staat geht?
Es ist so offensichtlich, Jutta ist eine politisch denkende Frau und das gute Zusammenleben der Menschen in unserer Gesellschaft beschäftigt sie.
Im Interview frage ich sie zunächst nach ihrem Arbeitsalltag. Sie ist seit 23 Jahren Lehrerin, mittlerweile Oberstudienrätin, an einer großen beruflichen Schule mit unterschiedlichen Schulformen in der Nähe von Frankfurt. Insgesamt gehen dort mehr als 2000 Schülerinnen und Schüler ein und aus, viele davon mit Migrationshintergrund. Sie kommen meistens im Alter von 16 oder 17 Jahren an die Schule. Unterrichtet werden sie von über 150 Lehrkräften, von denen viele in Teilzeit arbeiten. Auch Jutta arbeitet in Teilzeit und zwar am beruflichen Gymnasium. Sie hebt hervor, dass sie nicht an ein „normales“ Gymnasium wollte, weil es ihr wichtig ist, junge Menschen aus allen sozialen Schichten zu unterrichten. An ein berufliches Gymnasium kommen die Jugendlichen für die letzten drei Schuljahre nach dem Realschulabschluss oder von einem allgemeinbildenden Gymnasium. Sie können dort das Abitur machen, auch wenn ihnen die Hochschulreife nicht schon in die Wiege gelegt war. Stolz fügt sie hinzu: „Wir beweisen, dass das deutsche Schulsystem durchlässig ist. Und wenn jemand es nicht auf Anhieb schafft, geben wir Hilfestellung und finden Alternativen.“
Ich höre heraus, dass Jutta ihre Arbeit gerne macht und die Zukunft der Schülerinnen und Schüler ihr am Herzen liegt. Warum arbeitet sie dann nur in Teilzeit? „Bei einer Vollzeitstelle würde mir die Zeit für die für die gründliche Vor- und Nachbereitung und die Entwicklung neuer Unterrichtskonzepte fehlen oder ich müsste mehr als 60 Stunden arbeiten.“ Schon jetzt sei dazu oft zu wenig Zeit. Als ich sie frage, ob sich ihre Arbeit in den letzten Jahren verändert hat und ob sie das Gefühl hat, Dinge tun zu müssen, die eigentlich überflüssig sind, da sprudelt es nur so aus ihr heraus: „Die vielen Team-Sitzungen und Konferenzen! Oder die Digitalisierung, die hat uns nichts gebracht. Ich muss trotzdem alles kopieren und dann online einstellen. Die Zahl der Klausuren ist stark erhöht worden. Ich muss viel mehr prüfen und kontrollieren, anstatt zu unterrichten. Dann der Fehlerindex, für den wir in jeder Klausur die Wörter zählen müssen!“ Am meisten überflüssige Arbeit machen aber wohl die vielen Ausnahmeregelungen und die ganzen Stellungnahmen, die dazu eingeholt werden müssen, zum Beispiel bei einer Lese-Rechtschreib-Schwäche. Etwas verbittert meint sie: „Es geht dabei nicht darum, das Lernproblem des Schülers oder der Schülerin zu lösen, sondern darum, juristische Vorgaben zu erfüllen.“ Nicht nur deshalb ist auch die Klassenleitung viel aufwändiger geworden: „Allein zu Beginn des Schuljahrs muss ich jeweils acht Zettel austeilen zu Datenschutz und solchen Sachen, und dann, wenn sie unterschrieben sind, wieder einsammeln und in die Akten heften. Auch hierbei geht es um die juristische Absicherung, all diese bürokratischen Vorgaben bringen keinen Nutzen für Schülerinnen und Schüler oder Lehrkräfte.“
Schon bevor ich weitere Fragen stellen kann, kommt Jutta auf das, was ihr ein großes Anliegen ist und wie sie sich gute pädagogische Arbeit mit den vorhandenen Ressourcen vorstellen kann: „Viel zu viel Energie und Zeit geht in das Austüfteln des Stundenplans, das dominiert alles.“ Und warum ist das so kompliziert und zeitaufwendig? „Bei uns in der Oberstufe werden 12 – 13 Fächer unterrichtet, die Lehrer lehren aber in der Regel nur zwei Fächer, da sieht man doch schon, wieviel organisiert werden muss, damit alles zusammenpasst.“
Aber: Sie hätte eine Idee, die für die Schulen und die Kultusbürokratie wohl eine kleine Revolution bedeuten würde – und zugleich pädagogisch viel sinnvoller wäre. Und zwar möchte sie die Fächer reduzieren. „Es gibt nur noch fünf Fächer: Deutsch, Mathe, Englisch, Naturwissenschaften, Sozialkunde – und die jeden Vormittag eine Stunde. Dann sehen die Lehrkräfte die Schüler und Schülerinnen jeden Tag, können eine echte Beziehung zu ihnen aufbauen und bekommen deren Nöte und Sorgen viel eher mit. Außerdem haben sie dann in den jeweiligen Klassen nur vier Kollegen und Kolleginnen, mit denen sie sich bei Organisationsfragen absprechen müssen und bei Problemfällen gemeinsam unterstützen können.“ Und dann wird Jutta leidenschaftlich: „Das würde so viel Druck aus dem System nehmen! Bei den herkömmlichen Stundenplänen ist es so schwierig, sich mit den Kollegen zu einem Gespräch zu verabreden, weil sie entweder im Unterricht oder gar nicht da sind. Die meisten Probleme sind nämlich soziale Probleme und müssten pädagogisch und nicht juristisch gelöst werden. Zum Beispiel wenn ein Jugendlicher regelmäßig zu spät kommt – das können wir nicht über Verordnungen und Abmahnungen regeln, sondern über soziale Kontrolle durch Beziehung und ständigen Kontakt.“
Jutta weiß, dass ihre Idee den Schulalltag und vor allem auch den Berufsalltag des ganzen Lehrkollegiums komplett durcheinanderbringen würde. Jeder und jede wären den ganzen Vormittag, auch während der Freistunden, in der Schule und hätte dort eine Arbeitszeit von ca. 30 Stunden. Jutta malt sich aus: „Wenn es gut läuft, hätte jede Lehrkraft jeden Tag in jeder Klasse 2 Stunden, müsste also nur 50 Schüler kennen, aber die dann richtig. Momentan unterrichtet eine Vollzeit arbeitende Lehrkraft je nach Fächerkombination zwischen sechs bis zehn Klassen in der Woche, das sind ungefähr 150 bis 200 Schülerinnen und Schüler. Zu meiner Idee gehört, für jede Klasse eine Wochenstunde Besprechung einzuplanen, in den Freistunden könnten wir korrigieren und man bräuchte viel weniger Arbeit mit nach Hause zu nehmen. Sport und die musischen Fächer würden über Mittag oder am frühen Nachmittag unterrichtet.“ Etwas resigniert fügt sie hinzu: „Leider orientiert sich unser Stundenplan an den Universitätslehrfächer, anstatt die Beziehungen in den Vordergrund zu stellen. Wir reden viel zu viel über Methoden und Digitalisierung, anstatt über die Beziehung zu den Jugendlichen. Dabei ist doch bekannt, dass Beziehung das Wichtigste in der Pädagogik ist.“
Da ihr Vorschlag ja auch eine Reduzierung der Fächer bedeutet, holt sie noch weiter aus: „Das allgemeinbildende Abitur ist doch ein großer Popanz, das haben wir doch faktisch aufgegeben. Nicht umsonst machen die Universitäten schon Eingangsprüfungen….“ Das Wichtigste ist aber eigentlich, dass mit der Umsetzung von Juttas Vorschlag viel Stundenplan-, Kontroll- und Verwaltungsarbeit eingespart würde und die Lehrkräfte stattdessen mehr Zeit zum Unterrichten hätten. „Bei dem jetztigen System“, findet Jutta, „werden sie verschlissen.“
Als ich sie frage, ob sie mit ihren Vorgesetzten oder dem Kollegium über ihre Ideen sprechen kann, antwortet sie: „Drüber reden schon, aber es ist nicht durchsetzbar. Meine Vorgesetzten könnten so etwas beim Kultusministerium nicht durchbringen. Das wird abgewehrt und stattdessen über irgendwelche Verordnungen gestritten. Niemand hat die Kraft dazu, den gordischen Knoten zu zerschlagen, niemand will an die Systemfrage ran!“ Und weiter: „Für das Kultusministerium ist es vor allem wichtig, Elternbeschwerden zu vermeiden. Deshalb soll es keine Systemdebatten geben.“
Jutta macht sich darüber hinaus gesellschaftspolitische Gedanken. „Für die, die aufsteigen wollen, ist es ein gutes Signal, durch Leistung etwas erreichen zu können. Durch linke Narrative geht das verloren. Sie bemängeln den Leistungsdruck und wollen ihn abschaffen. Wertvolle Dinge im Leben müssen wir uns jedoch gegen unsere eigenen Schwächen erkämpfen. Ich komme aus einem Arbeiterhaushalt und Bildung hat mir die Möglichkeit eröffnet, meinen Horizont zu erweitern und eigene Ziele im Leben zu erreichen. Es ist sehr wichtig für die Zufriedenheit, dass Menschen sich nicht als fremdgesteuert erleben. Heute heißt es immer, die Umstände sind für alles verantwortlich. Das bremst! Es geht darum, jedem und jeder Möglichkeiten zu eröffnen. Die Ergebnisse werden aber verschieden sein. Das ist auch ok so. Wir müssen lernen, damit zu leben, dass nicht jede und jeder alles erreichen kann, weil vielleicht das Talent fehlt. Aber jede und jeder sollte die Chance haben, den eigenen Lebensweg selbst zu gestalten und auf eigene Leistungen stolz zu sein.“
In dieser Serie sind bereits Artikel zu den Problemen in der Bäckereibranche und in den Pflegeberufen erschienen.
Danke für diese Idee, sie ist prima. Fünf Fächer sind wirklich genug.