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Mit radikaler Herzlichkeit – Fünf Jahre Generationenwechsel in Zülpich

Von Melanie Stitz

Das erste Mal in eine Frau verliebt oder ein Brett durchgeschlagen… Erinnerungen wie diese verbinden viele mit dem Frauenbildungshaus in Zülpich. Im September 2019 erwarb das queer_feministische Kollektiv lila_bunt zusammen mit dem Mietshäuser-Syndikat das Haus und transformierte es zu einem möglichst inklusiven Ort zum Lernen, Heilen und Vernetzen. Melanie Stitz sprach mit Meltem und Linda.

Das heutige Team von “Lilabunt. Feministische Bildung, Praxis & Utopie” in Zülpich. Foto: Shir Newman

Melanie: Habt ihr damals gezielt Ausschau gehalten nach einem Ort, den ihr übernehmen konntet?

Linda: Tatsächlich haben wir nach bestehenden Projekten geguckt. Sinah und ich erhielten damals den Abschiedsnewsletter vom Frauenbildungshaus Zülpich und haben ganz impulsiv eine E-Mail geschrieben. Zehn Minuten später rief Sigrid zurück. Wir sind nicht ans Telefon gegangen, weil wir so erschrocken waren, dann haben wir uns aber fünfzehn Minuten später doch getraut, und Sigrid sagte: „Genau solche wie euch, die suchen wir!“

Meltem: Ich erinnere mich noch daran, das erste Mal durch das grüne Tor zu gehen und diesen Frieden zu spüren. Entweder wird es dieser Ort oder keiner, haben wir gedacht.

So ein Erbe anzutreten ist ja ein Geschenk, Verantwortung und manchmal Belastung. Wie habt ihr das erlebt?

Meltem: Die vorherigen Betreiberinnen hatten schon zwei Jahre einen Prozess, um loszulassen und sich zu verabschieden von dem Ort. Sie haben nicht nur Ordner ausgemistet und vieles freigeräumt von 40 Jahren, sondern auch emotional viel getan, um uns das so übergeben zu können. So, dass wir uns frei fühlen konnten, den Ort neu zu gestalten. Wegen bestimmter Abläufe konnten wir immer noch bei ihnen anrufen und fragen. Auch, was die Infrastruktur hier auf dem Land angeht, konnten wir gewachsene Strukturen übernehmen. Unser Konzept war, das Haus queer_feministisch und intersektional zu öffnen. Das ging nur Schritt für Schritt. Wir haben uns durch die Zimmer, die Häuser, den Garten durchgearbeitet. Es hat Zeit gebraucht, die Bibliothek zu erweitern und Symbole zu hinterfragen, die für bestimmte Gruppen ein bisschen schwieriger sind: Was ist kulturelle Aneignung? Wem gehört was und welche Symbolik gehört wohin? Wie nutzen das andere, mit welchem Wissen?

Linda: Die Übergabe bestand nicht nur aus dem Erzählen, wie viele Brötchen müssen bei wie vielen Personen aufgebacken werden, sondern auch im Erzählen über diesen Ort. Mit den Gäst*innenbüchern, die wir geerbt haben, haben wir versucht, uns die Geschichte selber anzueignen. Das hat was Entlastendes, dass vor 40 Jahren über ähnliche Fragen diskutiert wurde wie zum Beispiel Machen alle alles? Wem gehört das Haus – den Lesben oder Heteras? Wer hat Definitionsmacht über diesen Ort? Die Spuren in diesem Haus haben uns erzählt, dass Fragen von Sichtbarkeit, Anerkennung und Teilhabe eine Kontinuität haben. Und dass diese Angst, die wir bei den früheren Besucherinnen manchmal gespürt haben – nicht mehr Teil eines Ortes zu sein – eine ist, die man nochmal anders kontextualisieren muss. Denn es war schon immer eine Frage, wessen Stimme gehört, wer gesehen oder unsichtbar gemacht wird. Wir wollen die Geschichte weitererzählen und mit dem Satz: „Ein Raum wird nicht kleiner, nur, weil wir ihn teilen“, etwas Neues eröffnen. Auch, wenn es nicht mehr eine bestimmte geschlechtliche Identität ist, die uns an diesen Ort bindet, dann ist es doch die gemeinsame Vision, der gemeinsame Kampf, das gemeinsame Streiten um Orte, an denen wir alle Sein können.

Den großen Runden Tisch gibt es immer noch. Foto aus dem Archiv von Frauenbildungshaus e.V.

Wie würdet ihr denn beschreiben, für wen dieser Ort jetzt ist?

Meltem: Patriarchat, Diskriminierung, Rassismus… so viele Ismen, die das Leben da draußen schwermachen – alle, die davon betroffen sind, sind bei lila_bunt willkommen.  Fürsorge und Versorgung für unsere Gäst*innen und füreinander sind für uns eine politische Praxis. Versorgung der Seele, des Herzens, des Geistes, des Körpers. Das Essen spielt eine große Rolle, der Garten, die Qualität des Schlafens, die Natur, das Umsorgt-Sein, dass jederzeit Essen und Trinken zugänglich ist… Das kann für Menschen, die sonst immer sehr viel für andere sorgen, etwas ganz Wunderbares sein. Lila_bunt soll ein Ort sein, um, Kraft zu schöpfen, mit anderen in Verbindung zu gehen und Verbündete zu finden. Das ist der Zauber, den wir hier haben.

Ihr beschreibt sehr berührend, wie ihr im Generationenwechsel mit Konflikten produktiv und liebevoll umgegangen seid. Gibt es mehr Facetten, die ihr teilen mögt?

Linda: Es gab eine Grenze, wo wir gesagt haben, wir definieren jetzt diesen Ort. Manche Dinge sind für uns nicht verhandelbar. Gleichzeitig wollen wir uns als Lernort verstehen, also anderen die Chance und Zeit geben, gemeinsam zu verstehen, zu fühlen und zu formulieren. Da hat geholfen, dass wir mit Namensschild und Pronomen präsent sind, dass wir die Zimmer umbenannt und die Bibliothek anders ausgestattet haben. Es gibt Stellen, wo es ein Teil einer gemeinsamen Verantwortung für Alle an diesem Ort ist, sich zu bilden und rücksichtsvoll zu sein. Das möchten wir einfordern und gleichzeitig darin unterstützen.

Meltem:  Wir wollen Haltung zeigen, füreinander einstehen und Awareness schaffen, um Menschen zu schützen, die hierherkommen – selbst wenn die Personen gerade nicht da sind. Wenn ich als Person of Color nicht im Raum bin, aber rassistische Sachen an diesem Ort passieren und meine weißen Mitstreiter*innen nicht eingreifen, würde ich mich hier auch nicht mehr sicher fühlen. Gemeinsam sichere Räume zu schaffen ist für uns praktische Solidarität.

Am 13. Juli habt ihr 5-jährigen Geburtstag gefeiert!

Meltem: Ja, und viele von den älteren Frauen, die den Ort hier Jahrzehnte erlebt, geprägt und als ihr Zuhause bezeichnet haben, haben die Chance genutzt, mal zu gucken. Manche waren skeptisch. Die Skepsis ist aber schnell verflogen. Auch, weil sie gemerkt haben, dass wir eine sehr große Liebe für den Ort haben, ihn weiter pflegen und bauen – vor allem nach der Flut 2021. Es war eine Zerstörung, die man nicht beschreiben kann. Ein paar von den ehemaligen Betreiberinnen haben damals in den ersten Stunden mit angepackt. Die Flut hat bei ihnen nochmal so viel Schmerz und Verabschiedung ausgelöst. Sie haben nicht mehr daran glauben können, dass es weitergeht. Wir haben uns mit der alten Architektin in Verbindung gesetzt, die kam vorbei mit den alten Plänen und hat erzählt, auf was wir achten müssen, was das Haus braucht. Wir haben es tatsächlich als Kollektiv geschafft, in zweieinhalb Jahren alles wieder so herzustellen, dass man fast nicht mehr merkt, dass hier eine Flut war. Und ich habe das Gefühl, jetzt ist der Zeitpunkt, wo das Haus wieder richtig gut versorgen und Räume bieten kann. 

„Gönn´ dir, gönn´ uns, gönn´ anderen“: Unter diesem Motto sucht lila_bunt 400 verlässliche Gönner*innen, die mit einer monatlichen Spende von 10+ € unterstützen – damit Zülpich weiter für alle offen und leistbar bleiben kann: https://lilabunt.de

Der Artikel erschien zuerst im September 2024 in der Zeitschrift Wir Frauen (www.wirfrauen.de) zum Schwerpunktthema „Älter werden“.

Autorin: Melanie Stitz
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 19.09.2024

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