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Die hermeneutische Sekunde

Von Caroline Krüger

Diesen Vortrag hielt Caroline Krüger bei der Denkumenta 3 in einer gemeinsamen Veranstaltung mit Andrera Trenkwalder-Egger und Anne-Claire Mulder zum Thema “Umgang mit dem UNVERFÜGBAREN – drei Konzepte für die Praxis der Begegnung”. Sie hat uns den Beitrag hier zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt.

Gespräche bei der Denkumenta 3 in St. Arbogast.

Der Idee, dass es so etwas wie eine hermeneutische Sekunde geben könnte, bin ich zum ersten Mal während meines Philosophiestudiums begegnet, in einem Seminar zum Thema Hermeneutik. Seither hat dieses Konzept immer wieder eine Rolle für mein Denken gespielt und ich glaube, es könnte hilfreich sein für die Kommunikation allgemein.

Eine Hauptschwierigkeit in der Kommunikation scheint mir zu sein, dass wir unsere Meinungen bereits haben und den anderen zuhören, fast eher, um unsere Meinung gut platzieren zu können als um wirklich zu hören oder zu lesen, was uns andere vermitteln möchten. Daher versuche ich nun ganz kurz, das Konzept der hermeneutischen Sekunde zu erläutern und zu zeigen, wie sie im Umgang mit dem Unverfügbaren und Unklaren (wie beispielsweise den Gedanken anderer) hilfreich sein kann.

Hermeneutik

Die Hermeneutik ist die Theorie der Interpretation von Texten und allgemein des Verstehens. Der Begriff leitet sich ab vom griechischen ἑρμηνεύειν hermēneúein (deutsch ‚erklären‘, ‚auslegen‘, ‚übersetzen‘). Gut gefällt mir auch, dass der Götterbote Hermes heisst, ich denke dabei immer an einen «Hermeneus». Ein Hermeneus ist ein Übersetzer, ein Hermes ein Götterbote – es heisst zwar, dass der Name Hermes von ἕρμα hérma (deutsch ‚Felsen‘, ‚Stein‘, ‚Ballast‘) hergeleitet werde. Aber seit immer schon denke ich, dass ein Bote doch eher ein Übersetzer ist als ein Steine-Bringer. Und die Idee, dass er als Bote auch etwas Göttliches, im Sinne von: etwas ganz Anderes, Unbekanntes, Neues bringen kann, gefällt mir – auch wenn es etymologisch vielleicht nicht korrekt ist.

Die Hermeneutik jedenfalls, die Lehre vom Verstehen, macht bewusst, dass Menschen Symbole verwenden, um sich zu verständigen. Diese Symbole sind sinnvoll innerhalb einer Gemeinschaft, die diese auch versteht. Eine gemeinsame Sprache zu finden, die es erlaubt, sich gut zu verständigen, ist Teil der Aufgabe der Hermeneutik. In Bezug auf die Auslegung von religiösen Schriften und Gesetzen gibt es die Hermeneutik schon seit der Antike. In neuerer Zeit entwickelte sie sich zu einer Philosophie des Verstehens. Ein bekannter Vertreter dieser Form der Hermeneutik war Hans Georg-Gadamer (1900-2002).

Gadamer beschreibt, wie wir Texte verstehen: Es ist immer ein Entwerfen: Sobald sich ein Sinn zeigt, sobald wir also meinen, etwas zu verstehen, wird entworfen, welchen Sinn das Ganze haben wird. So lesen wir sozusagen mit Vorurteilen, wobei wir diese immer wieder revidieren. Aus dieser Art des zirkulären Lesens entsteht das Verstehen. Für Gadamer ist es von grosser Bedeutung, dass Lesende bereit sein müssen, sich vom Text etwas sagen zu lassen, also eine gewisse Offenheit mitbringen und bereit sind, die eigenen Vorannahmen, Vorurteile, Vorverständnisse zu reflektieren.

In meinem Uniseminar über Gadamer meldete sich damals ein Student, der auch Jura studierte und brachte die Idee der juristischen Sekunde in die Diskussion ein. Leider habe ich den Namen des Studenten vergessen, aber diese Verknüpfung der juristischen Sekunde und der Hermeneutik war für mich seither wichtig.

Die juristische Sekunde

Eine juristische Sekunde ist ein sehr kurzer Zeitraum, symbolisiert durch die Sekunde, in dem eine Art Unentschiedenheit zwischen zwei rechtlichen Zuständen besteht. Ein Beispiel: Wenn ich an einem Kiosk eine Zeitung kaufe und diese in der Hand halte, aber noch nicht bezahlt habe, dann bin ich für eine juristische Sekunde lang bereits im Besitz der Zeitung, aber noch nicht ihre Eigentümerin.

Der Besitz besteht bereits durch das In-der-Hand-Halten, während das Eigentum erst durch das Bezahlen erreicht wird. Es gibt also eine Art unentschiedenen Moment.

Die hermeneutische Sekunde

Wenn wir nun diese Idee auf die Hermeneutik übersetzen, könnte dies folgendes bedeuten. Wenn ich einen Text lese oder einer Person zuhöre, gibt es eine hermeneutische Sekunde, während derer ich noch nicht weiss oder ahne, was dort steht oder was die Person sagen möchte. Noch bevor ein Vorverständnis einsetzt, gibt es diesen Moment der Offenheit.

Allerdings ist er, analog zur juristischen Sekunde, sehr kurz. Meine Idee, die hermeneutische Sekunde zu kultivieren, bedeutet zu versuchen, diesen Moment auszudehnen.

Was ist das Besondere dieser Sekunde, weshalb verdient sie eine Ausdehnung?

In diesem kurzen Moment, während ich noch nichts verstehe, aber offen bin, etwas aufzunehmen, ist meine Lernbereitschaft und Offenheit für Neues am grössten. Wenn ich in diesem Zustand bleibe, habe ich die Chance, wirklich zu lesen, wirklich zuzuhören, ohne bereits im Hinterkopf Argumente der Erwiderung auszudenken.

Vielleicht erinnern sich viele an eine Kindheitserfahrung: Nacheinander lesen in der Schule alle Kinder einen Satz vor. Jedes Kind kann sich ausrechnen, wann es dran sein wird. Weil das Lesen bewertet wird, hören die Kinder einander nicht zu, sondern bereiten sich im Kopf auf „ihren Satz“ vor. So ähnlich erscheinen mir manchmal Diskussionen: Die Diskussionspartner:innen warten ab, bis die andere Person zu Ende gesprochen hat, um dann ihre vorbereitete Position vorzubringen. Es geht bei dieser Art Diskussion nicht ums Verstehen, nicht einmal eine winzige hermeneutische Sekunde lang.

Wenn wir stattdessen die hermeneutische Sekunde kultivieren, riskieren wir, weniger souverän zu wirken. Denn wir warten so lange wie möglich, bis wir unser Vorverständnis dessen, was die andere Person oder der Text, meint, aktivieren. Und wenn wir es tun, dann reflektieren wir – so wie auch Gadamer es empfiehlt. Dieser Moment, bevor wir noch eine Meinung äussern, bevor wir eine Meinung haben, ist ein kostbarer und riskanter Moment. Wir haben die Möglichkeit, wirklich etwas aufzunehmen. Und wir gehen das Risiko ein, es nicht zu verstehen, im Unklaren stecken zu bleiben. Das Unklare ist aber ohnehin immer vorhanden. Es erscheint in der hermeneutischen Sekunde und zeigt Möglichkeiten. Wenn wir es unterdrücken, zugunsten einer vermeintlichen Klarheit, berauben wir uns selbst der Möglichkeit, Neues zu erfahren. Daher mein Plädoyer für das Ausdehnen der hermeneutischen Sekunde als eines Zeit-Raums für das Unklare und undefinierte Neue und Andere.

Verbindungen

Zwischen den Konzepten der hermeneutischen Sekunde, dem Dazwischen und dem Empty Risky Space gibt es Verbindungen. Alle drei geben dem Unklaren und nicht oder noch nicht Definierten oder sogar Undefinierbaren Raum. Das Unklare wird nicht an den Rand gedrängt, sondern mit Interesse in der Mitte begrüsst.

Autorin: Caroline Krüger
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 04.09.2024
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Klara sagt:

    Oh, was für tolle, wertvolle, nach_denk_enswerte Impulse! Vielen vielen Dank fürs Teilen!

  • Kostbar – grossen Dank, ich werde die Sekunde bewusst ausdehnen. Ein hilfreicher Impuls, merci fürs Erläutern und herzliche Grüsse
    Adelheid

  • Elfriede Harth sagt:

    Herzlichen Dank, liebe Caroline, für diese schönen, wertvollen Gedanken. Auch die “Nebenschauplätze” Deiner Ausführungen (die Suche nach Bedeutungen…) machen mir Freude! LG Elfriede

  • Birgit sagt:

    Ein kurzer, klarer, freundlicher Text, der wunderbar leicht deutlich macht, wie wichtig und kostbar dieser hermeneutische Moment ist. Eine großartige Idee, deren Umsetzung für jede:n machbar ist: zur bewussten Anwendung in Partner:innen-Gesprächen bzw. Beziehungen jeder Art! Danke!

  • Dagmar sagt:

    Sehr inspirierender Text. Danke. Wenn zur Kultivierung einer hermeneutischen Sekunde dann noch Ambiguitätstoleranz hinzukommt, sind wir auf dem Weg zu einer Debattenkultur, die den Umgang miteinander wesentlich angenehmer machen wird. Wir müssen nicht einer Meinung sein, im Gegenteil, aber einander zuhören, um Verstehen bemüht sein und dann herzhaft streiten, das wär’s….Schöne Aussichten!

  • Danke! Ein erfrischendes Wachrütteln zu dem, wie Gespräche im Grunde sein sollten.

  • Gré Stocker- Boon sagt:

    Herzlichen Dank für Deinen Vortrag.
    Habe es gut verstanden, finde es interessant und gut anzuwenden eine gute Sache.

  • Fidi sagt:

    Danke!
    …und jetzt nicht vergessen, sage ich mir:
    das ganze Leben ist eine Aneinanderreihung von Sekunden…

  • Eduardo de Gendre sagt:

    Super erklärt, so dass sogar ich es, schon nach wenigen hermeneutischen Sekunden, verstehen konnte.

  • Caroline sagt:

    Danke euch allen für die schönen Kommentare – ich freue mich darüber, dass die hermeneutische Sekunde euch auch gefällt!

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