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Sklaverei ist Freiheit?

Von Birgitta M. Schulte

Virginia Woolf hat uns aufgefordert: schreibt wie Frauen! Schreibt nicht die lineare geradeaus erzählte Heldengeschichte, sondern schreibt verschlungen, lebendig, frei.

Nora Ikstena erzählt als Frau die Leben zweier Frauen. Sie schreibt im Strickmuster, eins rechts, eins links. Kurze Passagen aus der Sicht der Mutter wechseln sich ab mit kurzen Passagen aus der Sicht der Tochter. So hat sie zwei Generationen und damit eine erweiterte Strecke historischer Zeit im Blick. Vom 22. Oktober 1944 bis zum 9. November 1989 reicht die erzählte Zeit. Der Ort: Lettland. Genauer: Die Lettische Sowjetrepublik. „Wir hatten einen Staat und sogar eine Fahne“ – das weiß schon die Mutter nur aus den Erzählungen ihres Vaters, die Tochter erfährt davon durch das Fotoalbum ihres Großvaters. Den nennt sie nur “den Stiefvater” ihrer Mutter. Dass es einen leiblichen Großvater nicht gibt, ist der “blutigen Polka der Geschichte“ geschuldet. Der Vater, ein Förster, hat versucht, die Tannenschonung zu schützen, als die “Rotte“ Sowjetsoldaten sägend und alles klein schlagend das Holz raubten. Er wird in die Verbannung geschickt, kehrt wieder und stirbt, weil er körperliche und seelische Erniedrigung nicht aushalten kann. Seine ehemalige Frau, die Großmutter, verleugnet ihn, hält den Blick fest gerichtet auf das Wohlergehen ihrer neuen Familie und ihres Kindes.

Lüge, Verstellung, Unterwerfung unter die sowjetische Macht und ihre Norm werden zum Trauma der Mutter. Sie wird denunziert, von “Gott“ gesprochen zu haben; sie liefert dem Geheimdienst, was er wissen will, gibt sich die passende Fassade. Ihr Wunsch nach Selbstbestimmung und die Solidarität mit einer anderen Frau lässt sie unvermittelt gewalttätig werden: ein Befreiungsschlag gegen einen Säufer und Schläger, den Mann einer Freundin und Patientin. Die Mutter ist Medizinerin, möchte gern forschen, wird aber auf seine Anzeige hin aus dem Institut in Leningrad in ein kleines lettisches Dorf versetzt. Der Schläger hatte sich im Großen Vaterländischen Krieg einen Verdienst erworben: den, Veteran zu sein. So landet auch die Mutter in der Verbannung.

Der Tochter scheint die Anpassung besser zu gelingen bis sie auf der Suche nach der lettischen Literatur und ihrem historischen Erbe ebenfalls gedemütigt wird.

Ich lese über Unterdrückung und Widerstand aus der Perspektive der aufwachsenden Tochter. Für mich ist sie die führende Stimme des Romans. Erzählt aus dichter Nähe. Sparsame Sätze von großer Kraft, eine metaphernreiche, poetische Sprache. Eine Erzählung, die stets bei den Gefühlen von Mutter und Tochter bleibt, und doch darin das Schicksal einer Nation aufscheinen lässt. Ein großartiges Buch.

Es wurde in fünfzehn Sprachen übersetzt und stand auf der Shortlist des Literaturpreises der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung. Die Autorin wurde bereits mehrfach ausgezeichnet.

Nora Ikstena, Muttermilch, aus dem Lettischen von Nicole Nau, Klak-Verlag 2018, 212 S. 16,90 Euro.

Autorin: Birgitta M. Schulte
Redakteurin: Juliane Brumberg
Eingestellt am: 04.08.2024
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