Forum für Philosophie und Politik
Von Jutta Pivecka
Start einer neuen Serie auf bzw-weiterdenken.de
Wir brauchen mehr Erzieher_innen! Und Pflegekräfte in Kliniken und Altenheimen! Und mehr Lehrer_innen! Mehr Heizungsinstallateur_innen! Integrationslots_innen! Verwaltungsmitarbeiter_innen! Gastronomiemitarbeiter_innen! Schaffner_innen! Reinigungskräfte! Elektroniker_innen! IT-Fachkräfte! Überall ist mehr und – teilweise? -Wünschenswertes zu tun: mehr zu beraten, zu bauen, zu versorgen, zu betreuen, zu evaluieren und zu sensibilisieren! Überall Baustelle! Überall zu wenige: zu wenige, die bezahlbare Wohnungen bauen, zu wenige, die Bedürftige pflegen, zu wenige, die Kinder betreuen und lehren, zu wenige, die Züge fahren oder Toiletten reinigen!
Wir fordern immerzu: Mehr Geld für Bildung, Pflege, ökologischen Heizungsumbau, Wohnungsbau, öffentlichen Nah- und Fernverkehr…20 Millionen hier, 3 Milliarden da, 100 Milliarden dort. Wir fordern…immerzu! Mehr Mitarbeiter_innen in Schulen, Pflegeeinrichtungen, Verwaltungen, im Bau und in der Gastronomie…überall mehr…
Vielleicht sollten wir das Ganze einmal umdrehen. Und nicht mehr, mehr, mehr, sondern weniger fordern. Weniger Bürokratie, weniger Dokumentation, weniger Hierarchie, weniger Kontrolle, weniger sinnlose Arbeit, bei der kein Mehrwert entsteht. Weniger sinnlose (Erwerbs-) Arbeiten, die überflüssig sind, die wir lassen sollten, die weg können.
Ein Blick zurück zeigt uns, dass unsere Forderungen nach „mehr“ verpufften. Geld war auch vor 30 oder vor 20 oder vor 15 Jahren „da“ – aber es wurde nicht investiert in bessere Pflege, bessere Infrastruktur, besseren Klimaschutz, bessere Bildung. Also nun endlich: Geld her?
Die berechtigte Kritik an den politischen Fehlentscheidungen in der Vergangenheit entbindet uns nicht davon, auch unsere eigene „Forderungsroutine“ kritisch zu hinterfragen. Wünschenswert wäre zweifellos ein quantitativer und qualitativer Ausbau der Pflegekapazitäten, des sozialen Wohnungsbaus, des Bildungssektors… Und Geld ist letztlich auch „da“ – das ist immer eine Frage der Verteilung. Die gewohnten Forderungen nach weiteren Millionen oder Milliarden für die bestehenden Systeme werden jedoch kaum helfen, die Verhältnisse zu verbessern. Denn die Beschäftigten in Pflege, Verwaltung, Bildung und Erziehung, Wohnung- und Heizungsbau sind jetzt schon ausgelastet, nicht selten ist ihre Belastungsgrenze längst erreicht. Mehr Geld „in die Hand zu nehmen“ wird kurz- und mittelfristig nicht dazu führen, dass sie durch zusätzliche Kräfte entlastet werden können. Es gibt schlicht und ergreifend diese Menschen mit entsprechenden Kompetenzen nicht. Wenn in den kommenden Jahren die Boomer-Jahrgänge in Ruhestand gehen, wird sich die Personalnot in allen Bereichen verschärfen.
Und daher: Welche Forderungen machen jetzt Sinn, um das Leben vieler Menschen zu verbessern? Wir brauchen momentan nicht vor allem „mehr Geld“ für dieses oder jenes, sondern Ideen, wie diejenigen, die notwendige und sinnvolle Arbeiten leisten, von jenen Aufgaben entlastet werden können, die nicht zu einem besseren Leben beitragen.
Im privaten und beruflichen Umfeld hören wir alle davon, dass Arbeitsprozesse durch kleinteilige bürokratische Vorschriften behindert werden, dass sinnlose Dokumentationspflichten wertvolle Arbeitszeit kosten, dass sich überschneidende und widersprechende Strukturen Ressourcen zwecklos verpuffen lassen oder falsch lenken. Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland mehr Lehrkräfte, mehr Pflegekräfte, mehr Ärztinnen und Ärzte, mehr Verwaltungskräfte, mehr Erzieherinnen und Erzieher als je zu vor. Und doch warten Schwerkranke wochenlang auf einen Arzt- oder OP-Termin, erstellen immer mehr Kollegien in Schulen Überlastungsanzeigen, erhalten Pflegebedürftige und ihre Angehörigen keine zeitnahe Beratung, rennen Eltern sich für KITA-Plätze die Hacken wund.
Es ist also an der Zeit – und eigentlich reden ja auch alle immerzu davon – sich zu fragen: Was kann weg? Welche Arbeiten, Dokumentationen, Vorschriften sind überflüssig, welche unverhältnismäßig, welche Strukturen belasten, statt zu entlasten, was ist wirklich notwendig und was nur wünschenswert? Wir müssen ausmisten: Gesetze, Verordnungen, Arbeitsabläufe. Das wird auch weh tun. Denn an diesen Strukturen hängen lieb gewordene Routinen, gewohnte Arbeitsumfelder und auch so manche Organisation, die sich mehr oder minder aus staatlichen Geldern finanziert. Und das kommt dann weg. Mit heftigem Widerstand ist daher zu rechnen.
Eins ist klar: So kann es nicht weitergehen. Der Karren wird nicht mit einem Schlag explodieren; er rumpelt so dahin, noch eine ganze Weile. Wird langsamer, schleicht…derweil lernen immer mehr Kinder nicht lesen und schreiben, sterben Menschen, weil sie nicht rechtzeitig operiert werden können, leiden Pflegebedürftige, kommt die Energiewende nicht voran…
Wir wollen in dieser Serie Expertinnen aus verschiedenen Arbeitsbereichen befragen: Ist das (sinnvolle) Arbeit – oder kann das weg? Wie kann in ihrem Bereich – in der Schule, in den Kindertagesstätten, in der Pflege, in der ärztlichen Versorgung, in der Verwaltung, im öffentlichen Verkehr, in Betrieben … – mit Ressourcen besser umgegangen werden, was kann ersatzlos wegfallen, worauf kommt es wirklich an? Konkret und praxisnah.
bzw-weiterdenken.de plant eine Interviewreihe zu diesem Thema. Dabei hoffen wir vor allem auf die Expertise unserer Leserinnen. Vorschläge für Themen und Interviewpartnerinnen sind willkommen. Bitte kontaktiert uns unter:
Auf diese Reihe bin ich sehr gespannt, suche ich doch selbst händeringend Helfer*innen (Assistenzkräfte) in der Freizeitbegleitung für meine behinderten Junioren. Ganz abgesehen davon, dass kaum noch jemand ein Ehrenamt machen möchte, scheitert es an den Dokumentationen fürs Sozialamt, das das Persönliche Budget bewilligen muss und mit dem Geld knausert.
Liebe Grüße und gutes Gelingen