beziehungsweise – weiterdenken

Forum für Philosophie und Politik

Rubrik anschauen, denken, erinnern

Unklarheit im Ökologischsein

Von Anne Newball Duke

Dieses und alle folgenden Fotos und Bearbeitungen: Anne Newball Duke

„… manchmal wird nicht gehandelt, obwohl die Notwendigkeit klar ist, wie bei der Klimakrise“

So steht es in unserem kleinen Text für die Denkumenta 3, die vom 22. – 25.8. in St. Arbogast stattfinden wird (Anmeldungen immer noch möglich!).

Über diesen kleinen Satz stolperte ich seit Anbeginn. Aber es war da noch unklar, worüber genau. Und so wurde das Stolpern Auslöser für all die Denkbewegungen in diesem Text. Ich fragte mich: Was ist eigentlich klar? Natürlich ist klar, dass gehandelt werden muss. Aber wissen wir wirklich, was und wie genau wir handeln müssen? Wissen wir, wohin die Reise gehen muss, um wieder in die planetaren Grenzen zu gelangen? Und wissen wir überhaupt, wo wir uns eigentlich gerade befinden (manche Lieder von PeterLicht bekommen für mich wieder neuen Bedeutungsklang, wenn ich selbst einen Satz bilde, der einer aus einem seiner Lieder ist; wie hier aus „Gerader Weg“)? 

Ich möchte diesen Text beginnen mit genau dieser unklaren Position oder Stelle, an der wir uns wohl alle mehr oder weniger befinden. 

Zuvor noch ein kleiner Hinweis: Dieser Text hat eine Lesedauer von 60 bis 90 Minuten; und das bei schnellem Lesen (, was ich nicht empfehle). Wer die Zeit nicht aufbringen kann, der kann auch zum Ende vorspulen und die Quintessenz lesen; und vielleicht dadurch Lust bekommen, doch noch der Erschließung zuzuschauen. Folgende Sprüche oder kluge Sätze werde ich auf dem Textweg von Denker*innen auseinandernehmen, mitnehmen, miteinander verweben und weiterdenken:

„Die Werkzeuge des Meisters werden das Haus der Herrschenden niemals niederreißen.“ (Audre Lorde)

Was sind die Werkzeuge des Meisters eigentlich? Wann und wie wurden sie gebaut und wann und wie begannen die Werkzeuge des Meisters zu wirken? Und wie und wann benutzen wir sie – ohne es zu wollen oder uns darüber bewusst zu sein – auch in feministischen Kämpfen? Den Fragen gehe ich nach, um zu wissen, welche Werkzeuge keine des Meisters sein könnten, und welche dann vielleicht die Werkzeuge sein könnten, die uns in ein gutes Leben innerhalb der planetaren Grenzen führen. 

„Macht euch verwandt, nicht Babys!“ (Donna J. Haraway)

Was genau bedeutet eigentlich Verwandtmachen mit anderen Arten? Welche Werkzeuge, welche Techniken und welches Bewusstsein braucht es dazu?

„Manche Dinge sind realer als andere, weil sie präsenter sind.“

Der Gedanke ist von Heidegger, den ich eigentlich nicht gern zitieren möchte, aber leider hat mich dieser Satz sehr inspiriert, und Timothy Morton, in dessen Buch ich den Gedanken gefunden habe, hat es mir mit seiner vorsichtigen Lesart und einer für mich stimmigen Erklärung, wie es für ihn selbst möglich wurde, Gedanken von Heidegger weiterspinnen zu dürfen, ermöglicht.

Das Konzept der „gefährlichen Nachbarschaft“ von Antje Schrupp

„Der Weg zur Hölle ist mit guten Absichten gepflastert.“ (Sprichwort) feat. die Eule der Minerva

Seltsam und vage

Ich habe letztens irgendwo gelesen oder gehört: es ist nicht ganz sicher, ob wir Menschen ohne Vögel überleben können, weil wir ohne ihr Dasein, ohne ihr Gezwitscher keinen Sinn mehr finden können in unserem Leben auf dieser Welt. 

Meine erste Reaktion mitten im Schockzustand, nach dem ersten Blitzeinschlag, war in etwa diese: „Das geht schon, ich höre oft tagelang keine Vögel. Das gehört dann leider einfach zur Klimaanpassung dazu. Ich meine, jetzt mal ganz rational: ohne Wasser können wir ganz sicher nicht leben, aber ohne Vogelgezwitscher?“ 

Schon beim Denken fühlten sich die Worte falsch an. Ich wusste im Grunde, dass es eine Verdrängungstaktik war. „Jetzt nicht, bitte, ich kann das jetzt nicht aufnehmen.“ Was genau wollte diese Aussage aber mit mir tun, was war ihre Intention? Wollte sie mich mit diesem klitzekleinen Einblick in ein zukünftiges Klimakrisenweltszenario in diesen Schockzustand versetzen? Oder anders gefragt: Bin ich nur wieder zu emotional, weil natürlich gibt es bei dieser Aussage auch eine distanzierte „rationale Wahrnehmungsmöglichkeit“?  Und mitten in die Aussage selbst hineingedacht: wo befinden wir uns momentan, das Aussterben der Vögel betreffend, ich meine ganz konkret? Und je mehr ich nach dem Konkretem fragte, desto mehr begann sich ein schwindelerregendes Karussell in mir zu drehen; ich begriff die Sinnlosigkeit meiner Frage. Denn wonach fragte ich? Nach Daten und Fakten? Oder danach, wieviel Zeit den Vögeln und also auch mir noch bleibt? Und dann? Welche Schlüsse ziehe ich daraus für meine so und nicht anders bestimmte Position mitten im Massenaussterben? Und weiß ich dann unmittelbar, was zu tun ist? 

Timothy Morton beschreibt die Wahrnehmung der sich bereits in vollem Gang befindlichen Klimakatastrophe als „not-quite-reality“, eine „Noch-Nicht-Realität“. Diese zeichnet sich aus durch eine essenzielle intrinsische Vagheit: Wie fühlt sich das Wissen um Massenaussterben an? Morton vergleicht es mit dem Gefühl wie im Jetlag: es ist wahr; ich fühle den Jetlag, aber was kann ich sonst noch „Wahres“ über ihn sagen? Übertragen auf das Massenaussterben: Ist es greifbar? Wie kann ich es anderen greifbar oder be-greifbar machen, wenn es sich doch ganz allein um mein Gefühl, um meine ganz persönliche Reaktion auf das Massenaussterben handelt? Was kann ich „Wahres“ über mein Gefühl sagen? Wir stehen also alle in der Mitte des Massenaussterbens, wir sind alle mittendrin, aber jede Person setzt sich in anderer Weise dazu in Beziehung. Massenaussterben ist so schrecklich, so unvorstellbar und noch immer oft so unsichtbar. Wir wissen eigentlich alle nicht, wo wir starten sollen, und wo wir uns befinden, und wir entscheiden uns aus dieser Not heraus entweder für das Ignorieren der Tatsache oder für das Elektroschocken anderer, so Timothy Morton.

In jedem Fall also haben wir auf welche Art auch immer eine Beziehungsweise mit dem Massenaussterben, auch wenn es die meiste Zeit durch Ignorieren unsererseits gekennzeichnet ist. Denn nicht alle Dinge sind logischerweise immer direkt und ständig präsent. Timothy Morton bringt als Beispiel den Lichtschalter: wir nehmen ihn nur wahr, wenn sich das Licht mit ihm nicht mehr anschalten lässt. Denn die Dinge erscheinen uns oft erst, wenn sie nicht mehr funktionieren. Genauso verhält es sich auch mit dem Atmen. Wir tun es die ganze Zeit, es ist lebensnotwendig, aber es gibt Menschen, die bemerken bis zum letzten Atemzug nicht, dass sie ihr ganzes Leben lang täglich etwa 20.000 Atemzüge getan haben, also pro Minute zehn bis achtzehnmal ein- und wieder ausgeatmet haben; auch in der Dunkelheit der Nacht, wenn das Bewusstsein sich endlich einmal losgelöst von Kopfrationalitäten auf die Reise machen kann.

Dieses Nicht-Präsent-Halten-Können gilt auch für das Massenaussterben. Und wenn wir es einmal an uns heranlassen, dann wissen wir nicht, was wir damit tun sollen. Timothy Morton schreibt (ich übersetze frei): „Die Seltsamkeit, mit der wir uns dem Fakt konfrontiert sehen, dass wir verantwortlich sind für ein Massenaussterben, ist Teil des Ganzen, und kann nicht einfach gelöscht werden. Leuten ins Gesicht zu schreien, dass wir gerade Lebensformen unwiderruflich auslöschen, ist nicht nett, weil es die Seltsamkeit löscht. Und kontrovers zu argumentieren und zu sagen: ‚Wen juckt es schon? Alles wird irgendwann einmal sowieso ausgelöscht‘, was die Rechten oft sagen, aber auch Umweltaktivist*innen der extremeren Sorte, wie beispielsweise der ökologische Denker Paul Kingsnorth in Dark Mountain Project, ist auch nicht nett, weil es ebenfalls versucht, die Seltsamkeit auszulöschen. Diese Formen von purer Gewissheit erkennen nicht, wie die Dinge sind.“ 

Wenn nicht mit purer Gewissheit; wie erkennen wir dann die Dinge? Nach Morton muss es einmal den Moment geben, indem eine Person ausbricht und die (alb)traumhafte Qualität des Zustands zulässt und auch so stehen lassen kann und sagt: „You gotta be fucking kidding“. Und das ist der Moment, in dem sie beginnt, der Taktik zu vertrauen, sich nicht mehr aus dem Albtraum aufzuwecken, sondern sich stattdessen erlaubt, weiter hineinzufallen, um hinter den Horror zu gelangen. „Unter dem Raum der Lächerlichkeit ist dann die Region der Melancholie, wo die Dinge weniger horrorvoll sind, sondern mehr in die Unklarheit gehen, und hier schweben alle möglichen Fantasiegebilde umher wie Meerjungfrauen unter Meeresalgen und U-Booten. Ein Bereich des Unsagbaren, Nichtmenschlichen unbegrenzter Schönheit, wo die normativen anthropozentrischen Parameter beginnen aufzubrechen.“

Morton schlägt ein ökologisches Denken vor, dass er „dunkle Ökologie“ nennt. Dieses würde aber nicht komplett des Lichts entbehren, sondern eher an Norwegen im Winter erinnern oder an die Art und Weise, wie das Licht im Arktischen irgendwie etwas Rutschiges und Flüchtiges über sich selbst offenbart. Und genauso wie dieses Licht sollten auch wir Menschen – so Morton weiter – uns wieder zunehmend nicht durch und durch menschlich verstehen; denn wir sind es auch nicht. Wir und alle anderen Lebensformen existieren in einem ambiguen Raum zwischen rigiden Kategorien.

Der ambigue Raum ist nichts weiter als ein Raum, in der Unklarheit herrschen darf. Und jetzt streifen wir das erste Mal dem Begehren, das mich zum Schreiben dieses Textes gedrängt hat: Dass wir beginnen, die Unklarheit als etwas Positives und – ich gehe sogar so weit zu sagen – Überlebensnotwendiges zu sehen. Ich möchte der Unklarheit ihr Bedrohliches nehmen. 

Wir brauchen Zeit für die Dinge, die zwischen richtig und falsch und schwarz und weiß liegen. Ökologische Wesen wie Lebensformen und globale Erwärmung – so Timothy Morton – erfordern modale und parakonsistente Logiken. Und diese Logiken erlauben bis zu einem bestimmten Grad Ambiguität und Flexibilität. Dinge können so auf eine Art nicht nur „richtig“ und „falsch“, sondern auch „leicht falsch“ und „fast richtig“ sein. 

Vor vielen Jahrtausenden haben die Menschen begonnen, eine Welt in der Welt zu bauen: eine menschliche, europatriarchale, real existierende Wirklichkeitskonstruktion auf der Welt, die nicht mehr direkt und unmittelbar mit der Welt verbunden ist, wobei – eine meiner wilden Thesen – genau diese „erdungebundene“ Wirklichkeitskonstruktion die Menschen befähigt, die Welt zu zerstören. Die Zerstörung kommt einher mit all den Geschichten und um uns wabernden Diskursen über Rettung oder Nicht-Notwendigkeit von Rettung oder Wir-Tun-Schon-Genug-für-die-Rettung. Ich habe mir alle angeschaut: keine Geschichte, kein Diskurs trifft den Nagel auf den Kopf. Das geht auch gar nicht, denn es sind rein menschengemachte Diskurse mitten im Europatriarchat, mit denen wir Ordnung bringen wollen in schlüpfriges antarktisches Licht. Wir mögen keine schlüpfrigen Lichtverhältnisse. Wir tauchen das schlüpfrige, rutschige Licht in künstliches Licht, das alles in die hinterste Ecke ausleuchtet. In diesem können wir die Dinge kategorisieren und katalogisieren und in Grafiken packen und hoffentlich so zubereitet unserem rational vernunftstrunkenen Kopf zugänglich machen. Hier, das sind die Daten, friss oder stirb. Und nun, was? Was haben all die Daten, mit denen wir uns unserer Selbst und unserer Ordnung vergewissern, mit der weltlichen Realität zu tun, deren intrinsischer, eingewobener Teil wir sind, auch wenn wir seit einigen Jahrhunderten oder sogar Jahrtausenden keine Wahrnehmung, keinen Atemzug darauf lenken? Hand aufs Herz? Was passiert, wenn wir aus Versehen mal aus den stress- und gewaltvollen, aber immer noch Sicherheit und Ordnung vorgebenden Diskursen kippen, in das schlüpfrige antarktische Licht hinein? 

Und ich würde weitergehen als Timothy Morton. Wir brauchen auch Zeit für die Dinge, die ganz im Dunklen verborgen liegen, und nur da sein können. Es gibt natürliche Dualismen wie die von Tag und Nacht. Es gibt hell und es gibt dunkel. Und dazwischen eine Mannigfaltigkeit an Nuancen usw. Aber: es gibt ganz eindeutig hell und es gibt dunkel. Es gibt den Tag und es gibt die Nacht. In den letzten Jahrtausenden haben wir die Nacht vertaglicht. Wir haben die Nacht und ihre Dunkelheit und mit ihr die Unklarheit, die in ihr immer sein durfte und sein musste, aufgelöst. Warum haben wir das getan? Und kann es sein, dass der Verlust der Unklarheit etwas zu tun hat mit dem Pfad der Zerstörung, auf dem wir uns aktuell befinden?

Langsamkeit

Klarheit und Schnelligkeit bringen mich voran. Ich werde gelobt von allen Seiten, wenn ich klar und schnell bin. Aber ich will nicht mehr klar und schnell sein. Je weniger klar und schnell ich bin, desto besser geht es mir, desto mehr komme ich zu mir. Die Dunkelheit breitet sich tief und bleiern in mir aus, sie tritt aus meinen Poren heraus und umschleiert mich bald vollends. Ich durchschreite sie vorsichtig tastend. Stehen jetzt dieselben Dinge noch um mich herum wie in Klarheit? Worauf muss ich aufpassen? Woran könnte ich mich stoßen, wo herunterfallen? Vielleicht schreite ich besser nicht voran. Meine Körperin führt Bewegungen aus, die ich nicht kenne. Oder doch? Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was sie genau tut. Spiegel gehen ihr natürlich total ab. Vielleicht strauchle ich auch nur, ich merke, dass mein Gleichgewicht verrutscht. Mein Arm hier, der andere da, vielleicht. Ich sehe sie nicht. Die Dunkelheit ist so tief und schwer. In der Dunkelheit kann ich nicht so schnell voranschreiten. Ich bremse immer noch ab, seit Jahren bremse ich, und immer noch stoße ich mich in der Dunkelheit schmerzhaft. Auch, weil ich immer wieder zurücktreibe ins Licht. Und ich bin gleichzeitig furchtbar lichtsensibel, wurde mir erst gestern wieder von einem Arzt bestätigt. Ein Auslöser meiner Migräne könnte auch meine Lichtempfindlichkeit sein. Sollte ich mich also einfach mehr im Dunklen aufhalten? Es wird immer schwerer, aus Zuständen der Dunkelheit und Langsamkeit wieder zu Klarheit und Schnelligkeit zurückzukehren. Ich taumle, fasse Fuß, nicht so grelles Licht bitte, langsamer, die Augen schmerzen, ich brauche Orientierungszeit, um zurück ins Helle zu gelangen. 

Das Erste, was ich wahrnehme: die Menschen um mich herum sind so schnell. Sie denken so schnell. Sie urteilen so schnell. Sie wissen schnell. Ich passe nicht mehr rein. Nicht in diese hellbeleuchtete Kultur. Aber wenn ich wieder abtauche, bin ich auch immer noch zu schnell für diese Form der dichten schweren Dunkelheit. Aber meine immer langsamer werdenden Bewegungen in den dunklen Momenten sind anscheinend schon ganz klar aus dem Europatriarchat gefallen. Es tut so gut, es fühlt sich richtig an, ich lasse mich noch tiefer fallen in die Dunkelheit, vertrau mir, sagt etwas in mir, irgendwas in meiner Körperin, hier bist du richtig. Wo sollte ich auch sonst richtig sein als in meiner Körperin.

Aus dieser Langsamkeit und Dunkelheit meiner Körperin heraus kann ich berichten: keine einzige Wende – weder die Energiewende noch die Ernährungswende noch die Mobilitätswende – wird im Kapitalismus enden. Sie werden nicht vollendet werden. Verlassene milliardentonnenschwere alte und neue Gerätschaften gebohrt, vernagelt, gehämmert in den Boden unserer Welt. Die Dunkelheit weiß das sicher. Und sie erzählt das auch sehr freimütig jeder Körper*in, die sich im Dunklen aufhalten darf und die Langsamkeit und Dunkelheit eine Weile ertragen kann. 

Die Unklarheit in der Dunkelheit versteckt nichts und beschönigt nichts, sie sagt mir die Dinge, wie sie sind, ohne dabei auch nur irgendetwas klar zu haben. Ich bekomme kein konkretes Wann. Kein konkretes Wie. Auch kein wie lange dies und wie lange das. Auch kein wo dies und wo das. Auch kein konkretes Warum. Vielleicht würde ich es, aber dafür hätte ich mein ganzes Leben die Dunkelheit als Teil meiner selbst akzeptiert und mit ihr gelebt haben müssen; vielleicht hätte ich dann die Fähigkeiten dazu ausbilden können.

In meinen dunklen Momenten gelange ich mehr und mehr zu der Überzeugung, dass das menschliche Streben nach Klarheit und Eindeutigkeit keine Conditio Humana ist, sondern erst in den letzten Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden in die Menschen eingetrichtert wurde; langsam und zähflüssig von und mit dem Patriarchat, den jahrhundertelang währenden Hexenverfolgungen und -verbrennungen, dem aufkommenden Kapitalismus, dem Kolonialismus, der Aufklärung, der Moderne, der Industrialisierung, dem Ausrufen des freien Willens, der natürlich immer 24/7 abrufbereit und bei „klarem Verstand“ sein muss, usw. usf. Die tiefe schwere Dunkelheit, welche immer Teil der kulturellen Praktiken gewesen war, wurde vollends gelöscht. 

Der Dunkelheit wurde das Licht angeknipst. Und das Licht ging einfach nie wieder aus; der Lichtschalter ging nie kaputt. Das klingt so von gestern auf heute. Aber es war ein jahrhundertelanger, vielleicht jahrtausendealter Kampf der Kulturen, wo zuvor kein Kulturkampf war. Sicher gab es zuvor auch Rivalitäten zwischen Helligkeit und Dunkelheit; konfliktlos lief das sicher nie ab, davon erzählen unzählige Mythen. Aber insgesamt herrschte doch eine Art Gleichgewicht zwischen Helligkeit und Dunkelheit. Klarheit und Unklarheit. Dann ist irgendwann aus dem „Und“ ein kategorisches „Gegen“ geworden: Helligkeit gegen Dunkelheit. Klarheit gegen Unklarheit. Und es gibt eine klare Gewinnerin. Alle Kulturpraktiken der Dunkelheit sind vergessen. Die Unklarheit in all ihrer Virtuosität, Breite, Vieldimensionalität und Gleichzeitigkeit, ihrer unendlichen Tiefe und Vielschichtigkeit mit unterschiedlichsten Konsistenzen, mit ihrer Schönheit, Weisheit, Blüte und ihrem natürlichen Drang, uns Dinge über uns und unseren Sinn auf dieser Welt zu lehren, uns Wissen zukommen zu lassen über die ihr typisch mystischen und mysteriösen Wege, wurde uns Menschen fremd und unbekannt. Und bald hatten wir auch noch Angst vor ihr. 

Selbst den Nachtträumen gestatten wir keine Weisheit mehr zu. Aber zu den Träumen in einem anderen Text irgendwann ausführlicher.

Und dieses Verdrängen der Dunkelheit und der Unklarheit geschah, erstaunlicherweise, obwohl sie weiter da ist, nie weg war. Auf jeden Tag folgt die Nacht. Die Dunkelheit und mit ihr die Unklarheit wurde nur an den Rand gedrängt, ihre multiplen Erscheinungsformen als „überhängende Reste“ abgeschnitten von der Kultur, sie wurde vielleicht hier und da gesehen, und dann zugedeckt oder weiter abgedrängt. (Mich erinnert das ja wieder stark an die Schneekönigin, die der Gesellschaft auch eigentlich Gutes und Überlebensnotwendiges schickt, aber dennoch nicht mitten in ihr leben darf und kann.) Wenn eine doch mal zu bedrohlich nahe kam, dann wurde ihr ganz schnell das Licht angeknipst und so wurde auch sie wieder in die Ecke gedrängt, wieder einfach links liegen gelassen, ihre Botschaften verhallten ungehört; denn es war ja auch eh niemand mehr befähigt, ihre Botschaften adäquat zu entziffern und sie sodann auch noch in einen erdgebundenen kulturellen Kontext zu stellen. 

Sie wird von jedem immer mal wieder hier und da gesehen, aber im Großen und Ganzen haben wir alle ihre Nichtexistenz proklamiert. Und was wir über sie sagen, das stimmt und ist wahr. Denn ich denke, also bin ich. Nicht nur der Kopf wurde ausgeleuchtet und nicht mehr in Ruhe, in Langsamkeit und in Dunkelheit gelassen. Alles um uns herum wurde ausgeleuchtet. Kein Blick in die Nacht ohne künstliches Licht. Und je mehr wir die Unklarheit mit Kirche und Wissenschaft bekämpften, desto mehr verloren wir Wissen über, den Zugang zur und den Umgang mit der Unklarheit. Sie wurde immer eindimensionaler und als solche zudem immer bedrohlicher. Ihre pure Existenz war bedrohlich…. Nur für was? Sie konnte in ihrer Tiefe und ihrem Zugang zu allen Sphären des Lebens nicht neben der Wissenschaft existieren. Beides ging nicht zusammen. Die Geschichte der Auslöschung anderer Wissensformen außer jener der modernen Wissenschaften ist die bekannte gewaltvolle: jene, die die Dunkelheit kannten, in ihr gut und gern leben konnten, in ihr ihr Wissen akquirierten und der Gesellschaft und Kultur bereitstellten, wurden jahrhundertelang verfolgt, gefoltert, getötet. Es waren eben genau diese Leute, die diese neu aufkommende rationalistische Weltsicht ernsthaft in Frage stellten.

Wir brachten uns also auch um das Wissen, wie mit der Unklarheit und den in ihr auftretenden möglichen Wesensformen umzugehen ist. So blieben uns nur wenige Umgangsformen mit ihr, und zwar zum einen der „Nichtumgang“ im Sinne des Vermeidens, des Nichtberührens, des Verdrängens. Und zum anderen blieb uns der „nicht (ganz) richtige Umgang“ im Sinne beispielsweise des Marginalisierens durch Verzerren und Lächerlichmachen, sobald sie sich auch nur kurz irgendwem zeigte. 

Menschentraum versus Herzbegehren

Zum Nichtumgang gehört auch, dass wenn es jemand ehrlich wissen will, wir auch nicht scheu sind, ganz klar und deutlich zu sagen, was wir alles (noch) nicht wissen. Wir postulieren dann ein Forschungsdesiderat. Es wird ausgeschrieben: bitte, wer möchte seine Doktorarbeit darüber verfassen? Und das klingt doch so, als hätten wir insgesamt alles ganz gut unter Kontrolle, oder? Das denke ich auch, wenn ich mich in der Helligkeit befinde. Wenn ich mich aber gerade im Dunklen aufhalte, klingt das sehr beunruhigend und bedrohlich: was glauben wir, im Griff zu haben? Das Massenaussterben? Womit? Mit den drei Wenden und dem Green New Deal? Bei gleichzeitig immer noch steigenden Kohlendioxidausstößen?

Oder mit Milliardeninvestitionen in Forschung, die herausfinden soll, wie einige ganz wenige von uns vielleicht für immer leben könnten, oder zumindest ganz doll viel länger als normale Menschen jetzt? Diese Forschung baut ihr Denkfundament auf einer idealen, „sauberen“ Welt ohne in ihr stattfindendes Massenaussterben auf, mit weiter ganz viel Technikschnickschnackmöglichkeiten. So eine von uns auf der Welt konstruierten und daher real existierenden Welt ist dafür Voraussetzung; wir halten die von uns konstruierte europatriarchale Welt in der Welt präsent, Tag und Nacht. Niemand der Forschenden und der involvierten Institutionen hat vor dem Forschungsbeginn die Frage gestellt: Wie ist diese saubere und technisch perfekte Welt zu erhalten, damit unsere VIP-Handvoll der bald ewig lebenden Menschen auch ein ewiglich gutes Leben in ihr haben und nicht schon gleich nach ein paar Jahren einen gewaltvollen Tod durch irgendwas verbunden mit Massenaussterben sterben müssen? 

Und dann haben wir noch nicht mal die wichtigste Frage gestellt: Warum wollen die Menschen nicht mehr sterben? Woher rührt die große Angst vor einem natürlichen Tod? Warum wollen wir Lebewesen sein, die anders als alles andere Lebendige auf der Welt nicht sterben? Warum wollen wir nicht vergehen und Nahrung und Nährboden für erneutes Leben auf dieser Welt werden, so wie auch wir aus einstmals gelebten Leben entstanden sind? Warum wollen wir selbst die Dunkelheit des Todes auch noch auslöschen? Wann haben wir den Sinn für das zyklische Eingebundensein in das Weltliche so dermaßen verloren?

Das Licht wird greller und greller. Die gleichen Menschen und Institutionen investieren oft auch Milliarden in die Forschung, mit der herausbekommen werden soll, wie es sich auf dem Mars leben lässt. Warum nur? Warum Marsmenschen werden wollen? In Millionen von Jahren sind wir chemisch, physikalisch, biologisch, psychisch – in was auch immer wir das noch unterteilen wollen – in das bereits bestehende Leben dieser Welt hineingewoben worden, genauestens abgestimmt und befähigt für das Leben auf dieser Welt. Was für Menschheitsträume sind das nur? Woraus erwachsen sie? Es kann sich um kein Begehren handeln, das tief im dunklen Körper*ininneren gewachsen ist. Für solche hellen Tagträume muss die Dunkelheit schon lange komplett verdrängt sein. Denn in der Dunkelheit wissen wir um unsere lebensnotwendige Endlichkeit und unsere Erdgebundenheit. Unser Begehren, das nur aus der Dunkelheit erwachsen kann, schließt den Tod ganz natürlich mit ein und weiß um unser „Erdesein“. Was wäre das für ein Begehren, in welchem das eigene weltliche Ende nicht eingedacht ist? Wie groß ist der Abstand solcher grellen Tagträume von der Welt, zur eigenen Erdgebundenheit? Die Dunkelheit flüstert mir: zu groß. Eindeutig zu groß. Wir Menschen werden diese Welt niemals mit Fluggeräten verlassen, die unsere Welt zerstören, und wir werden schon gar nicht auf einem anderen Planeten lebend ankommen und da oder auf dem Weg dahin ein gutes Leben führen. Wir werden die Welt nicht verlassen, wenn wir nicht tief in uns verstehen und akzeptieren, wie erdgebunden wir sind. Und Menschen, die dem Traum nachstreben, für immer zu leben, werden niemals ein gutes Leben innerhalb der planetaren Grenzen führen. Aus vielerlei Gründen. Aber vor allem aus dem Grund, weil der Wunsch allein die planetaren Grenzen sprengt. 

Wenn der Abstand so groß ist und die Fallhöhe so hoch, dann wünsche ich mir schlüpfriges und rutschiges Licht in die Köpfe und Labore dieser Forschungseinrichtungen. Die europatriarchale Klarheit in all den Dingen, diese grelle Helligkeit, die sich an nichts bindet außer an die eigenen künstlichen vier Wände und das eigene künstliche Licht, kommt mir sehr bedrohlich vor. 

Was, wenn die Geschichte, die wir europatriarchal geprägten Menschen uns über das Universum und die eigene Rolle darin gebaut haben, nicht ganz richtig ist? Und dadurch auch die Quelle der menschlichen (europatriarchalen) Sinnstiftung nicht ganz richtig ist? Was, wenn wir Raum und Zeit und all das andere doch nicht ganz richtig vermessen haben? Wenn sich davon sehr viel mehr in Dunkelheit befindet, und wir es auch nicht erfasst bekommen, wenn wir der Dunkelheit das Licht anknipsen? Was, wenn die Krise, wenn das Massenaussterben auch deshalb geschehen ist, weil diese „Geschichte von uns“ nicht zu den Überlebensanforderungen auf dieser Welt passt, und uns dies jetzt ganz vage ab und zu im schlüpfrigen Licht dämmert? Diese Verschiebung in der Wahrnehmung in manchen Dämmerzuständen lässt uns panisch das Licht anknipsen und rechts wählen und nach Waffen rufen. Auf auf zum Kampfe zum Wieder-Gerade-Biegen der verrutschten europatriarchalen Sinnstiftung!

Aber bleiben wir bei den Guten, den Klimabewegten, die sind interessanter. Bleiben wir bei jenen wie mir, die die Wenden (Energie, Ernährung, Mobilität) nehmen wollen… es geht um Schnelligkeit und Technik und Erfahrung! Wir müssen nicht nur die Klimakrise abfedern, wir müssen zudem nun auch noch all den rechten Bedrohungen zuvorkommen! Schnell könnten wir sein, und auch die Technik hätten wir für unsere Lösungen relativ schnell parat, aber wer hat hier Erfahrung?? (Dass uns u.a. auch die sozialen Kipppunkte fehlen und wir uns darum nicht genug kümmern, das habe ich u.a. in diesem Text schon mal nachvollzogen.) Da wird es still im Raum. Niemand hat Massenaussterben bisher gemanagt. Also machen wir vorerst die Wenden mit den Werkzeugen, die wir kennen: erkenntnistheoretisch mit der Wissenschaft, technokratisch mit Technik und Bürokratie, organisatorisch mit Kontrolle, Disziplin, Verwaltung und Rationalität, kämpferisch mit dem Herzen und aktionistisch „all in“ und ruhelos wie gehabt. Und egal was genau wir davon tun: wir alle tun es mit Fleiß und ohne Rast, denn wer rastet, der rostet. Wir sind hart gegen uns und unsere Körper*innen, mit zu wenig Schlaf segeln wir volle Kanne in die Burnouts hinein. Mit den Burnouts verlieren wir einerseits Mitkämpfer*innen, und mit den ruhelosen Entscheidungen (Es ist eh immer zu wenig!) rutschen wir auch in unsere eigene körper*inliche Zerstörung. Zerstörung von Welt und Körper*in sind natürlich miteinander verbunden. Kann das der richtige Weg sein? PeterLicht singt, „es gibt einen geraden Weg es gibt es gibt es gibt einen geraden Weg es gibt einen geraden Weg es gibt einen geraden Weg es gibt es gibt“. Doch Achtung, er ist Lyriker, das ist Kunst; was will er uns damit sagen? Dass es ihn gibt oder nicht gibt? Ironie oder was jetzt? Das hilft uns auch nicht weiter jetzt. Oder?

Eklatantes Nichtwissen

Was denn nun, wenn es viele viele viele Wege gibt, von denen viele richtig wären, die wir aber nicht gehen, weil wir sie noch für falsch halten oder sie noch gar nicht kennen. Und viele, die wir jetzt für richtig halten und deren Weg wir jetzt teeren, die dann am Ende aber doch falsch gewesen sein werden? Und viele, die schon jetzt nicht ganz richtige und nicht ganz falsche Wege sind? Und von denen wir ebenfalls einfach gar nicht wissen können, ob sie irgendwie gut oder schlecht wirken werden in Zukunft? 

Weil, wie gesagt, unsere Sinnstiftung vielleicht auf falschen – oder meinetwegen abgeschwächter: auf nicht ganz richtigen – Geschichten beruht, weil wir vielleicht einige Dinge auf dieser Welt und drumherum und außerhalb bisher mit falschen Geräten vermessen haben, oder vielleicht auch ab und zu nicht mitbedenken, dass – was das Leben oder überhaupt das Sein oder Nichtsein außerhalb dieses Planeten angeht – wir Klimaaktivist*innen sowie der Rest der Menschen allerhöchstens 0,1 bis 5 Prozent wissen. Andersrum ausgedrückt: 99,9 bis 95 Prozent (wieviel ganz genau, das wissen wir auch nicht, bzw. darüber gehen die Aussagen auseinander) dessen, was uns umgibt, davon kennen und wissen wir nichts. Darüber können wir also nicht einen klugen Satz sagen. Wir können nur kluge Sätze sagen, die unser Nichtwissen verschleiern oder sich dann doch nur wieder auf das Wissen innerhalb der 0,1 bis 5 Prozent beziehen. Unsere Sprache reicht aktuell auch sowieso gar nicht hinein in die Dunkelheit der 99,9 bis 95 Prozent des Nichtwissens. 

Ich wiederhole: Etwa 99,9 bis 95 Prozent der „dunklen“ oder „unsichtbaren“ Masse, welche den Großteil unseres Universums ausmacht, können wir nicht mit unseren wissenschaftlichen Instrumenten „messen“ oder näher bestimmen. Und wir fühlen uns aktuell gut damit, diese Handvoll Prozentpunkte (eher weniger!) mit unserem Kopf zu begehen, und mit dieser Handvoll Prozentpunkte unsere Zivilisation auf dieser Welt zu bauen. Auf dieser Handvoll baut all unser Gefühl der Autonomie, der Macht, der Sicherheit und des Im-Griff-Habens auf. Und unseren einzigen Zugang zur Unkenntnis, zur Unklarheit, lassen wir aber weiterhin ganz selbstbewusst die Wissenschaft sein, die aber aktuell keine Werkzeuge hat, um das Nichtwissen irgendwie zu klären. Nur die Wissenschaft lassen wir in deutungshoheitlichen Gewässern schwimmen; nur sie darf weiterhin diese dichten nebligen Räume des Unklaren betreten und hier und da etwas Licht reinbringen.

Wir lassen die Zahl wirken. Dann fragen wir ein Frage, die uns schlüssig erscheint: Okay… und wann werden wir die 99,9 bis 95 Prozent wissen, die wir jetzt noch nicht wissen? Als eine Antwort habe ich letztens diesen Vergleich gehört: Stellen wir uns vor, Ameisen würden aktuell beginnen, sich zu überlegen, wie sie es auf den Mond schaffen könnten. So weit wie die Ameisen vom Mond, so weit sind auch wir Menschen davon entfernt, etwas von den 99,9 bis 95 Prozent zu wissen, die wir nicht wissen. 

Und jetzt mal ganz ehrlich: mitten in all diesem uns dunkel umgebenden Nichtwissen gehen wir verdammt selbstsicher und anthropozentrisch arrogant mit diesem Nichtwissen um, oder? Woher nehmen wir nur diese Selbstsicherheit und diese Arroganz? Ein Großteil dessen kommt aus unserer Sinnstifung, aus den europatriarchalen Geschichten, in die wir uns eingewebt haben. In diesen Geschichten ist auch unsere Rolle im Universum definiert: so lange nicht anders bewiesen (von unserer Wissenschaft, denn andere Evidenzen lassen wir nicht gelten, auch wenn es sie geben sollte), sind wir die fortgeschrittenste Intelligenz im ganzen Universum. Richtig?  Und die „Natur“ um uns herum ist unbearbeitetes Material, Ressourcen also, ein Markplatz, der nur existiert, um unsere europatriarchalen Bedürfnisse zu erfüllen.  Ein in sich geschlossener Kreis. Sinnstiftung sorgt für Sicherheit. Sicherheit gibt uns das Gefühl, keinen Respekt vor diesem Nichtwissen haben zu müssen. Zudem reicht ein Blick auf die Fakten: wir regieren die Welt. Ist das nicht richtig? Wo hinein haben wir sie regiert mit unserem Fortschrittswillen? In ein Massenaussterben. Wie stoppen wir das Massenaussterben? Mir wird wieder schwindelig; das Licht trübt sich. 

Mit kommt ein Bild vor Augen: Ich sehe ein Kleinkind, das die Hände vor die Augen schlägt und nun glaubt, die Mutter, die vor ihm steht, sei dadurch verschwunden. So schlagen auch wir Europatriarch*innen die Hände vor die Augen und sehen nicht mehr die Größe, Weite, Schwere und Tiefe unseres Nichtwissens.

Nun würde es ja dunkel oder zumindest schlüpfriges, rutschiges Licht werden, wenn wir die Hände vor die Augen schlagen. Paradoxerweise aber sehen wir mit diesem Augenverdecken erst richtig klar: Das Augenverdecken gibt uns Sicherheit und Klarheit. Das ist merkwürdig absurd, aber das liegt sicher nur an meinem Bild. Timothy Morton hat ein anderes: er sagt, dass wir die Idee internalisiert haben, dass ein Ding so lange nicht wirklich ist, bis es durch ein Subjekt, oder die Geschichte, durch Wirtschaftsbeziehungen, den Willen zur Macht oder durch das Dasein formatiert wurde… Sind die Dinge also nur da, wenn wir sagen, dass es sie gibt? Und was passiert mit den Dingen auf der Welt, über die wir nichts sagen? Existieren sie nicht, oder verschwinden sie, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes? Sterben sie dann aus? Hui, so tiefe, sehr existentielle Fragen um Leben und Tod und Massenaussterben mitten in der lediglich theoretischen Frage um kulturelle Konstrukte und Konzepte, um diskursive Produkte epistemischer Formatierungen!

Wir laufen also die ganze Zeit mit zugebundenen Augen rum und sehen gerade deswegen alles total klar. Und in all dieser Klarheit nochmal die Frage: Wo befinden wir uns eigentlich aktuell? In den 0,1 bis 5 Prozent des Gewussten und Bekannten, oder in den 99,9 bis 95 Prozent des Unbekannten und Unklaren? Zu welchem wir weiterhin keinen Zugang wollen. Denn die Wissenschaft, die wir aussenden, um das Unklare zu erkunden, will die Dunkelheit, die Unklarheit nicht bestehen lassen. Sie will sie weiter auslöschen. Eine Ameise hat den Nachbargarten durchquert und schaut sehnsüchtig zum Mond. Und wir so… egal. Vielleicht bringt es ja was, dass sie den nächsten Garten auch noch durchquert. Hauptsache, sie tut was und steht nicht dumm rum. Schaffe schaffe!

Und ihr ahnt es, meine ganz unverfrorene Frage ist nun: was ist, wenn der aktuelle wissenschaftliche Zugang – in welchem beispielsweise immer noch in nahezu allen Bereichen klar und deutlich in Objekt und Subjekt unterschieden wird, um nur eine einzige Dichotomie ins Spiel zu bringen – nicht jener ist, der uns in die planetaren Grenzen bringen kann, weil die Wissenschaften Teil des „Werkzeugs des Meisters“ (Audre Lorde) sind? Wenn der wissenschaftliche Zugang zu Erkenntnis in seiner jetzigen Form nur einen Teil dessen abdecken kann, was wir an Wissenszugängen brauchen, um in die planetaren Grenzen zu gelangen? Was, wenn wir mehr Zugänge brauchen?

Unklares in der Wissenschaft

Meine Beziehung zur Wissenschaft ist durch Ambivalenz gekennzeichnet. Sie kam mir nie ganz richtig und nie ganz falsch vor. Es war eine Beziehung voller Liebe und gleichzeitig voller Unbehagen. Es gäbe viel dazu zu sagen, aber ich möchte hier nur die Unklarheit ins Visier nehmen. Ist sie da, obwohl sie nicht da sein darf, und was wäre, wenn sie da sein dürfte?

Wir lösen das Problem der nicht existierenden Objektivität (das war hart für die Wissenschaften, das anzuerkennen; einige Fachbereiche hadern immer noch!) u.a. momentan, indem wir nun gleich zu Beginn eine wissenschaftlichen Arbeit Positionsbestimmungen vornehmen; zumeist identitärer und klassizistischer Art: ich bin weiß, weiblich und finanziell privilegiert. Gerne ausführlicher. Aber kann uns diese Positionsbestimmung das strange Gefühl nehmen, das weiter rumort? Werden meine Erkenntnisse nicht dennoch langsam aber sicher dem Erdboden entzogen, weil ich meine Hand- und Fußspuren im Laufe des Schreibens und Redens doch immer mehr verwischen, geradezu unkenntlich machen muss, und zwar für die „Sache“, um dem Forschungsobjekt dann doch nicht zu sehr von mir überzustülpen oder reinzuweben, denn ich will keine Aussagen zu mir machen, und auch nicht zu meiner Beziehungsweise zum Forschungsobjekt, sondern letzten Endes rein und sauber allein zum Forschungsobjekt. Es gibt ganz klare Grenzen, von den jeweiligen Wissenschaften mit ganz speziellen Eigenregeln vorgegeben.

Wie gelange ich zu Erkenntnis über mein Forschungsobjekt? Durch Distanz. Ich brauche Distanz. Ich darf es schon lieben irgendwie, aber ich darf die Liebe nicht zeigen. Ich darf es nicht mit Haut und Haaren lieben. Sondern einzig mit dem Kopf. Dafür haben wir ihn jahrtausendelang trainiert, damit er Distanz zu den Dingen um ihn rum einnehmen kann. Der Kopf sieht das Forschungsobjekt und sammelt nun Erkenntnis zu ihm durch Wissen, das ich ihm einflöße dazu. Und irgendwann schreit der Kopf „Heureka!“ Einfach so, während ich entspannt an nichts konkret denkend in der Badewanne sitze.  Mein Kopf ist gerade abgeschaltet. Wer weiß, was geschieht, dass sich nun in diesem entspannten Moment tausende von Gedanken und Ideen und Gesprächen, von Gelesenem und Geträumten usw., die zuvor viele Monate oder gar Jahre durch die Körperin gelaufen, geströmt, getuckert, gestolpert usw. sind, zu einer vulkanausbruchhaften Sinnstiftung verknüpfen. 

In der Wissensentstehung geschieht viel Unklares, wenn wir ehrlich sind: spannungsgeladene Tänze zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dem Normalen und dem Übersinnlichen. Aber das können wir nicht zugeben, und dem können und dürfen wir auch nicht nachgehen. Außer rein wissenschaftlich natürlich, dafür haben wir beispielsweise die Neurowissenschaften.

Wichtig ist: wir müssen jede Erkenntnis, die in das Wissenschaftsergebnis einfließen soll, als eine Kopfgeburt ausgeben. Ich kann nicht sagen: Ich habe diese Antwort oder dieses Konzept geträumt. Oder: Sie kam mir, als ich mich mitten in einem ekstatischen Zustand befand. Wir biegen jede nützliche Erkenntnis in die erlaubten Erkenntnisbeschaffungen ein. Und vergessen bald, was die Unklarheit hier beigetragen hat. Wie wir durch völlig unklare Wissenseinsickerungen zu dem Wissen gekommen sind. Der Kopf ist dann wieder nur der „Absahner“; er kriegt all die Credits. Mir schießt folgender Vergleich ein: Die Körper*in hat im Grunde die Stellung der Care-Arbeit im Kapitalismus als die „unsichtbare Hand“ inne. So wie die Care-Arbeit schlecht oder gar nicht bezahlt und schlecht oder gar nicht gewertschätzt etwa 60 Prozent allen Arbeitens erledigt, so ist sicher auch ein großer Teil der Denkarbeit der Körper*in und all der in ihr stattfindenden spannungsgeladenen Tänze ins Unsichtbare abgedrängt. 

Aus der Unklarheit generiertes Wissen ist also immer schon Teil der wissenschaftlichen Erkenntisgewinnung. Sie bekommt aber nicht nur keine Anerkennung durch ihre Unsichtbarmachung; sie wird zudem lange nicht „in ihrem Sinne“ genutzt. Das heißt, ihre Potenziale werden nicht annähernd ausgeschöpft. Würden wir sie offen benutzen, würden wir uns von der Wissenschaft verabschieden, wie wir sie heute kennen. Es würde bedeuten, die Wissenschaft zu enteuropatriarchilisieren. Wollen wir das?

Woher bekomme ich Erkenntnis über mein Erdgebundensein?

Vorerst interessieren mich diese Potenziale. Mich interessiert, was die Unklarheit mir an Wissen über die Welt schenken könnte. Denn mein erdgebundenes Sein kann ich über den wissenschaftlichen Zugang nicht erkunden. Weil mir der direkte Zugang zur Welt verwehrt wird. Und was könnte dann ein Zugang sein? Ich weiß es nicht genau. Und der Weg, den ich in diesem Text gehe, ist unzweifelhaft gefährlich. Überall lauern gefährliche Nachbarschaften. Monster, Geister, Aliens, Gött*innen, Werwölfe in jeder Denkbewegung. Achtung!

In unserem letzten bzw-Redaktions-Podcast habe ich gesagt, dass man keine Angst haben darf, für eine Weile in eine Verschwörungstheorie zu fallen. Timothy Morton, der denkerisch irgendwie sehr ähnlich tickt wie ich, sagt es so: „Erstaunen beruht auf der Fähigkeit, sich in die Irre führen zu lassen.“ Ich bade also momentan immer mal wieder in esoterischen Gewässern und falle auch immer mal wieder in eine Verschwörungstheorie, oder knapp daneben, jedenfalls ist es immer eng. 

Ich sehe sonst keine andere Chance, kein „solides Angebot“, wie ein Schauen über, unter oder hinter die Ränder der vernunftgeleiteten rationalen Sicht auf die Welt und somit auch über, unter oder hinter die europatriarchale Sinnstiftung gelingen kann. Welches vom Europatriarchat offizielle, nicht anerkannte Wissen darf ich und kann ich dafür nutzen, wem oder was kann ich trauen? Ich kenne mich hier nicht aus; ich kann nur meiner Intuition folgen. 

Ich wünschte wirklich von Herzen, die Wissenschaft oder irgendeine andere Form der Erkenntnis könnte mit Liebe und Unklarheit umgehen, sie integrieren als fundamentalen Bestandteil einer allumfassenden, ganzheitlichen Wissensbeschaffung. Aber Wissenschaft kann Liebe und Gefühle nur als Untersuchungsgegenstand betrachten, nicht als Werkzeug oder Methode. Wissenschaft kann die Unklarheit nicht bestehenlassen. Und so haben wir Fähigkeiten und Intuitionen und Wissenszugänge verloren, die wir – so meine ich – dringend wieder erlangen sollten. Wir haben ganze erdgebundene Kulturpraktiken verloren, mit denen wir besser wüssten, wie das Leben zum einen in den planetaren Grenzen funktioniert, und wie wir in den nächsten Jahrtausenden zum anderen wieder in die planetaren Grenzen hineingelangen könnten. 

Wissen, Fähigkeiten, erdgebundene Kulturpraktiken jenseits der Wissenschaft, jenseits der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, jenseits dieser modernen Zivilisation: was für ein Hokuspokus-Hexenwerk soll das sein? Ich sage „Hexenwerk“ mit Absicht. Und denke an die Hexenverbrennungen. An das Foltern, Verbrennen, Vernichten der Trägerinnen von Wissen über die und Umgang mit der Unklarheit. Und ich weiß, wie dünn das Brett ist und wie schnell ich wieder in einer esoterisch eingeölten Badewanne landen kann, an deren schmierigen Rändern ich mich kaum wieder herausarbeiten kann. Übrigens: wenn ich schon reingefallen bin, nutze ich das doch und schaue mich um und lerne, bevor ich mich wieder rausarbeite. Der Verstand darf dann ruhig auch mal dafür da sein, die Räume der Verschwörungstheorie zu vermessen. Ich gestatte es meiner Körperin, den Gefühlen nachzuspüren und sie anzunehmen, die ich darin empfinde. Ich muss die feinen Unterschiede lernen wahrzunehmen. Denn nicht alles jenseits unserer europatriarchalen Grenzen ist verachtenswert. Kleine wahre Fünkchen aus den Badewannen nehme ich mit. Vielleicht kann ich sie noch gebrauchen. Ich möchte mir langsam eine Ahnung bilden, meiner Intuition und Menschen vertrauend, die sich auch in diesen Gefilden aufhalten und schon weitaus mehr zu allem zu sagen haben. 

Vertrauen. Wem vertrauen? Welcher Zugang zu welchem Hexenwerk könnte wahr und richtig sein? Zu einem und in einem Gebiet, in welchem absolute Unklarheit herrscht und Menschen nur über ihre Erfahrungen berichten können, so wie die Mystikerinnen im 13. Jahrhundert und drumherum? Die nicht nachvollziehbar oder beweisbar sind? Welches Hexenwerk also ist erdgebunden, welches losgelöst von der Welt, und welches erfüllt und weckt etwas verschleiert auch nur wieder die Wünsche und Begehrlichkeiten dieser europatriarchalen Gesellschaftsordnung?

Ich kann es nicht wissen. Ich kann nur meiner Intuition vertrauen und darauf achten, dass die Praktiken erdgebunden sind und meine Werte vertreten. Aber ja, vielleicht schreibe ich gerade aus einer Verirrung heraus. Möglicherweise. Aber meine Absichten sind gute. Und was wissen wir über all die guten Absichten? Sie können Gutes bringen; sie können aber genauso gut Böses und Schlechtes bringen. Alle Mythen, alle Geschichten erzählen uns davon. Auch die Wissenschaftsgeschichte erzählt uns von guten, „rational logischen“ Absichten und Forschungsgründen, und der Horror ist daraus hervorgegangen, wie die Erfindung von Massenvernichtungswaffen, allen voran die Atombombe. Und hatten Oppenheimer und Co keine guten Absichten? Auch Menschen, die erforschen, wie wir auf dem Mars leben können, haben gute Absichten. Auch Broker an der Wallstreet haben gute Absichten. Aber tja, das Ergebnis, das sich dann oft erst Jahre später zeigt, hat dann oft nichts mehr mit den anfänglichen guten Absichten zu tun. Die guten Absichten pflastern dann den Weg zur Hölle, wie die kleine Volksweisheit so schön sagt. Meine gute Absicht mit diesem Text ist, den Leser*innen die Erdgebundenheit präsenter zu machen. Ist das keine gute Absicht? Schmeiße doch eine Person den ersten Stein, die mir sagen möchte, dass mein Weg der guten Absichten ganz sicher ein falscher ist.

Im Dickicht des Waldes

Wieder in die planetaren Grenzen gelangen. Das „Wieder“ impliziert, dass menschliche Wesen vielleicht schon mal ganz gut und über einen ziemlich langen Zeitraum in den planetaren Grenzen gelebt haben. Für uns heutige Menschen und unser Fortschrittsdenken sind die „Jäger und Sammler“-Kulturen immer noch etwas primitiv. All die Rituale und Gottes- und Göttinnen- und Geister- und Tier- und Mondanbetungen, all das wilde ekstatische Um-das-Feuer-Tanzen mit all den wilden Trommeln und Schreien. Sie machten das, weil sie es nicht besser wussten, oder? Sie brauchten das, gelle, sie brauchten das, weil sie noch keine Wissenschaft hatten und erst die Vorbereiter*innen für unseren ganzen Technikfummel, für unsere fortgeschrittene Zivilisation waren. Ich gelange immer mehr zu der Einsicht, dass gerade diese Rituale, die oft viele Menschen in Trance-Zustände usw. versetzten, notwendig waren, um Kontakt mit dieser Welt und unseren kosmischen Möglichkeiten und Sinnstiftungen zu halten und über die Rolle der menschlichen Lebewesen und den Sinn des menschlichen Seins auf dieser Welt zu erfahren. Ja genau, ich meine all das, was wir mit dem in der europatriarchalen Moderne einsetzenden Glauben an die einzig wahre Wissenschaft bereits auf den Wissensmüllhaufen der Geschichte geworfen haben. Und „Gott bewahre“ – so Timothy Morton diesbezüglich – „, dass wir die anthropozentrische wohltemperierte Stimmung, durch die alles Übrige auf unseren teleologischen Grundton bezogen wird, fallenlassen. Das wäre lächerlicher Primitivismus, nicht wahr?“ 

Könnte es aber sein, dass dieses geteilte Leben mit Gött*innen, das Verständnis von einem Leben in einer animierten Kultur, in der z.B. ein Berg nicht einfach als leblose Materie angesehen ist, sondern ein Wesen mit Seele und bestimmten Kräften und umgeben und durchwachsen von Geistern ist, die es anzubeten, denen es zu opfern gilt, um sie – Berge sowie Geister – wohlgesinnt zu halten, und um letzten Endes das Gleichgewicht zu halten zwischen verschieden wirkenden Naturkräften? All das shapeshiften und astrologisieren, all das Wissen, das von Jahrtausend zu Jahrtausend weitergegeben und wenn nötig, verfeinert wurde, all das – so meinen wir – war reiner Aberglaube, reine Einbildung, gleichzusetzen mit esoterischen Kulten heutiger Tage, hatte nichts mit „der Wahrheit“ zu tun, für die man durch Evolution lediglich zu einer Wissenschaftsauffassung mit einer kopflastigen, von Körper*innen abgetrennten Rationalität kommen musste, mit welcher wir dann wiederum einsahen und verstanden, dass das vorher alles primitiv war? Dass das jahrtausendelange Agieren menschlicher Körper*innen in der Welt in Form von Tänzen, Meditation, Ekstasen usw. kindisch und nutzlos waren, und es weiterhin sind, denn all das, was hier an Verbindungen und Wissen entstand, ersetzt ja nun der vom Körper abgetrennte Kopf? Und was sein Ausdenken nicht ersetzen kann, das war schon immer und ist auch jetzt unnütz für das gute menschliche Leben auf dieser Welt? 

Ziehen wir ein Beispiel heran. 

Die Biologie bietet uns die lieblose, uninvolvierte Beziehungsweise zum Wald an. In der wissenschaftlichen Betrachtungsweise filtern wir die Liebe zum Wald raus. Wir fördern Daten zutage. Und die Kundmachung dieser Daten und Fakten und ihrer Deutung soll dann was genau erreichen? Es herrscht die Auffassung, so Morton, dass Fakten völlig einfach und unmittelbar sind, dass sie aus den Dingen selbst rühren. Als seien die Dinge mit einem Barcode versehen, der uns unmittelbar – das heißt ohne Vermittlung einer vom Menschen vorgenommenen Interpretation – mitteilt, was sie sind. Wahrheitlich erscheint uns das, was ohne Vermittler auskommt und unverfälschte Daten bietet. 

Also was mache ich jetzt mit den Daten über den Wald? Ich bilde eine Gleichung á la „die Zerstörung des Waldes ist gleich die Zerstörung des Lebens auf dieser Welt, wie wir es kennen“. Horror macht sich wieder breit in mir. Wie bei dem Vogelgezwitscherbeispiel am Anfang. Da ist er wieder, dieser Morton’sche antarktische Lichtzustand. Aber ich verdränge ihn, denn ich soll gegen die Gleichung rebellieren, richtig? Oder soll ich die Gleichung zerstören, indem ich den Wald nicht mehr zerstöre? Aber ich stehe doch nicht mit der Axt im Wald! Was soll ich tun? Soll ich die Gießkanne nehmen? (Viele Mythen und Geschichten erzählen davon, dass das tatsächlich nicht die dümmste Idee ist, denn es kommen dann zumeist nichtmenschliche Kräfte zur Hilfe.) Oder… okay, ich trete an Konzerne heran, an Regierungen, wir schaffen neue Gesetze. Manchmal gewinnen wir, viel öfter verlieren wir, das ist das demokratische Spiel David gegen Goliath, wir kennen das. Was tun wir dann, wenn wir verlieren oder gewinnen? Weitermachen. Wir Umwelt- und Klimaschützer*innen möchten, dass es „mehr mehr mehr!!“ von diesen Kämpfen gibt; dass David also größer wird und besser ausgestattet, nicht nur mit seiner Harfe und so; und wir wollen, dass „alle alle alle!!“ mitmachen. Wir sehen etwas, was andere nicht sehen können in diesen von der Wissenschaft gelieferten Daten – wir spielen im Grunde „ich sehe was, was du nicht siehst“. Wir leben in einer modernen Wissenschaftsära, so Morton, die von einer grundlegenden Kluft zwischen Daten und Dingen gekennzeichnet ist. Und deshalb sind die Dinge offen und entziehen sich dem totalen Zugriff. Da hilft auch keine sonstwie kopflastige Dialektik, an welcher so manche*r Intellektuelle oder Philosoph*in schon viel zu lange im stickigen Elfenbeinturm rumbrütet. Gehen wir lieber gemeinsam an die frische Luft ein Eis essen und halten fest: Wissenschaft ist durch diese transzendentale Kluft also eigentlich unstet und ungewiss.

Ich bin müde. Ich möchte gerade nicht mehr „mehr mehr mehr!“ schreien. Ich lege mich auf das weiche Moos im Wald. Ich habe Vertrauen, ich lasse mich fallen. Es nimmt mich und meine Müdigkeit auf, ich versinke tief unter und in das Wurzelwerk des Baumes, an dem ich liege, es rauscht, zwitschert, summt, piekst, raschelt, kitzelt, knistert, blättert, höre ich Stimmen, Harfenklänge? Nein? Träume ich? Ja? Mir ist ganz wuschelig, ich tauche auf, streichle eine Wurzel an der Oberfläche, ich seufze tief und laut. Sag mal, kann das denn Liebe sein? All das rastlose Rufen meiner klimabewegten Mitstreiter*innen, woher kommt es? Aus dem tiefsten Inneren? Entspringt es auch der Liebe zum Wald? Warum dann den Umweg über Zahlen und Fakten gehen? Weil nicht alle den Wald lieben und Zahlen und Fakten objektiv richtig sind? Unterschätzen wir uns doch nicht. Fragen wir uns gegenseitig lieber: Was liebst du am Wald am meisten?

Ich denke an Morton und den kaputten Lichtschalter und an den von ihm weitergedachten Gedanken von Heidegger: „Manche Dinge sind realer als andere, weil sie präsenter sind.“ Warum denken wir so kompliziert? Wir alle kennen den Wald, mehr oder weniger. Warum machen wir uns nicht gegenseitig den Wald präsent? In all seiner Schönheit? Anne, was willst du, rufen jetzt sicher einige, ich liebe den Wald, ich habe alle Bücher von Peter Wohlleben gelesen und mich wiedergefunden! Ok, frage ich: Was sind unsere häufigsten Beschäftigungen im Wald? Am liebsten suchen wir Pilze in ihm, und wir durchjoggen, durchradeln und durchwandern ihn. Wir nutzen den Wald, und wir atmen tief ein und aus, aber zeigen wir ihm Liebe? Feiern wir ihn? Schenken wir ihm Aufmerksamkeit, hören wir ihm zu? Warum schenken wir ihm keine Gaben? Warum singen wir nicht mehr in ihm und ihm damit etwas vor? Gibt es eine „wahrere“ oder „wahrheitlichere“ Beziehungsweise als die der Liebe, verstanden als eine erdgebundene, lebenszugewandte, reziproke Beziehungsweise? 

Ich weiß noch, wie ich vor etwa fünf Jahren über Baumumarmer*innen herablächelte. Mittlerweile bin ich selbst eine Baumstreichlerin geworden. Immer noch im Verborgenen. Noch mag ich nicht entdeckt werden. Es ist ein Prozess. Der Tag des öffentlichen Baumumarmens wird kommen. Ich verändere meine Beziehungsweise zu Pflanzen und Tieren. Die Veränderungen sind nach außen kaum zu sehen, klitzeklein, aber nach innen gefühlt enorm. Pflanzen und Tiere als Verbündete mit je unterschiedlichen Charakteren und Humor wahrzunehmen, ist ein großer Schritt. Donna Haraways Buch Unruhig bleiben – ich schrieb darüber schon vor Jahren – war und ist für mich weiterhin ein Gamechanger. Auch weil ich nicht mit allem d’accord war. Vielleicht sind es die besten Bücher, wenn man nicht gleich ganz übereinstimmt oder nicht gleich alles versteht. Sie halten einen dann unruhig. Was meinte sie mit diesem und jenem nur? Was meinte sie mit „Make kin, not babies“?? Der Satz regte mich zunächst sehr auf. Wieso sollte ich keine Babys mehr bekommen sollen??? Das kann doch nicht die Lösung sein, Donna? Ich bin eine Frau, die ihr Muttersein aus tiefster Seele liebt. Nichts Schöneres konnte mir auf dieser Welt in diesem Leben geschehen. Stattdessen sollte ich mich bekannt und verwandt machen mit anderen Lebewesen und Arten? Intuitiv verstand ich eigentlich immer, was sie meinte, aber… und außerdem!: als politische Parole fand ich den Satz sehr inkorrekt, vor allem angesichts wachsender rechter, rassistischer, genozidaler Überbevölkerungsphantasien. So eine gefährliche Nähe zu suchen: warum?

Was bedeutet „Mit-Werden“ konkret?

Nichtsdestotrotz wandte ich mich seitdem vermehrt anderen Arten zu; sehr unbeholfen, denn ich bin ein Mensch, der Beziehungsweisen bisher fast ausschließlich mit Menschen gesucht hat. Ich hatte nur einmal als 12jährige einen Hamster für ein Jahr, und als er in ein Stromkabel biss, brach es mein Herz. Ich schrieb ja schonmal in einem anderen Artikel, dass ich seit meiner Kindheit nicht einmal mehr Tierdokus schauen kann, weil am Ende immer auf ihr kurz bevorstehendes Aussterben hingewiesen wird. Meine Beziehung zu Tieren darf nie zu tief werden; ihr Sterben – und sei es das des zukünftigen Aussterbens einer Art – verursacht mir einfach zuviel Herzeleid. Wie also meinem Verwandtsein mit anderen Arten und Lebewesen nachspüren und mich wieder mehr mit ihnen bekannt machen? 

Ich nahm das, was mir jeden Tag präsent sein könnte, wenn ich es mir denn präsent mache: die Vögel auf dem Baum vor dem Fenster meines Arbeitszimmers und auf dem Balkon hüpfend, und in Scharen in der Luft fliegend. Tauben, Maisen, Spatzen, Schwalben (dieses Jahr kaum), sogar Karmingimpel – eventuell, ich würde eher sagen, es sind zwei Rotfinken –, Grünfinken und Hausrotschwänze, Amseln, Tauben, Krähen. Ich glaube, ein Mauersegler dreht auch immer wieder vor mir seine Runden, und ein kleiner Greifvogel, vielleicht ein Rotmilan. Seit die warmen Tage begonnen haben, lasse ich die Balkontür offen. Ich hörte das Vogelgezwitscher nun den ganzen Tag. Wenn der Berufsverkehr abklingt, legt sich ihr Gezwitscher wie ein sanfter weicher Teppich über die Welt. Wenn es wenig menschengemachten Lärm gibt, dann ist der Klang der Welt vor meinem Fenster geprägt von Vogelgezwitscher. Die Vögel übernehmen. Der Satz resoniert. Er verändert die Perspektive: „Die Vögel übernehmen die Klangwelt.“ Die Welt verändert sich, wird mir anders präsent. Ich habe wirklich das Gefühl, dass die Vögel für mich realer geworden sind. Ich nehme sie ernster. 

Einer der Abendsänger. Den Abend saß ich etwa 90 Minuten auf dem Balkon, und er sang da die ganze Zeit auf diesem Ast.

Abends in der Dämmerung wird es fast magisch. Letztens hörte ich in einem Podcast – leider weiß ich nicht mehr, in welchem –, dass der Vogelgesang als eine Art von Beten betrachtet werden kann, im Sinne von Lobpreisen. Dieser Gedanke setzte sich in mir fest. Wenn es mir möglich ist, lege ich mich einige Minuten in der Dämmerung des Tages auf den weichen Klangteppich und lausche ihm. Abends klingt es nochmal sehr anders und besonders im Vergleich zum Klangteppich bei aufgehender und hochstehender Sonne. Manchmal singt nur ein Vogel das Abendlied. Manchmal stundenlang. Wiederholende Melodieabfolgen, wie ein Mantra. Ab und zu fügt ein anderer kurze, leise, sanfte Töne hinzu. Und alle anderen lauschen andächtig. Oder schlafen sie schon? Wiegt er sie mit seinem Gesang in den Schlaf? Wenn ich mich tief hineinfallen lasse in den Teppich, klingt es wie der Ausdruck reinster Liebe. Diese Erkenntnis, oder diese Wahrnehmung erstaunte mich. Was hatte das zu bedeuten? Hatte dieser Gesang und dieser tagtägliche Klangteppich über der Welt tatsächlich die Funktion des Lobgesanges an die Welt? Ich fragte mich: Ist das vielleicht überhaupt die Idee des Betens? Die Welt lobzupreisen? Im Sinne von: der Welt zu sagen, dass man sie liebt? Wenn das so ist, warum hat mir das nie jemand so gesagt? Vielleicht wäre es gut, wenn ich das auch tue? Der Welt zu sagen, wie schön sie ist, und wie schön es ist, auf ihr sein zu dürfen und dieses gute Leben haben zu dürfen? Damit sich die Welt auch auf meine Worte legen kann? Vielleicht ist Dankbarkeit reziprok? Immer mehr solcher Gedanken schossen mir durch die Körperin. Was bedeutet es, am Leben zu sein? Die Vögel und ihr Klangteppich vor meinem Fenster sind jetzt realer Bestandteil meines Lebens. Sie sind Ausgangspunkt meiner Gedanken. Ich denke an Donna J. Haraway und wie sie mit Marilyn Strathern sagt: „Es ist von Gewicht, mit welchen Ideen wir Ideen denken“. Und dass die Devise „Mit-Werden statt Werden“ ist, und dass sich Partner*innen einander im Mit-Werden befähigen. Haben mich die Vögel befähigt, der Welt näher zu kommen? Manchmal sitze ich jetzt abends bei den Vögeln und bete mit ihnen gemeinsam. Ich singe nicht. Ich flüstere. Ich bin ehrfürchtig vor so viel Schönheit, die sie in die Welt bringen.

Kommt das Wort Religion doch von „re-ligare“, „rück-binden“? Dann, und nur dann, beginnt das Wort in mir zu klingen, weil es dann einen Pfad ebnen könnte, die eigene Erdgebundenheit weiter zu erkunden. 

Sobald ich auftauche aus diesem „Mit-Werden“, überkommen mich Zweifel über Zweifel. Was, wenn ich doch in eine ölige Badewanne gerutscht bin, und als nächstes verlasse ich meine Familie, um Anschluss in einer Sekte zu finden? Oder gehe ich bald in einen Fluss, um nie mehr wiederzukommen?

Wie kann ich mich davor schützen? Eigentlich kann ich das nicht. Ich muss in die Irre führbar bleiben. Dafür vertraue ich den wenigen, zu denen ich Vertrauen gefasst habe. Und ich vertraue mir. Denn ich glaube, dass das Herumirren nahe von gefährlichen Nachbarschaften notwendig ist in einer Zeit, in der wir unsere eigene Erdgebundenheit so massiv vergessen haben und Zugänge zu ihr sowie kulturelle Praktiken neu erlernen müssen, was teils mehrere Generationen dauern kann, aber auch schneller gehen kann, als wir jetzt annehmen.

Wie lerne ich die Vogelsprache? Sicherlich nicht, wie Frau Hoppenstedt das Jodeln lernte. Muss ich sie überhaupt lernen, um mit den Vögeln auf einem Klangteppich zu liegen? Ich weiß es nicht. Es braucht viel Zeit. Viel Langsamkeit. Eine Geduld und Hingabe, die nicht von dieser Gesellschaftsform ist. Es braucht neue Werkzeuge. Alte pre-europatriarchale Werkzeuge. Die wir schon besaßen. Einst, als wir mitten in den Wäldern an Bäumen saßen, die uns zuvor eingeladen haben, und hier machten wir unsere Feuer, hier holten wir unsere Instrumente heraus; hier musizierten, trommelten, tanzten, sangen, meditierten, schrien wir, begaben wir uns in ekstatische Zustände – nicht nur um unserer selbst willen – ich glaube, unser Selbst war uns egaler und es war vielleicht noch nicht so ego-geprägt – sondern um Kontakt aufzunehmen zu Nichtmenschen. Wir taten dies, um voneinander zu lernen, direkt und vermittelt. Meditation, Musik, Singen, Schreien, Tanzen, Ekstase, Formenwandeln usw.: all das sind Wissensformen der Kontaktaufnahme, sind Pflege der vielfältigen, vielschichten, tiefen und innigen Beziehungsweisen zwischen Formen des Seins auf dieser Welt, das kosmische Sein einbegriffen in diese Vorstellung der Erdgebundenheit. 

Und nun leben wir nicht mehr im Wald. Wir lernen und lehren an Institutionen, die nichts mit dem Wald zu tun haben, außer dass der Wald vielleicht eines ihrer Forschungsobjekte ist. Pflanzen kommen uns nicht mehr in unseren Träumen besuchen und lehren uns ihre Verwendungsweise. Selbst wenn sie es tun – durch die intensive tiefe wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Forschungsgegenstand könnte das wie gesagt durchaus geschehen – so würden die Träume nicht in die Forschungsergebnisse einbezogen werden; jedenfalls würde das keine Forscher*in zugeben, die ernstgenommen werden möchte in der jeweiligen wissenschaftlichen Community. Vielleicht könnte sie Experimente durchführen, um zu prüfen, ob die Traumpflanze die Wahrheit gesagt hat. Und wenn es so ist, dann wird sie danach ganz sicher nicht in ihrer Danksagung schreiben: „Ich danke auch der Pflanze selbst, die mir diese Art ihrer Verwendung im Traum verraten hat.“ 

Wir suchen im Wald nicht mehr das Nicht-Menschliche in uns. Dabei war es genau dieser Vorgang, der uns immer näher an andere Lebewesen gebunden hat und es dieser und jener ermöglicht hat, mit dieser oder jener Seinsart in Kontakt zu treten. Wir wissen nicht einmal mehr, welche Fähigkeiten einige wenige, viele oder auch alle Menschen haben könnten, würden sie es zulassen, lernen, entwickeln usw. Warum ist das keine Menschheitsfrage mehr: Zu was sind wir fähig jenseits des europatriarchalen Gesellschaftsrahmens? Welche Fähigkeiten mussten wir verlernen, vergessen, damit wir als Menschen in den europatriarchalen Rahmen passen? 

Warum stellen wir uns immer außerhalb hin? Warum haben wir so viel Angst vor dem Eintauchen in etwas Unbekanntes? Warum kultivieren wir nicht lieber das Eintauchen, um die Angst zu verlieren? Warum glauben wir, nur Wahrheiten entwickeln zu können über etwas, von dem wir uns abgetrennt sehen? Denn wir sind ja nicht abgetrennt, wir halten unsere Verbundenheit nur nicht präsent! Wir geben nur vor, nicht mit unserem Forschungsgegenstand und mit unserer Mitwelt verbunden, verwoben, verstrickt und verzaubert zu sein. 

Es ist von Gewicht, welche Wissensformen Wissen wissen, sagt Donna J. Haraway. Was, wenn die moderne wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung einen fundamentalen Schöpfungsfehler hat? Vielleicht finde ich einfach nichts Wahres, nichts, was uns zurück in die planetaren Grenzen bringt, wenn dafür die künstliche und gewaltvolle Konstruktion vonnöten ist, dass der Wald und seine Einzelteile Objekte sind, und ich ein von ihm abgetrenntes Subjekt mit Verstand. Naturen, Kulturen, Subjekte und Objekte existieren nicht vor ihrer verflochtenen Verweltlichung, so Donna J. Haraway. Vielleicht kann ich über den Wald nichts Wahres sagen, keine sinnvolle Wahrheit entwickeln, wenn ich mich nicht mittendrin befinde, atmend, fühlend, laufend, schwitzend, tanzend, gebährend, in Ekstase kommunizierend usw. Vielleicht kann ich auch über den Wald nichts Sinnvolles sagen, wenn ich mich nicht selbst als Teil des Waldes betrachte und auch in Betracht ziehe, mich selbst jeden Moment in ein Waldwesen verwandeln zu können. Und was gibt es dann zu lernen, zu forschen, zu vermitteln? Wenn die Wahrheit nur im Akt selbst zu finden ist, und all die Worte, die das beschreiben, was erfahren wurde, kaum in Worte zu fassen ist, und wenn, dann zumindest einer hohen Dichtkunst bedürfen? (Dazu mehr im nächsten Text.) Was, wenn diese Dichtkunst vieldeutig bleibt und bleiben muss, und der Unklarheit großen Raum geben muss, damit die Wahrheit nicht eingezwängt wird und noch atmen kann in den Worten? Was also, wenn das Wissen und die Zugänge zur Welt, die wir in Zeiten des Massenaussterbens brauchen, auf gar keinen Fall nur auf die modernen Wissenschaften beschränkt sein sollten?

Was, wenn eine Wissenschaft von den planetaren Grenzen Liebe und Unklarheit integrieren muss? Wenn Wissenschaft nicht nur das untersuchen soll und darf, was existiert, sondern dafür da sein muss, Kulturpraktiken zu erlernen, die das Unklare der verschiedenen Erfahrungen und Erkenntnisse einbeziehen und die es zudem aushalten kann, dass Klarheit nicht immer ein anzustrebendes Ziel ist? Die Klarheit offeriert uns eine Antwort, die uns in der europatriarchalen Weltsicht in Sicherheit wiegt. Antworten und Lösungen beruhigen uns. Aber was, wenn die Antwort trotz guter Absichten die Falsche ist? Und wir in der Unsicherheit hätten verbleiben müssen? Wenn wir offen hätten bleiben müssen für die Möglichkeit eines Fehlers, weil auch nur so – in der eigenen Offenhaltung – Dinge eintreffen können, von deren Existenz wir nichts wussten? Die eintreffenden Dinge sind dann nicht Teil eines (europatriarchalen) Antwort-Repertoires. Und das, was in Offenheit zu uns gekommen ist, das – was auch immer es ist – blüht jedes Jahr aufs Neue, und bringt jedes Jahr neue Ideen und Fragen. Mit einer soliden Antwort bekommen wir also keine Fragen auf unsere Unsicherheit und damit auch keine neuen Pfade aufgezeigt. 

Vielleicht ist die Wahrheit nichts, was beispielsweise aus dem Tanzmoment heraus in die rationale Weltsicht und Sinnstiftung mitnehmbar ist. Oder wenn wir den Moment in Worte kleiden, dass diese Worte nur wahr bleiben, wenn dieser Tanz wieder und wieder getanzt wird, und so die Worte dadurch wieder und wieder „animiert“, aus der Sphäre der Worte in die Tanzes geholt werden und so zum Leben erwachen dürfen. 

Vielleicht könnte die ganze Sinnstiftung einer Person auf dem Moment aufbauen, als sie mit aller Klarheit in einem Tanzmoment etwas gesehen oder gehört oder gespürt zu haben glaubte, aber wenn sie erzählen will, was das war, ins Stottern verfällt, weil das Gesehene nur kurz mitten im Tanz aufgeblitzt war und nur in diesem einen Moment wahr war. Wenn die Wahrheit so schwer zu fassen ist, dann ist es doch umso wichtiger, immer wieder zu tanzen, um den Kontakt zur Wahrheit nicht zu verlieren, oder?

Anderes Licht, anderes Sein

Ist der Gedanke sehr schwer zu verinnerlichen, dass wir uns auch verbunden mit der Welt fühlen müssen, um eine Chance haben, auf dieser Welt verbleiben zu können? Wie viele von diesen Erfahrungen der Verbundenheit schlummern ihren Dornröschenschlaf in unseren Körper*innen, ohne jemals das Licht der Sprache zu erblicken, und wenn dann nur mit dem Satz zuvorgeschoben: „Das, was ich jetzt sage, klingt total verrückt, und ist es ganz sicher auch, aber ich muss es kurz erzählen…“, und danach bleibt ein Raunen und eine Ungläubigkeit zurück. Die Erfahrung hat keine Chance, in eine deutungshoheitliche Sphäre zu gelangen. Sie zieht Schweigen nach sich, oder sorgt vielleicht kurz für unheimliche Gefühle, oder sie dient dem Entertainment. Es ist komplett unklar, was passiert ist, und es ist genauso unklar, wie wir mit mystischen Erfahrungen umgehen können. Wir haben keine Kultur für mystische Erfahrungen. Keine Sprache. Der Differenzfeminismus erwuchs einst aus dem Ernstnehmen der Erfahrungen der Mystikerinnen wie Angela de Foligno, Mechthild von Magedeburg usw. Sie alle haben göttliche Erfahrungen gemacht. Was ist das für ein Gefühl, wenn sich das eigene Sein einerseits vernichtigt und andererseits zusammenschließt mit anderen Bewusstseinsformen, wenn sich die eigenen Körperin in vollem Bewusstsein auflöst, in andere Sphären eingeht, Lichter gefühlt und gesehen werden, die ganz anders sind als alle Lichter dieser Welt? 

Und ist es wahr, gab es in Zentraleuropa des 15. Jahrhundert wirklich Werwölfe? Konnten sich Menschen früher auf der Jagd in das Tier verwandeln, das sie jagten, und wurden so plötzlich selber zum Gejagten? Alles Aberglaube, Einbildung, oder? All die Mythen, die sich teils verblüffend ähneln in vielen Kulturen, pure Einbildung und aus langer Weile am Lagerfeuer entstanden, richtig? Es kann nicht wahr sein, dass ein König sich unsterblich in eine Flussgöttin verliebte? 

Die meisten Mythen erzählen keine Held*innengeschichten, sondern sie erzählen oftmals von den „guten Intentionen“ der Menschen oder der Gött*innen oder der Tiere, die aber leider nicht immer zu einem guten Resultat führten. Das Menschsein, das verlangt ist für das Zusammenhalten der Kräfte auf dieser Welt, ist unglaublich komplex, und immer wieder können die Menschen sich verirren. Mythen sind zum Festhalten da, auch dafür, sich wiederzufinden und eine ungute Verquickung wieder aufzulösen vielleicht. 

Und Mythen erzählen eben auch davon, dass jenen Menschen, die sich über längere Zeit über andere Lebewesen und Wesen anderer Formen hinwegsetzten, selten ein gutes Leben beschert war. Das menschliche Wesen ist vielleicht nicht dazu bestimmt, sich für das am besten entwickelte und höchste Wesen auf dieser Welt zu halten. Vielleicht ist genau dieses Selbstverständnis – das Teil unseres europatriarchalen Verständnisses der Conditio Humana ist – ein Tödliches. 

Aber die Option „zurück-gehen“ oder „zurück-binden“ geben wir uns nicht. Wir sind doch schon so weit (von der Welt weg-) gekommen, oder? Wir gehen nicht mehr zurück. Seit etwa 10.000 Jahren – diese Zahl bringt u.a. Timothy Morton ins Spiel – sind wir auf dem Weg raus aus den planetaren Grenzen. Berg um Tier um Pflanze wurden entzaubert, und in ein anthropozentrisches Reich der Kategorisierung, Vereinzelung und Zerstückelung in einem Katalog zurechtgestutzt. Was bringt uns diese Pflanze? Ist sie essbar? Wie viele Menschen kann sie ernähren? Kann sie vielleicht mehr CO2 aufnehmen als andere? Ist sie vervielfältigbar? Ist sie klonbar? Eine Seele hat sie nicht, nein. Wir können ihr Bedingungen schenken, in der sie ganz allein für sich stehen kann. Nur sie millionenfach, in geraden Linien und zwischen sich gleich große Abstände. Ohne Bienen und Schmetterlinge, die sie umsurren, ohne Läuse, die sie angreifen und Ameisen, die sie wieder von Läusen befreien. Ohne Vögel, die ihr ein Lied singen. Ohne Blick zum Himmel. Ohne Windhauch. Brauchen Pflanzen den Windhauch und den Himmel über sich und das Summen zum Gedeihen? 

Brauchen wir Menschen es? Zu was würden wir wohl werden, was würde passieren, wenn wir zulassen, dass der Wind durch uns durchziehen darf? Verlieren wir dann vielleicht den Verstand, ja gar uns selbst? Das wäre eine Katastrophe. Bloß nicht den Kopf ausschalten. Sonst drehen wir noch durch und bringen uns alle gegenseitig um. Oder? Wir lassen den Gedanken nicht zu, dass es sein könnte, dass wir uns alle umbringen, wenn wir den Wind nicht durch uns wehen lassen. Also reißen wir uns zusammen, machen unsere Körper*in aus und Köpfe wieder an: nehmen wir uns ein Messgerät und vermessen den Wind und seine Stärke. Objektivieren wir ihn und lassen uns nicht mehr verrückt machen, indem wir ihm die Macht und das Vertrauen geben, unsere Körper*innen in einen Naturzustand zu versetzen und Veränderung zu bringen.

Die Werkzeuge des Meisters

Es gibt diesen Satz von Audre Lorde, der mir seit Jahren unzählige schlaflose Nächte bereitet hat: „Die Werkzeuge des Meisters werden das Haus der Herrschenden niemals niederreißen“. Der Satz beunruhigt mich genauso wie der von Donna J. Haraway („Make kin, not babys!“). Ich habe jetzt erst den Essay, der diesen Satz als Titel trägt, gelesen. Ich wollte wissen: Wer ist der Meister? Was sind seine Werkzeuge? Wann begann der Meister sie zu nutzen? Wann konnten so viele Menschen die Werkzeuge herstellen, nutzen und Häuser damit bauen, dass wir von Europatriarchat sprechen können? Vor etwa 10.000 Jahren, wie Timothy Morton nahelegen würde? Oder an dem Tag, als der Kapitalismus begann? 

Oder bis wohin geht Audre Lorde, gehen wir? Wie weit und wie tief? Ich sage „Tiefe“, weil es sinnvoller sein könnte, die Zeit nicht auf einer horizontalen Linie anzuordnen, sondern vertikal: Wir stehen auf der vergangenen Zeit, bestehend aus Millionen-Jahre-altem einstigen Leben, und jetzt breitet es sich unter unseren Füßen tief ins Erdinnere aus. So tief ist die Zeit.

Der Meister ist das rassistische Patriarchat, wenn ich Audre Lorde richtig verstehe. Und wann genau begann dann dieses Patriarchat (, das ich – um nicht mit zu vielen Begriffen zu hantieren – wieder in den Begriff des „Europatriarchats“ eingemeinde)? Als eine Göttin das erste Mal in einem Mythos einen patriarchal motivierten Tod starb? Oder an dem Tag, als wir vergaßen, dass dieser Tod ein patriarchal motivierter Tod war? Und war es zu Ende, als wir als „gute Feministinnen“ begannen, jeden Tod einer weiblich gelesenen Person – sei er gewaltvoll oder nicht – dem Patriarchat in die Schuhe zu schieben? 

Nach dem Lesen einiger Texte von Audre Lorde habe ich eine kleine, wirklich sehr unvollständige und ungeordnete Liste der Werkzeuge zusammengestellt; es geht vielmehr darum, eine Ahnung zu bekommen, was europatriarchale Werkzeuge sind: 

Ein Werkzeug ist das Beschäftigthalten von Frauen – schwarzen Frauen und Frauen of Color in ganz besonderer Weise – mit patriarchalem Kram und Kümmern. 

Ein Werkzeug ist auch ist die Einladungsliste zu einer feministischen Konferenz, auf der keine oder viel zu wenig schwarze Rednerinnen stehen. Das Fehlen dieser Feminist*innen auf der Konferenz macht sodann auch die Analyse des Patriachats fehlerhaft, lückenhaft und verzerrt, denn entscheidende Erfahrungen sind nicht eingespeist.

Ein weiteres Werkzeug ist, die Unterschiede zwischen Menschen – insbesondere die zwischen Frauen – nur zu tolerieren, nicht aber zu nutzen. 

Ein Werkzeug ist der Glaube von Frauen*, dass es nur im Hause des Patriarchen Hilfe und Unterstützung für Frauen* gibt. 

Bisher wurden diese oder andere europatriarchale Werkzeuge genutzt, um das Europatriarchat mit seinen eigenen Werkzeugen zu schlagen. Aber es hat eben noch nie zu nachhaltigen und wahren gesellschaftlichen Veränderungen geführt. Und noch immer sehe ich bei vielen feministischen Kämpfen dieses Agieren; dieses „Jetzt-erst-recht“, das Gegenanschreien gegen patriarchale Stimmen, das Lautsein, das Plätze-Erkämpfen. Wenn der Platz dann endlich errungen ist, kann er viel schneller noch wieder verloren gehen – denn das Europatriarchat gibt so einen Platz nie kampflos auf; und der Flow ist immer mit ihm, nie mit der feministischen Kämpferin, die immer gegen große Mächte ankämpfen muss. Sie hantiert mit denselben Werkzeugen; und zwar sehr klug, sonst hätte sie es nicht so weit geschafft, aber die Werkzeuge in der Hand des Meisters sind viel größer, viel umfassender; erdrückend die Präsenz in jedem Atemzug des Seins. Sie kämpft und hantiert und bearbeitet die Konturen des Gesellschaftsrahmens… aber ihre Kräfte werden weniger…. und sollte sie den Platz wieder verlieren: könnte die Kämpferin die Energie für einen erneuten Kampf aufbringen? Oder gibt sie auf, macht es sich mit ihrer Klugheit auf dem Platz wohlverdient gemütlich, wo sie es doch schon hierher geschafft hat aus eigenen Verdiensten, und wird so langsam aber sicher zu einer Patriarchin? Das ist einfach für sie, denn sie kann ja schon wahnsinnig gut mit den Werkzeugen umgehen.

Ein Werkzeug ist nach Audre Lorde auch, die Vergangenheit zu ignorieren und so eine Kluft zwischen den Generationen zu generieren, weil dann wertvolles Wissen verloren geht und immer wieder von nachfolgenden Generationen hart erarbeitet werden muss, wenn es überhaupt die „Rückerarbeitungsbedingungen“ (Demokratie, Freiheit, freie Presse usw.) dafür gibt, würde ich hinzufügen. 

Ein Werkzeug ist auch, das Schweigen von Frauen zu fördern, sodass diese ihre Wut nicht produktiv nutzen können. 

Ein Werkzeug ist auch – so füge ich hinzu, dass ich beispielsweise als Frau nur meinem europatriarchal trainierten Kopf das Wort und die Aufmerksamkeit überlasse und genauso auf Objektivität, Distanz und Rationalität bestehe wie das Europatriarchat.

Die jeweiligen Gegenteile sind teils die Lösung: sich nicht mehr in patriarchalen Kämpfen erschöpfen lassen, sondern alternative Machtbeziehungen zwischen Frauen suchen. 

Anderen Frauen zuhören und sie ernstnehmen, Gesellschaft dadurch umfassender sehen und ihre Erfahrungen, ihr Denken und Wissen in deutungshoheitliche Gewässer führen. 

Unterschiede zwischen Frauen produktiv nutzen. 

Hilfe und Unterstützung in anderen als patriarchal geprägten Beziehungsweisen suchen. 

Die Vergangenheit und Erfahrung und das Wissen anderer Generationen nutzen. 

Wut produktiv nutzen. 

Lyrik ernstnehmen. Denn Lyrik enthält dringend benötigtes Wissen, das nicht im Kopf produziert wird. (Darüber gibt es sehr viel mehr im nächsten Text.)

Wenn all dies verändert werden würde, dann… ja dann würde sich die Gesellschaft verändern können. 

In vielen Punkten spielt der Kopf und sein kluges Agieren eine wichtige Rolle. Aber in vielen klingt auch das Herz an, der Gemeinschaftssinn, das tiefe Verstehen. Denn es ist wichtig, die hauptsächliche Lösung der Zerstörung der europatriarchalen Struktur unserer modernen Gesellschaftsordnung nicht nur in der ausführlichen Beschäftigung und Benennung und Analyse der patriarchalen Strukturen, in mehr Studien zur Ungleichheit usw. zu sehen. Es ist wichtig, diesen anderen weichen, unklaren, auf Beziehungsweisen aufbauenden Teil zu halten und auszubauen.

Denn die europatriarchalen Strukturen sind unter Ausblendung dieser Beziehungsweisen entstanden. Durch den unermüdlichen, rastlosen, gewaltvollen Einsatz von kopfbesessener Vernunft und Rationalität. Sie konnten entstehen, weil alles Dazwischen und Außerhalb über Jahrhunderte und Jahrtausende ausgelöscht, an die Ränder abgeschoben und der Erdgebundenheit entzogen wurde. Arme Esoterik zum Beispiel: Seltsames Überbleibsel aus brutaler Verfolgung einstmals vielleicht (genau können wir das nicht immer wissen) erdgebundener Rituale und Kultur. Sie fasert so lose umher, immer im Begriff, in irgendeine gefährliche Nachbarschaft zu kippen. Ab und zu fühlt sie und sieht sie Wahres im antarktischen Licht, aber so ganz ohne Sprache und Kultur gibt es keine Rückbindung dieses Wahren oder Wahrheitlichen – wie Morton es mit der Wortschöpfung von Komiker Stephen Colbert liebevoll nennt (Truthy und Truthiness) – an die Welt. 

Also wenn kopfbesessene Rationalität ein Werkzeug des Europatriarchats und damit auch des Rassismus und des Kapitalismus ist: Ja wieso verwenden wir es dann, um das Haus zum Einsturz zu bringen, wenn Audre uns doch in einem Satz klipp und klar sagt, dass das nicht funktionieren wird? Welche Vernunft, welche Rationalität ersetzt die europatriarchale kopfbesessene Rationalität? Vielleicht liegt hier auch ein kleiner Teil der Erklärung verborgen, warum sich Gesellschaften im Kapitalismus und Sozialismus kaum unterscheiden, zumindest was die Lösung des Europatriarchatsfrage angeht: ihre zwei Häuser sind beide ausschließlich mit patriarchal und rassistisch getränkter Rationalität erbaut worden. Sie haben sich in der Beziehung im Grunde nicht so viel unterschieden. 

Um herauszufinden, wann die Werkzeuge des Meisters begannen, sind wir wieder bei der unbeantwortbaren Frage, wann das Patriarchat genau begonnen hat. Es wurde sehr erfolgreich vergessen. Wir wissen eben nur, dass es schon jahrtausendelang relativ erfolgreich seinen Weg durch die Menschheit schlägt. So erfolgreich, so wirkmächtig, sodass oft nicht mal die klügsten und jahrelang forschenden Feministinnen wissen, ob eine Göttin in einem Mythos stirbt, weil es zum Kreislauf des Lebens gehört oder ob der Mythos eine patriarchale Adaptation erfahren hat. Denn auch in Mythen dürfen doch bitte weibliche Wesen sterben; und zwar durchaus auch gewaltvoll! Weil es auch im natürlichen Gang immer schon gewaltvolle Lebensenden für weibliche Wesen gab; also auch für Frauen jenseits des Patriarchats. Frauen oder Göttinnen starben und sterben nicht nur und erst, seit es das Patriarchat gibt. Was würde ich als weibliches Wesen über das Leben und den Tod lernen, wenn kein als weiblich gelesenes Wesen in den Geschichten um mich herum je sterben würde und dürfte? Dass ich eigentlich ohne Patriarchat unsterblich bin? Ich fände dann als weiblich gelesene Wesen schon auch echt nicht ernstgenommen. Auch ein gewaltvoller Tod in einem Mythos sollte doch bitte nicht nur den Männern vorbehalten sein. Ich verstehe, dass viele Feminist*innen gerade alle Frauen in Märchen, Mythen und Geschichten vor dem Tod bewahren wollen und den Drang verspüren, Mythen und Geschichten umzuschreiben. Aber ich finde, hier ist doch etwas Vorsicht angebracht; gerade bei Mythen und Geschichten, die in vorpatriarchale Zeitalter zurückreichen, oder zurückreichen könnten, denn wie wir wissen, wissen wir oft nicht, wann das genau war und wie das war. Es gibt einfach viele Unklarheiten.  

Nur ein Beispiel für diesen „feministischen Übereifer“: Letztens erst lief mir in einem Podcast über Maria (ich meine die Heilige Jungfrau und Mutter Gottes, für deren Erscheinungsformen gerade außerhalb der Bibel ich sehr viel Interesse entwickelt habe) eine – meines Empfindens nach – merkwürdige feministische Konfusion über den Weg: Mary Daly und ihre Deutung wurden da erwähnt, wonach die Verkündigung an Maria eine Art „übernatürliche Vergewaltigung“ durch den heiligen Geist war, der Maria auch noch zugestimmt hätte. Meine Intuition sagt mir relativ eindeutig, dass Marias unbefleckte Empfängnis vom Sohn Gottes nicht als eine Vergewaltigung vom heiligen Geist gelesen werden sollte. Diese Interpretation enthält meines Erachtens auch nicht im kleinsten Ansatz irgendetwas Wahres oder Wahrheitliches. Es ist vielmehr eine völlige Verkennung der unendlichen Tiefe und Wahrheit, die diese Geschichte über menschliches Werden, Sein und Vergehen in sich trägt. Sie existierte vor ihrer Verchristlichung ja in hunderten Versionen in vielen Kulturen schon jahrtausendelang, also weit vor ihrer Niederschrift in der Bibel, wo sicherlich eine patriarchale Überformung stattgefunden hat. Aber hey, ich bin keine Theologin noch sonst irgendetwas; mir widerstrebt es nur intuitiv und aus tiefstem Inneren, diese Interpretation sowie noch einige weitere, die von feministischer Seite gemacht wurden, anzunehmen. Friederike Migneco schreibt in klaren Worten etwas herrlich Unklares dazu: „Was im Denken als ein Paradoxon aufgefasst wird, wird in der religiösen Erfahrung unmittelbar als wirklich empfunden, denn zum Wesen der Religion gehört die intuitive Schau des Ganzen, nicht das analytische Zergliedern der Erscheinung.“ (In: „Maria als Jungfrau. Warum heute noch?“ 2003, S. 40) Die Unklarheit ist das Bindeglied: An die intuitive Schau müsste die Unklarheit andocken dürfen; nicht an die analytische Zergliederung, welche die Erfahrung nicht ernst nimmt.

Tja, die Dinge sind nicht weniger komplex im schlüpfrigen antarktischen Licht, so ist es nun mal leider. Ich fürchte, dass wenn wir wirklich und ernsthaft mehr über Maria, den heiligen Geist und Jesus wissen wollen, uns kopfbesessenes feministisches Denken nicht weiterhilft, auch wenn Theorien wie diese sicher mit guten Intentionen und in Solidaritätsgefühlen mit Maria entstanden sind. Ich befürchte, Maria fühlt sich in so einer Theorie nicht gesehen und schon gar nicht wertgeschätzt (, was ihr wahrscheinlich herzlich wenig ausmacht; dann zieht sie eben weiter und sucht woanders offene Räume).  Dafür müssten wir uns vielmehr in die Dunkelheit, in die Unklarheit fallenlassen und antarktisches Licht ertragen lernen. Denn Maria können wir nicht in Vernunft und Rationalität treffen. Die Werkzeuge des Meisters wie z.B. Rationalität, Objektivität und Aktivität greifen hier gar nicht. Und ein Werkzeug, das nun ganz und gar nicht vom Meister kommt, ist die Akzeptanz der Unklarheit, der Passivität und des Leermachens. 

Die meisten feministischen Konzepte wollen Licht bringen. Sie haben die Errungenschaften der Wissenschaften und der Renaissance komplett internalisiert. Der Brutalität der Ausleuchtung der vom Europatriarchat geschaffenen Wirklichkeit setzen viele feministische Ansätze ebenfalls Ausleuchtung entgegen: Ausleuchtung der vergessenen weiblichen Räume, weiblichen Wirkens. Nun ist die eine Sache aber, Maria – bleiben wir bei dem Beispiel – mit Rationalität und wissenschaftlichem Wirklichkeitsverständnis auszuleuchten – psychoanalytisch vielleicht, oder durch historisch-kritische Exegese, durch Entmythologisierung, oder auch zum Zwecke des Zurechtbiegens in eine zeitgemäße Spiritualität hinein. Bei diesem rastlosen, mühevollen, peniblen Vorgehen der Ausleuchtung verfliegen alle Funken der Unklarheit. Je mehr von dieser Form der Ausleuchtung betrieben wird, desto mehr verschwindet Maria im Dunklen; so stelle ich mir das mittlerweile vor. Denn sie beginnt nur zu leuchten und zu sein, wenn den sich vielleicht manchmal einschleichen wollenden schlüpfrigen, rutschigen, mystischen Momente Raum gegeben wird. Das heißt also im Grunde, mit dieser europatriarchalen Form der Ausleuchtung finden wir sie nicht. Wir finden sie nur im Unklaren, im mystischen Bereich. Welche Werkzeuge braucht es dafür? Passivität und Vernichtigung des Selbst, Loslassen vom Ego wenigstens für einige Momente. Wir müssen vergessen können, wer wir sind, die eigene Körper*in hergeben für Erfahrungen, die nicht die eigenen und die in Form und Art völlig unbekannt und fremdartig sind – oder aber auch bekannt oder wiedererkennend oder einswerdend – das kommt auf das Erinnerungsvermögen der jeweiligen Körper*in an. 

Würdigung und Wiederaufnahme der Unklarheit ins Repertoire der Conditio Humana

Der nicht-europatriarchale Vorgang wäre also, die Unklarheit nicht ausleuchten zu wollen, sondern den Mut zu haben, sich tief und vertrauensvoll in die Unklarheit fallen zu lassen. Für die Übersetzung dessen in Menschensprache, was wir im Zustand der Unklarheit eventuell sehen und erleben, braucht es Übersetzer*innen wir Lyriker*innen und Künstler*innen. Nur so viel sei meinem kommenden Text vorweggenommen: Das Ernstnehmen von Lyrik und Kunst – wenn sie denn erdgebunden entstanden sind – ist ein zentrales Werkzeug, das das Haus des Meisters zum Einsturz bringt. 

Beim Fallenlassen in die Unklarheit erinnern wir uns im besten Falle daran, wer wir auch sind und was wir auch sein können und welche Fähigkeiten wir auch haben könnten. Fähigkeiten, die wichtig für die Erdgebundenheit sind; aber eine große Gefahr für das Europatriarchat. Deswegen hat es ja diese Fähigkeiten über Jahrtausende gewaltvoll aus den Körper*innen vertrieben. Weil sich beide Weltwahrnehmungen komplett ausschließen. Was wiederum nicht bedeutet, dass man nicht innerhalb der einen Wahrnehmung nicht in die andere kippen und sich da hineintasten und hineinschnuppern kann. Die Übergänge sind immer fuzzy und unklar, und das Übertreten dadurch schon auch möglich.

Es würde ja auch fürs Erste genügen anzuerkennen, dass es die Unklarheit überhaupt gibt. Unklarheit überhaupt erst wieder wahrzunehmen und da sein zu lassen und präsent halten zu dürfen, ohne den rastlosen Wunsch, sie sofort verdrängen oder bekämpfen zu wollen. Vielleicht geht es gerade bei ökologischem Denken mehr denn je darum, all diese seltsamen und unklaren Momente wieder zuzulassen. Vielleicht ist das der Inbegriff von ökologischer Achtsamkeit: dass unser Tun bei Tageslicht ungewollte negative Konsequenzen haben kann und wird, auch wenn wir (Klimabewegten) die besten Absichten hatten. In meinen dunklen Momenten habe ich die stille Ahnung, dass sehr wenig der Dinge, die wir jetzt mit bestem Wissen und Gewissen anstoßen, auf lange Sicht die Richtigen sind. Auch wir Klimasensiblen bauen immer noch Zukünfte außerhalb der planetaren Grenzen. Wieder schießt mir das Sprichwort in den Kopf: Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.

Für ein Gelangen in die planetaren Grenzen wäre es notwendig, unsere Wahrnehmung und Verteilung von Wertschätzung für die Klarheit und die Unklarheit wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Und so unsere Angst vor der Unklarheit zu verwandeln in Staunen. 

Wie kann das gehen? Es gibt eine tiefe Angst vor diesem einen essenziellen Raum; dem unbekannten, leeren Raum, in welchem wir die Kontrolle abgeben und rauskommen aus dem Rhythmus der Kultur hin zu dem weit größeren Rhythmus der Natur. Es könnte etwas passieren, in uns kommen und die Kontrolle in uns übernehmen, und es könnte uns verändern. Wir könnten verschwinden in dem großen Fließen für immer, trotz all der Fortschrittsnarrative, und plötzlich den Mond ansingen mit wilder Hingabe, so Joshua Schrei in der Podcastfolge „Snail Juice & Bear Fat & Werewolf Moons“. Wir könnten – wie Dylan Thomas in dem Gedicht „The force that through the green fuse drives the power“ nahelegt – vielleicht in den Fluss gehen und niemals wiederkommen. Ängstlichkeit mag so eine Form der Vernichtigung, der Auslieferung und Kontrollabgabe nicht, Ängstlichkeit mag das Mysteriöse daran nicht, mag gar nicht erst in diesen Übergang kippen… einfach weil unklar ist, was dann passieren könnte. Denn etwas könnte passieren, was könnte passieren? 

Joshua Schrei führt aus, wie groß die Angst vor Werwölfen im 15. und 16. Jahrhundert in Zentraleuropa war. Diese Angst hatte viel zu tun mit der immer stärker werdenden Angst vor dem Trance-Zustand und davor, die eigene Handlungsfähigkeit und -macht an die Natur abzugeben. Der Werwolf überschritt die Grenzen zwischen Kultur und Natur, zwischen gewöhnlicher “menschengemessener” Zeit und uranfänglicher, ewiger Zeit, er war der letzte Zeuge der menschlichen Fähigkeit, durch Trance-Praktiken ins Reich der animierten Welt zu treten, und das trotz der sich immer machtvoller durchsetzenden Regulierung der Zeit durch die Kirche und zunehmend auch durch die moderne Wissenschaft.  

Shapeshifter*innen, Gestaltwandler*innen wie solche, die sich in Werwölfe verwandeln können, verstehen und ehren diese uranfängliche Zeit des Übertretens außerhalb der mondänen Zeit. Die Ängstlichkeit vor dunklen Wäldern und unbekannten Kräften resultiert auch daher, dass wir vielleicht alle einfach wild werden könnten. Und dass wir bemerken könnten, dass wir gar nicht so besonders sind: wir könnten sogar einfach nur Futter für andere Lebewesen sein. Das ist ein Gedanke, der wahnsinnige Urängste in uns auslösen kann. Wir könnten einfach nur Futter sein. Viele dystopische Science Fiction-Romane und -Filme von Riesenkillerhaien oder menschenfressenden Menschenaffen erzählen von und füttern diese Angst. Und diese Angst ist nicht einfach nur mit der Angst vor Chaos oder Gefahr zu erklären. Es ist die Angst davor, dass es da draußen eine „natürliche Zeit“ geben könnte, die außerhalb unserer Kontrolle existiert; eine Angst, dass die Dinge sich die Zeit nehmen, die sie benötigen; eine Angst, dass es eine größere natürliche Ordnung geben könnte, die absolut nichts mit der zu tun haben könnte, die wir erschaffen haben; eine Angst, dass wir uns einer Zeit übergeben müssen, in der nichts Rationales erfüllt ist; eine Angst, dass die Langsamkeit uns eventuell in diesen Raum mitnimmt und uns transformiert, und wir wirklich verändert werden könnten. Es ist eine Angst, dass wir zu dem Verständnis gelangen könnten, dass die Wahrnehmung der Welt im Trance-Zustand uns näher sein könnte als unsere rationalisierte Weltsicht. Und die Angst, dass auch unser Verstand es mögen würde, ab und zu weggeblasen zu werden und zu einem gestaltwandelnden Übertrittshörer zu werden, und dass dies keine Anomalie ist, wie wir uns seit Jahrhunderten immer wieder selbst einreden, sondern dass dies unser Geburtsrecht ist: in die Haut eines Wolfes zu schlüpfen, die Welt mit seinen Augen zu sehen, sie in seinem Laufrhythmus zu durchschreiten, mit seinem Atem und seinen Träumen in der Welt zu sein. 

Oder wovor haben wir sonst noch Angst, wenn wir die Tage und Nächte mit Licht füllen und das Handy nicht mehr ausschalten, auf dass es uns für immer und ewig vom Hineingeraten in einen Trance-Zustand oder einen zu tiefen erdbindenden Traum abhalten könnte? Das ist die große Angst: dass die Natur eigentlich – trotz unserer jahrtausendelang gewaltvoll übergestülpten Wirklichkeitskonstruktion – weiterhin die Kontrolle haben könnte. Wir könnten sterben. Und noch angsteinflößender: wir könnten kopfüber in die „natürliche Zeit“ (primordial time) fallen und tatsächlich verändert werden, und zwar in die Geschwindigkeit der Natur hinein. Die Annahme der Geschwindigkeit der Natur könnte ein erster Schritt in die planetaren Grenzen hinein sein; ein weiteres Werkzeug also – so meine ich –, dass das Haus der Herrschenden zum Einsturz bringen könnte. 

Joshua Schrei spricht mit Verweis auf Hartmut Rosa die Unkontrollierbarkeit der Welt an, gegen die die Menschen angehen. Es gibt vier Dinge, die eine moderne Gesellschaft immer anstrebt: Sichtbarkeit, Erreichbarkeit, Handhabbarkeit und Nützlichkeit. Der Kapitalismus hasst nutzlosen Raum, denn wenn wir sagen würden, dass es einen Wert in nutzlosem Raum gibt, würde dies ja bedeuten anzuerkennen, dass es eine höhere Ordnung gibt, die ganz gut funktioniert ganz ohne unser Zutun. Dass es eine Ordnung gibt, dessen bestimmende Merkmale nicht unsere sind und dessen Zeitrahmen sich in Milliarden von Jahren hinein ausdehnen. Eine Ordnung, in welcher eine Lebensform tausende andere Leben schenken kann, und in welcher ein Mensch vielleicht nichts Besseres tun kann als Lieder zu singen – oder eben zu beten, gemeinsam mit den Vögeln – für jene, die schon gestorben sind und um ihrer zu gedenken durch das Verweben ihrer Lebensgeschichten in alte und neue Mythen und Geschichten. 

Es ist durchaus verständlich, dass wir alles tun, um die Kontrolle der Natur und ihre beängstigenden Aspekte in unseren europatriarchalen Griff zu bekommen. Aber diese unsere Anstrengungen des Im-Griff-Habens – so Hartmut Rosa – haben dazu geführt, dass die Welt eben noch mehr aus unserer Kontrolle herausgewachsen ist. 

Langsamkeit hingegen kann die Tore öffnen für eine tiefere Resonanz, um das Ganzheitliche im Rhythmus der Natur wiederzuentdecken. Irgendwo habe ich gelesen oder gehört – es könnte auch in einem Podcast von Joshua Schrei gewesen sein –, dass sich Menschen, die am Fluss leben, nicht schneller als das Wasser in einem Fluss fortbewegen sollten. Nur so können sie im Rhythmus mit der Welt bleiben, die sie umgibt, die sie selbst voll und ganz sind.

Auch das ist ein Werkzeug, das nicht vom Meister ist: den Rhythmus der Natur aufzunehmen. Dabei hilft es – so Joshua Schrei – mit Carl Honoré die “Eigenzeit” wiederzuentdecken und zu verstehen, dass jedes lebende Wesen auf dieser Welt seine eigene Zeit und Geschwindigkeit in sich trägt und Wandel nur in dieser ihm eigenen Zeit möglich ist.

Ich finde übrigens, das knüpft genau an die Tradition der Frauenbewegung der Feministinnen des Mailänder Frauenbuchladens an, welche die Erfahrung machten, dass jede Frau in der Gruppe woanders steht, und im Grunde einen auf sie speziell zusammengeschusterten Feminismus braucht. Dass Feminismus nur wirkt, wenn sie von ihm dort abgeholt wird, wo sie sich gerade befindet. (Das sind jetzt meine unbeholfenen Worte.) Es braucht viel Zeit und Liebe und Verständnis für Eigenzeit und Standort- und Bewegungsunterschiede, um diese Unterschiede dann auch kraftvoll nutzen zu können, wie Audre Lorde es fordert.

Aber zurück zur Langsamkeit: Wenn wir nun also alle so viel langsamer werden sollen: wie verträgt sich das mit dem Gefühl in uns, dass „Welt stirbt“ und unserem ebenfalls intrinsischen Gefühl, dass wir „alles Menschenmögliche tun müssen, um das Sterben aufzuhalten“? Wir können doch unmöglich langsamer werden! Die Künstler*in und Aktivistin Leah Song sagt in einem Interview mit Joshua Schrei in dem Werwolf-Podcast, dass wir die Fähigkeit haben müssen, beide Perspektiven einnehmen zu können, denn beide seien richtig. Der Sinn der Dringlichkeit, der Drang nach Produktivität, Inspiration und von kreativen Antworten, die manchmal Vulkanausbrüchen gleichen, können oft nur aus dem Gefühl der Dringlichkeit entstehen. 

Es gibt hier keine unüberbrückbare Dichotomie zwischen Langsamkeit und Vulkanausbruch. Es gibt Zeiten, in welchen die Energie nach innen gerichtet ist, und es gibt Zeiten, in denen die Energie Entladung nach außen sucht. Das ist kein Widerspruch; nur befinden wir uns momentan fast ausschließlich auf der Vulkan-Agier-Seite und brennen aus. Aktivität und Ruhephasen sind zyklisch; es wäre an uns, die spiralartige Macht der Zeit anzuerkennen. Das wäre ein Werkzeug der planetaren Grenzen. Der Zugriff auf die „natürliche Zeit“ trägt auch den Aktivismus in sich; die „natürliche Zeit“ anzuerkennen, bedeutet also nicht, sich die ganze Zeit nur in Trance befinden zu müssen oder sich im Schneckentempo fortzubewegen. Auf die Nacht folgt immer der Tag. Wir müssen die Balance lernen und lehren, wie wir verantwortungsvoll Veränderung erreichen können, z.B. durch stilles und tiefes Zuhören, und zwar auch anderen Lebensformen. Das heißt, unser u.a. durch Audre Lorde oder die italienischen Philosophinnen geschultes feministisches Zuhören und Ernstnehmen darf nicht mehr nur anderen Frauen gewidmet sein, sondern muss sich ausdehnen auf Nichtmenschen.

Einfach irgendetwas zu tun, nur um des Tuns Willen, kann fruchtloser sein als stundenlanges Verweilen in unproduktiver „natürlicher“ Zeit. Pläne und Hoffnungen, die aus der Langsamkeit erwachsen, können zu sinnvollem Tun und Entscheidungen führen. Zum Beispiel – so sagt es Joshua Schrei, und so habe ich schon selbst oft insgeheim gedacht – kann das Beste, was ich tun kann, um die Welt zu retten, sein, für meine Kinder da zu sein (aber eben nicht im europatriarchalen Sinne gedacht; als Paket „Hausfrau und Mutter“ verschnürt oder so. Auch das ist so eine gefährliche Nachbarschaft, der es sich lohnt, genauer nachzugehen; vielleicht mal in einem anderen Text.). Und nach dem „Aufenthalt in natürlicher Zeit“ muss es nicht unbedingt ein „Outcome“ geben, so wie es die kapitalistische Welt oft  von Kreativen verlangt: „Geh in Gottes Namen drei Monate in die Versenkung, aber komm um Gottes Willen mit fünf neuen Drei-Minuten-Song-Ideen wieder raus“, womit – seien wir ehrlich – die unproduktive Zeit ja keine unproduktive Zeit mehr wäre. Es ist genug, einfach versunken zu sein und einfach die heilende Kraft dieses Versunkenseins zu spüren. Dieser Gedanke entlastet und schenkt Raum für Stille; so habe ich es empfunden. Klimatätigkeit ist so mannigfaltig. 

Nun mögen viele sagen, aber Anne, wenn wir uns nun in Ruhe, Geduld und Langsamkeit üben, dann verpassen wir den Moment, dann vermeiden wir doch auch nur das absolut notwendige Tun! Aber meinem Empfinden nach – und davon spricht auch Joshua Schrei in dem Podcast – entwächst rastloses Tun auch gewissen Vermeidungsstrategien, und das daraus entstehende Tun könnte mich nur erschöpfen, ohne am Ende das „Output“ zu haben, das ich mir gewünscht habe. Wenn ich mich beispielsweise woanders hin wünsche, um dort zu helfen, oder wenn ich einem Idioten im Internet „gepfefferte Antworten“ geben muss, dann bin ich ständig auf 180 und habe beispielsweise in dieser Zeit keine Zeit für meine Kinder. Wie gesagt: das heißt nicht, dass wir nicht mehr ins aktive Tun kommen sollen. Es heißt aber, dass wir den Unterschied zwischen aufgeregtem Hin- und Hergerenne und sinnvollem Handeln („the difference between agitation and action“, so nennt es Joshua Schrei in dem Podcast) kennen sollten. Es sei nämlich ein weiterer Trick des Kapitalismus, uns glauben zu machen, dass nur immer noch aufgeregteres Hin- und Hergerenne die Probleme lösen kann. Und aufgeregtes Hin- und Hergerenne und Ruhelosigkeit wiederum fürchtet den unbekannten Raum, und verstärkt damit manchmal ungewollt noch die Probleme selbst. 

Ruhelosigkeit ist ein Werkzeug des Meisters. 

Die langsame Schlangenspirale und die Eule der Minerva

Das wird umso klarer, wenn wir den Gedanken zulassen, dass wir Menschen somatisch gar nicht in der Lage sind, jede schlechte Sache, die gerade auf der Welt passiert, in uns aufnehmen zu können. Wir sind auch nicht automatisch Vermeider*innen, wenn wir uns eine Weile auf das fokussieren, was direkt vor uns ist: auf Freundschaften, Haustiere, die lokale Ökologie, auf Lieder, Hymnen und Rituale. Hier resonieren wir stark, denn es ist unmittelbar an uns dran; hier werden Erinnerungen geweckt und neue geschaffen. Und diese Erinnerungen können nur in der Langsamkeit gefunden werden. 

Der Kolonialismus ist geprägt von Eile und Misstrauen; weiße Kolonialisten – so die Deutungen von Indigenen (Joshau Schrei hat mit einem Elder ein Interview in einem Podcast geführt; nur leider finde ich die Stelle nicht mehr; ich liefere Namen etc. nach, sobald es mir wieder über den Weg läuft) – wollten immer irgendetwas, jagten immer irgendwas hinterher; sie waren immer ruhe- und rastlos; die Menschen der indigenen Kulturen wussten nicht, was diese Weißen wollten; sie verstanden ihr Begehren nicht; sie dachten, die Weißen wären krank. 

Das System, das wir erschaffen haben, hat diese Modelle des rastlosen Tuns aufrechterhalten, die langsame, spiralisierende Schlange – Inbegriff der „natürlichen Zeit“ – wurde in den christlichen Traditionen zum Inbegriff der tödlichen Sünde: Trägheit, die unproduktive Zeit ist das Ziel der Kalvinisten und Kapitalisten gewesen, so wie auch unbekannter Welt-Raum immer weiter unter dem immer größer werdenden Einfluss der europatriarchalen Wissenschaften erodierte.

Wenn wir ein nachhaltiges System bauen wollen – so Joshua Schrei – müssen wir dieses auf das Tiefe und das Langsame gründen. Tiefe und Langsamkeit und Anerkennung der jeweiligen Eigenzeit: das sind Werkzeuge der planetaren Grenzen.

Ich lasse nochmal Joshua Schrei sprechen: 

„In sehr langsamer Art und Weise, in tiefen Traumräumen, nicht getrieben von einer bestimmten Weltsicht und gebunden an irgendwelche Sprechweisen, oder begrenzt durch zu frühe Schlussfolgerungen, lassen wir unsere vorgefassten Meinungen fallen. Wir fühlen die Trauer über all die gewaltvollen Ereignisse in der Welt, wir halten einander, wie singen die tausend Namen der Mutter, wir fühlen die entlastende Größe der Machtlosigkeit, und dann finden wir unsere Stimmen zusammen wieder im unbekannten Dunklen, und während wir unsere Tränen wegwischen, fühlen wir das gemeinsame Ausrichten hin auf das tiefe spiralenförmige Langsame, hin zur langsamen Spirale, zur großen Kraft, deren Name Natur ist, und die sich langsam immer Richtung Balance bewegt, auch jetzt, mitten in all dem, was gerade geschieht.“

Die langsame Schlangenspirale erinnert mich immer wieder daran, dass ich nicht wissen kann, ob mein klimabewegtes Tun, das natürlich immer von guten Absichten durchzogen ist, wirklich etwas Gutes für den Bau einer Gesellschaft innerhalb der planetaren Grenzen bewirkt. Ich muss immer wieder an ein Gespräch mit Antje denken, in der sie die Eule der Minerva ins Spiel brachte und wir diskutierten: Ich war der Meinung, dass gewisse Taten und Absichten zu etwas Gutem führen, wenn auch vielleicht nicht gleich im ersten Anlauf. 

Antje sagte, ob meine Taten Gutes auslösen, das könne nur die Eule der Minerva wissen, im Sinne von: ich werde nie imstande sein, im Voraus zu prüfen, ob die eigenen Handlungen die gewünschte Wirkung bringen. Das können wir erst wissen, wenn vielleicht gewisse Ereignisse eingetroffen sind; wenn sich Geschichte also ereignet hat. (Aber dann frage ich mich auch wieder: wann soll das sein? Welches Ereignis genau? Wie wird das festgelegt und wer legt das fest, dass genau meine Tat dazu beigetragen hat, wenn ich dann schon tot bin? Ist es ein Ereignis in 10 oder 100 oder 1000 Jahren?) 

Diese Minerva-Deutung ist sehr Hegel-nah; bemerke ich, während ich jetzt noch einmal den Wikipedia-Artikel zur Eule durchscrolle. Und sogleich überkommt mich die Lust, die Eule der Minerva anders zu deuten, auch wenn ich Antje in der Sache mittlerweile tendenziell recht geben würde… oder mit Timothy Morton gesprochen: die Einschätzung ist wahrscheinlich „nicht ganz falsch und auch nicht ganz richtig“. 

Ich bin aber nicht ganz einverstanden mit der Hegel’schen Deutung der Eule der Minerva: Als ein Tier, das seinen Flug erst in der Dämmerung beginnt, ist die Eule ja eindeutig ein Wesen der Nacht und der Dunkelheit, und somit dem Nachtbewusstsein ganz zugänglich. Die Klugheit und Weisheit der Eule kommt sicherlich aus der Unklarheit, und mit diesem Wissen der Nacht hat sie den Göttinnen wie Athene mit Rat und Tat beiseite gestanden. Die Umdeutung in die Aufklärung und in das Licht und die Rationalität und Intellektualität hinein halte ich hier für eine Überstülpung, mit der man der ursprünglichen Bedeutung der Eule der Minerva nicht gerecht wird. Die etruskische Götting Menvra war nicht nur eine Blitzgöttin, die also Blitze schleudern konnte, sondern sie war auch eine Göttin, die mit Heilung und Gesundheit in Verbindung gebracht wird. Und sie war eine Göttin, die als Orakel mit der Auslegung der Zeichen der Götter befasst war. Ein Orakel findet seine unklaren Antworten nur in Bewusstseinszuständen des Trance usw. Menvra war also ursprünglich alles andere als ein Symbol für Rationalität und Intellektualität; auch nicht als Eule, die sie eventuell auch war, vielleicht als Gestaltwandlerin oder was auch immer.

Ich blättere kurz vor dem Beenden des Textes auf der Suche nach Referenzen noch einmal Timothy Mortons Ökologisch sein durch, und – es wundert mich kaum mehr – finde ich auch bei ihm eine solche Umdeutung der Eule der Minerva. Ich möchte euch seine weitaus lyrischer schwingenden Worte natürlich nicht vorenthalten: „Wenn Hegel verkündet, dass die Eule der Minerva (das Totem der Justiz, Symbol Athens) in der Dämmerung fliegt, beschreibt er, wie die Geschichte durch ihre Schattenseite wirkt. Doch Hegels Eule flog nicht nur in der Dämmerung. Sie flog direkt aus einem Traum in die Träume von Schläfern, die davon überzeugt waren, sie seien gerade aus den allerletzten Überresten des sogenannten Primitiven erwacht.“

Die Werkzeuge des guten Lebens innerhalb der planetaren Grenzen

Ich befinde mich also seit einigen Monaten in einer sehr langsamen Phase. Ich kundschafte die Langsamkeit aus. Und es ist wahr: ein bisschen fehlt mir aktuell der Drive für neues klimabewegtes Hin- und Hergerenne. Aber wie Joshua Schrei sagt, und wie Antje schon diesem Text schrieb, und wie auch Timothy Morton sagt: Ökologische Aktion könnte bedeuten, so wenig Schaden wie möglich zu verursachen, und nicht, die Dinge noch effizienter zu gestalten. Und in diesem Verständnis von Ökologischsein – so Morton – ist es auch nicht ökologisch, jemandem eine Kopfnuss zu verpassen, indem man ihm z.B. Daten und Fakten über den Kopf schüttet. 

Es ist dennoch schwer, in meinem Alter – das nicht umsonst den Zweitnamen „Rush-Hour des Lebens“ trägt – langsam zu sein in dieser Gesellschaft. Ich jammere nicht. Gott bewahre, ich weiß um mein Privileg. Ich sage nur, es ist schwer. Reibung überall. Ich passe irgendwie in kein Raster. Nichts in dieser Gesellschaft sagt mir, dass Langsamkeit richtig ist. Ich müsste krank sein oder alt oder gerade ein Kind bekommen oder gerade bekommen haben, dann würde ich vielleicht für kurze Zeit die Lizenz zur Langsamkeit bekommen. 

Aber vielleicht sollte ich selbstbewusster sein und das nächste Mal auf die Frage, was ich gerade so tue, sagen: „Du… ich teste gerade die Langsamkeit aus, was sie mit mir macht, und ob sie ein Werkzeug für die Menschheit sein könnte, um wieder in die planetaren Grenzen zu kommen.“ Wahrscheinlich würde darauf großes betretenes Schweigen folgen, wie so oft, wenn ich ein bisschen über das reden will, was mich so interessiert, wie letztens so oder ähnlich geschehen (fiktive Elemente enthalten ;) bei einer kleinen, aber sehr feinen Ausstellungseröffnung. Mein Gegenüber, der mir soeben vom Künstler selbst vorgestellt wurde, ist ganz nett, wir kommen ins Plaudern. Da es mir egal sein kann, was der Typ von mir denkt, und weil hier ja überall künstlerisch interessierte Leute unterwegs sind, und weil er mich nicht gleich stoppt in meinem Gerede über Langsamkeit, rede ich weiter und sage, dass ich aber noch so sehr am Anfang meiner Forschung stünde, dass ich eigentlich noch nicht von der Langsamkeit sprechen kann, nur von gesellschaftlich eingepasster moderater Verlangsamung. Dass ich schätze, dass mich diese Tätigkeit noch ein paar Jahre in Anspruch nehmen wird, vielleicht sogar mein ganzes Leben. Dass ich gern versuchen würde, ganz aus dem Raster zu fallen. Aber ich nicht wüsste, wie das gehen soll. Denn um mehr Aussagen treffen zu können über die Langsamkeit, und zwar nicht nur theoretischer, angelesener Art, müsste ich mich noch viel viel tiefer in die Langsamkeit fallen lassen können und dürfen. Die Füße raus aus der Gesellschaft gehalten hätte ich jetzt, aber ich würde nun gern einfach mal ganz rausspringen ins Unklare. Gleichzeitig aber will ich auch nicht komplett aus dem Raster fallen, und Angst hätte ich schon auch. Was macht das mit mir? Was könnte passieren? Das alles wäre schon echt eine Art Dilemma…

Mein Gegenüber schaut mich prüfend an, als suche er eine Schublade, und nickt dabei wissend, denn er kennt alle Wörter, die ich spreche; kein Neologimsus, nix. Er starrt in sein Prosecco-Glas und überlegt, wie er das Gespräch wieder ins Diesseits holen kann. Tja, da könne er jetzt auch nicht helfen, sagt er, aber es wäre sehr schön zu sehen, wie wichtig mir die Erziehung sei (ich erwähnte zuvor, wie schön ich es fände, Zeit im Überfluss für meine Kinder zu haben), denn man würde ja schon sehen, wohin das führe, wenn die Mütter keine Zeit mehr für ihre Kinder haben. Nun schaue ich mein Gegenüber prüfend an und dann in mein leider leeres Prosecco-Glas. Nun wurde ich also wieder in das Format „Hausfrau und Mutter“ eingepasst und hierarchisch über das Rabenmütterkonstrukt eingeordnet, na schönen Dank auch. Ich gähne von tief innen. Vor meinem inneren Auge treten die Optionen hervor, die ich jetzt habe: eine „gepfefferte Antwort“ geben, verpackt in freundlich-kühle Worte, oder jetzt hier schon abbrechen – Prosecco ist eh alle, oder nochmal ein anderes Thema versuchen? 

Ich befinde mich in einer Ausstellungseröffnung, in welcher Kunst präsentiert wird, die aus dem Europatriarchat hinausweist, befinde mich aber gleichzeitig immer noch mitten in einer europatriarchalen Diskurslandschaft. Orte und Zeiten schwappen über- und ineinander, antarktisches Licht breitet sich aus. Und ich merke, ich möchte heute nicht in eine europatriarchale Diskurslandschaft versinken; not my fight, not today. 

Ich verabschiede mich höflich und versinke lieber in die magischen Bilder meines Künstler-Freundes, welcher mir und einer Handvoll anderen Besucher*innen kurz darauf von mystischen Begebenheiten erzählt, die in der Gegend geschehen, wo er diese Fotoserie produziert hat. „Aber das ist reiner Aberglaube“, sagt eine Frau. „Aba… was?… Abaglaube? Was ist das?“, fragt der Künstler, der des Deutschen nicht ganz mächtig ist. Kurz überlege ich auch, ob er nur so tut, als kenne er das Wort nicht. Ich muss grinsen. Das wird gerade richtig gut! „Aberglaube… na… Aberglaube halt… primitives Denken von so…“, sie schaut sich hilfesuchend um. Kann ihr denn niemand helfen und „Aberglauben“ definieren? Ich helfe ihr nicht; nicht, weil ich nicht will, sondern weil ich auch nicht weiß, wie ich eingreifen soll und muss; und weil ich sehen möchte, wie der Freund darauf reagiert; ich bin im Grunde am Puls meines Interesses: Wie lässt sich über mystische Erlebnisse erzählen, ohne dass sie einen Stempel aufgedrückt bekommen und ihnen so der Atem genommen wird? Das frage ich später den Freund. Er sagt, er bewege sich viel in Kulturen, in denen derlei mystische Erfahrungen ganz normal und Teil des Alltags sind, und deswegen störe ihn das nicht weiter, wenn das hier in Deutschland teils als „primitives Denken“ abgetan wird, das sei er gewohnt, und er rede trotzdem weiter darüber, als sei es das normalste der Welt. Ich frage ihn, ob er glaube, dass die Frau irgendetwas mitgenommen hätte. Denn meines Empfindens nach „verpuffte“ die Erkenntnis in der Situation: weder wollte oder konnte irgendwer „Aberglaube“ definieren, noch wollte er als Künstler anders über seine Erfahrungen reden. Er lacht. Er mache seine Bilder, seine Filme, das sei sein Beitrag. Und klar, es wäre wünschenswert, dass etwas in der Ordnung der Frau durcheinander geraten sei. Und derlei „Erkenntnis“ komme aber auch nicht von heute auf morgen. Vielleicht hätte sich etwas gelöst bei der Frau, das könne man nicht wissen; das weiß vielleicht noch nicht mal sie selbst jetzt. Ich stimme ihm zu. Und ich, sage ich, versuche mich mit meinen Texten in gewisser Weise als Vermittlerin zwischen deinen Bildern und deinen Erfahrungen und den Betrachter*innen deiner Bilder. Oder sagen wir so: meine Texte helfen mir selbst, vielleicht einmal Vermittlerin werden zu können. Ob mir und was mir davon gelingt, das wisse ich auch nicht. Ich hätte damit aber die besten Absichten. Immerhin. Wir lachen, und er erzählt mir daraufhin von mystischen Erlebnissen, die er selbst erfahren hat. Ich liebe diese seltenen und so kostbaren Gespräche jenseits der europatriarchalen Grenzen, in der es nicht mehr notwendig ist zu sagen: „Ich weiß, das klingt jetzt total verrückt, aber…“

Welche Werkzeuge braucht es?

Es braucht Mut, das riskante Gebiet der Unklarheit zu betreten und zu entdecken, ohne es abschaffen zu wollen. Die Unklarheit kann man nur betreten, wenn an ihrer Pforte alle europatriarchalen Werkzeuge abgelegt werden: Autonomie, Herrschaft, Ego, Kontrolle, Objektivität, Sicherheit usw.; so wie die Göttin Inanna bei ihrem Gang in die Unterwelt an jedem der sieben Unterwelttore Insignien ihrer Macht ablegen musste: nacheinander Krone und Obergewand, Ohrgehänge, Halskette, Brustschmuck, Edelsteingürtel, Spangen von Händen und Füßen und Untergewand, um sodann am siebten Tor nackt Einlass gewährt zu bekommen.

Ein Werkzeug ist die Frage: Was müssen wir über diese Welt und unser Sein in ihr wissen, um in ihr verbleiben und ein gutes Leben haben zu können?

Diese Frage müsste die Wissenschaften erreichen. Momentan wollen wir immer noch einfach viel zuviel von den falschen Dingen wissen; jenen Dingen, die uns aus den planetaren Grenzen geworfen haben und weiter von ihnen entfernen werden. Und wir wissen zu wenig von den Dingen, die uns in den planetaren Grenzen gehalten hätten und jetzt zumindest wieder zurückführen könnten und also überlebensnotwendig sind. Die Unsichtbarmachung unseres Eingeflochtenseins in allen weltlichen Beziehungsweisen müsste aufhören. Die körperlichen Blockaden, mit der wir unsere Körper*innen davon abhalten, unser tiefes Verstricktsein wahrzunehmen, müssten gelöst werden. Unsere sozialen, philosophischen und psychischen Bande mit den Nichtmenschen müssten wieder hergestellt werden. Die Wissenschaften müssten dafür durchlässiger werden; ihre empirischen und experimentellen usw. Methoden zur Wissensakquise müssten ergänzt werden durch direkte, meditative, intuitive, kontemplative, intersubjektive, transsubjektive, körper*innenliche, interkörper*innenliche, transkörper*innenliche, nichtsensorische Zugangsmöglichkeiten zur Welt. 

Die Wissenschaft müsste „ökologische Intimität“ (Morton) zulassen; eine Intimität zwischen Menschen und Nichtmenschen. Und ich hoffe, ich werde hier nicht falsch verstanden: ich will nicht, dass die Wissenschaften abgeschafft werden. Aber ich möchte fundamentale Fragen stellen: Was sollen die Wissenschaften leisten? Wozu brauchen wir die Wissenschaften? Welches Wissen soll sie uns bringen? Welche Welt wollen wir mit ihr konstruieren? Und die Frage ist auch: Was bringt uns Erkenntnisgewinnung, die sich außerhalb der planetaren Grenzen befindet und uns somit weiter in die Zerstörung führt? Was wollen wir damit tun? Ist das der Wissenschaft wert oder kann das weg? Wir können sagen: Ja, doch, das ist Freiheit, wir wollen das weiter tun! Und ich werde nicht müde zu fragen: Aber warum sollten wir das tun? Wollen wir nicht am Leben sein? Wollen wir kein gutes Leben haben, voller Liebe und Schönheit? Und okay, wenn die Wissenschaft erstmal so verbleiben mag wie sie ist: könnte es dann nicht möglich werden, andere Formen der Erkenntnisgewinnung gleichwertig neben sie stellen zu können? Könnten wir wenigstens aufhören, andere Wissensformen kategorisch auszuschließen? Und könnten wir ihnen einen Platz in der Deutungshoheit anbieten?

Den Erfahrungen der Vernichtigung des Selbst in meditativen o.ä. Zuständen erwächst eine uns bis dato größtenteils unbekannte Kraft aus Nicht-Kontrolle, Nicht-Herrschaft usw. Diese Kraft zu kultivieren, sie entstehen zu lassen und für die Zustände im (rational gesteuerten) Tagesbewusstsein nutzen zu können, um sie sodann in kulturelle Praktiken der Erdgebundenheit einbinden zu können, muss eine kulturell anerkannte Tugend werden. 

Wir müssen erdgebundene Kunst in kulturelle Praktiken einbinden und in deutungshoheitliche Gewässer überführen. 

All die so erworbenen Erkenntnisse und Kräfte dürfen nicht unverbunden nebeneinander stehen bleiben, sondern es müssen gleichzeitig mit ihnen kulturelle Praktiken entstehen, in denen diese Erkenntnisse resonieren (von Resonanz), weiter aufblühen und in Sinnstiftungen gewoben werden können. Die Sinnstiftungen wiederum müssen immer wieder durch Rituale „geprüft“ werden, um so ihre Erdgebundenheit zu garantieren. In diesem Sinne muss es heißen: ist diese Praktik erdgebunden oder nicht? Führt diese Praktik zum Gefühl der Erdgebundenheit? Stört diese Praktik die Erdgebundenheit? Ja? Dann lasst uns schauen, wie wir sie in ihrer jeweiligen Eigenzeit (das kann auch über mehrere Menschengenerationen andauern) aus unseren Körper*innen bekommen können. 

Das Zulassen von Erfahrungen mit der Unklarheit kann dazu führen, dass wir Menschen quasi über unser europatriarchales Sein hinauswachsen, dass sich Körper und Geist und unsere Vorstellungen von der Welt weiter ausdehnen.

Wir brauchen Neugierde, um unseren Fähigkeiten hinter, über und unter dem europatriarchalen Gesellschaftsrahmen nachzuspüren und sie wiederzuentdecken. 

Wir sollten jede in uns resonierende Wissensvermittlung über die Welt anerkennen und wertschätzen und ihr nachgehen; egal ob das Wissen der Unklarheit oder dem rationalen Bewusstsein entstammt, solange sie Erdgebundenheit impliziert.

Die Aufmerksamkeit auf die lebende Welt zu richten, ist ein wichtiges Werkzeug. Was ich durch Donna J. Haraway gelernt habe, ist, dass es ein Werkzeug des Meisters ist, wenn wir Menschen uns immer nur mit uns Menschen beschäftigen, und auch nur in menschlichen Beziehungsweisen echte Liebe und Verbundenheit erkennen können. Seit Donna J. Haraways Motto „Make kin, not babies!“ haben sich immer mehr Denker*innen mit dieser Idee beschäftigt (es gab sicher auch schon Denker*innen zuvor; ich gehe hier jetzt von meiner eigenen Erkenntnis-Timeline aus), der eigenen Verwandtschaft mit anderen Arten nachzugehen. Eine davon ist Sophie Strand, die für „radikales In-Beziehung-Sein“ („radical interrelatedness“) wirbt und dies auch selber lebt und darüber schreibt. Nur so, sagt sie, können enge Beziehungsweisen im Bewusstsein von gegenseitiger Abhängigkeit mit der natürlichen Welt geschaffen werden. Dieses Nachspüren, Annehmen und Erforschen von Verwandtschaft mit anderen Arten – und zwar in Liebe und Verbundenheit; nicht nur über die distanzschaffende Beziehungskonstruktion Subjekt/Objekt – ist ein Werkzeug für das gute Leben in den planetaren Grenzen. 

Wie funktioniert „Zurück-Bindung“ an die Welt? Wir wussten darüber schon viel. Die Wirkung und das Gefühl beim Ausüben religiöser (eventuell von „re-ligare“ – zurückbinden“ abgeleitet) Praktiken und das Stiften gemeinschaftlicher Sinns über wiederholende Rituale und Feste, Singen, Zuhören, den Tod als Teil des Lebens zu integrieren usw., können uns viel erzählen, wenn sie nicht im Auftrage der Herrschenden unterwegs sind. 

Jede Tätigkeit hilft, mit der jede einzelne Person ihre je eigene Entfernung von der Welt verringert und so ihrer je eigenen Erdgebundenheit nachspürt. Die natürliche Welt und ihre ursprüngliche (primordial) Zeitspirale, die Eigenzeit der Lebewesen und Dinge muss wieder präsenter und dadurch realer werden. Wir lernen dann auch sehr viel über unsere je eigene Eigenzeit, unseren je eigenen natürlichen Rhythmus, mit welchem wir langsam unserem Herzbegehren näher kommen.

Beten könnte eine Kulturtechnik sein, die wir mit anderen Arten, z.B. mit Vögeln, teilen. Es ist unklar – oder besser: es liegt in der Unklarheit verborgen, ob das stimmt, aber die Praxis des gemeinsamen Betens selbst fühlt sich zumindest wahrheitlich an. 

Um diesen Text endlich fertigzuschreiben, habe ich die Vögel vor meinem Fenster in den letzten Tagen vernachlässigt. Ein Grünfink schaut mich vom Baumast an und lädt mich zum Zusammensein ein. Da leg ich mich nieder und fang mir einen Traum. (PeterLicht) 

You see the two black birds flying… flying high just to be together
When we face the music, it might help
You to the other side of a great divide
Fly together

I hear the two blue birds sing that song
Dee dee diddly yeah
My respects to the grand master for the lines such a pretty thing

How the melody abides

(Black Pumas: “More Than a Love Song”)

**********

Für diesen Artikel habe ich besonders mit folgenden Denker*innen und ihren Werken weitergedacht:

Donna J. Haraway: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Campus 2018.

Audre Lorde; Texte aus Sister Outsider. „Nicht Unterschiede lähmen uns, sondern Schweigen“. Hanser 2021; hier v.a. der Artikel „Die Werkzeuge des Meisters werden das Haus der Herrschenden niemals niederreißen.“

Timothy Morton: Ökologisch sein. Matthes und Seitz 2019, und All Art is Ecological. Penguin Books 2018.

Alle Podcastfolgen aus The Emerald von Joshua Schrei, die ich bisher gehört habe, sind hier eingeflossen, und das sind eine Menge, denn sie halten mich konstant in guter Weise unruhig und geben mir Ideen und Möglichkeiten des Auskundschaftens der Welt jenseits europatriarchaler Grenzen. In diesen Text sind in besonderer Weise viele Gedanken und ganze Ausschnitte folgender Podcastfolge eingeflossen: „Snail Juice & Bear Fat & Werewolf Moons (w/Leah Song of Rising Appalachia)“ vom 10.01.2022. 

Antjes Konzept der “gefährlichen Nähe” oder der “gefährlichen Nachbarschaften”, das sie nach einem ersten Aufkommen in einem Diotima-Treffen (Gemeinschaft italienischer Differenzfeministinnen) 2018 weitergesponnen hat, ist so inspirierend.

Sehr inspirierend war auch die Liedzeile „Something is happening here and you don’t know what it is” von Cat Power in “Ballad Of A Thin Man”.

Meine Kritik an den modernen Wissenschaften entspringt natürlich nicht nur meiner Körperin allein; ich verdaue vielmehr seit einigen Jahren Evelyn Fox Kellers Liebe, Macht und Erkenntnis. Männliche oder weibliche Wissenschaft? von 1986 (Original 1985), das für mich diesbezüglich ein Initiationserlebnis war, in dem ich Erklärungen für mein namen- und formloses Unbehagen gegenüber dem wissenschaftlichen Arbeiten fand. Ich verarbeite auch das Denken aus einigen Büchern von Isabelle Stengers und das sehr unruhig stimmende Buch Was würden Tiere sagen, würden wir die richtigen Fragen stellen? von Vinciane Despret von 2019 (original 2016) und das Denken von Robin Wall Kimmerer, Tyson Yunkaporta, Ailton Krenak und Bayo Akomolafe und sicher noch einige andere, an die ich mich gerade nicht erinnere.

Noch eine letzte Anmerkung:

Timothy Morton und Donna J. Haraway zusammen zu lesen, ergibt für mich einen Vulkanausbruch des Weiterdenkens. Es scheint, dass Haraways Denkspiralen jene von Morton entfachen. Strangerweise erwähnt er sie aber kein einziges Mal (, wenn ich es jetzt nicht nach zweimaligem Durchblättern doch noch übersehen habe). Dabei… also wenn er z.B. Begriffe wie „Symbionten“ benutzt, dann klingelt in mir alles nach „Donna J. Haraway“. Sicher benutzen auch andere diesen Begriff und was er impliziert; und auch Donna J. Haraway hat ihn nicht erfunden, sondern von Lynn Margulis übernommen, deren Arbeiten sie bewundert und ihr Denken entfacht haben. Ich habe in dem Text schon über die manchmal verblüffend ähnliche und dennoch zufällige Nähe oder Gleichartigkeit von Denkbewegungen gesprochen. Ich kann nicht beurteilen, ob Timothy Morton Donna J. Haraways Texte und Bücher wirklich nicht gelesen hat. Er erwähnt allerdings auch Lynn Margulis nicht. Das mutet irgendwie unsympathisch an, ich weiß, aber ich kann nichts dagegen tun, dass ich sein Denken liebe. Vielleicht, weil es in vielerlei Hinsicht meinem sehr nahe ist, mein oft unsicheres Denken bestätigt und mir Vertrauen gibt, an vielleicht etwas gewagten Stellen weiterdenken zu dürfen. Wenn es sich tatsächlich um eine Unterschlagung seinerseits handelt, dann habe ich hier hoffentlich ein bisschen dazu beigetragen, dass sein Denken – meines Erachtens! – nicht ohne das der beiden Denkerinnen gedacht werden kann. 

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