Forum für Philosophie und Politik
Von Susann Tracht
Im Zentrum der Kurzgeschichte steht ein BÄMM, eine Erschütterung, eine Unterbrechung des Alltags. Anfang und Ende sind abrupt. Kurz, reduziert und verdichtet, konzentriert erzählt die Kurzgeschichte von einem Konflikt (lateinisch confligere, „zusammentreffen, kämpfen“), der zu einem Wendepunkt im Leben der Protagonist*innen führt.
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Ann ist Dozent*in in einer Hochschule. Zusammen mit den Studierenden denkt und fühlt sie einem guten Leben für alle in der pädagogischen Praxis nach.
An einem frühkühlen und mittagswarmen Herbsttag ist sie in einem Kurs als Dozent*in für das Lernfeld Sprache eingeplant. Das Lernfeld an dem Tag umfasste 3 Blöcke a 90 Minuten in der Zeit von 8 Uhr bis 13.15 Uhr inklusive Pausen.
Die Unterrichtsplanung an dem Kurstag umfasst 3 Referate von insgesamt 5 Studierenden.
„Organische Voraussetzungen von Sprache“, „Sprachbaum“ und „Gender(n)“. Ann freut sich. Das wird ein interessanter Tag.
8.15 Uhr. Die 2 Studierenden, die den Vortrag halten wollten, sind nicht da. Sie und der Kurs verständigen sich auf eine Wartezeit von 15 Minuten.
8.30 Uhr. Ann nutzt die aktuelle Situation als Anlass, um mit den anwesenden Studierenden darüber zu sprechen, wie sie gemeinsam mit einer solchen Situation künftig umgehen wollen. Der Austausch ist produktiv. Es wird gemeinsam eine gute Lösung für die Zukunft gefunden.
8.45 Uhr. Ann startet den Unterricht mit Sprachübungen für Sprach- und Sprechbewusstheit.
Nach ungefähr 15 Minuten d.h. circa gegen 9 Uhr hört Ann wie Herr M. ihren Naaaaaaaaaaaamen ruft.
Ann, die zuvor zentral mittig in die Klasse geschaut und gesprochen hat, geht nun leicht rechts vor die Tischgruppe, an der Herr M. sitzt.
„Ja bitte, was möchten Sie sagen Herr M.?“. Er sagt nichts, sondern bewegt einen Lolli oder ähnliches zum Lutschen in seinem Mund auf und ab und schaut Ann dabei eindringlich an.
Ann erstarrt. Sie weiß nicht was sie sagen soll. Nach einem kurzen(?) langen(?) Moment(?) fragt sie „Haben Sie ein Frage oder nicht?“. Herr M. sagt nichts, sondern macht weiter.
Ann geht wieder vor den Kurs.
Nach weiteren Minuten hört sie wieder wie Herr M. ihren Naaaaaaaaaaaamen ruft. Wieder geht Ann vor die Tischgruppe, an der Herr M. sitzt. „Ja bitte?“ fragt sie. Er sagt wieder nichts, sondern bewegt seinen Lolli oder ähnliches zum Lutschen in seinem Mund auf und ab. Und wieder starrt er sie dabei eindringlich an. Ann fragt „Was wollen Sie mir sagen? Das der Lolli schmeckt?“. Er antwortet nicht, sondern bewegt weiter seinen Lolli in seinem Mund auf und ab und starrt.
Ann wendet sich ab und unterrichtet weiter.
Nach weiteren Minuten hört Ann wieder wie Herr M. ihren Naaaaaaaaaaaamen ruft. Wieder geht sie vor die Tischgruppe, an der Herr M. sitzt. „Ja bitte?“ sagt Ann. Auch diesmal sagt er nichts. Er bewegt seinen Lolli in seinem Mund auf und ab und fixiert Ann mit seinen Augen. Ihr kommt es vor als sei es „totenstill“ im Raum. Sie sagt daher nach einer kurzen(?) langen(?) Zeit „Danke für die Aufmerksamkeit, die Sie erzeugt haben. Ich kann jetzt gut ein neues Thema starten.“
Ann wendet sich ab und startet in ein neues Thema.
Wenige Minuten später steht Herr M. auf. Er kommt auf sie zu. Dabei starrt er sie wütend an. Ann erstarrt. Sie hält ihren Atem an. Kurz vor ihr biegt er Richtung Tür ab. Im Vorbeigehen fühlt sie seine Hand (?) an ihrem Körper (?), an ihrem Bauch (?). Körper, Bauch, Hand ?????????? Ann weiß nicht genau … was und wie. Sie ist weggetreten. Betäubt.
Den restlichen Unterricht erlebt sie wie in Trance. Sie funktioniert wie eine Maschine. Ihr kommt das Geschehene so unwirklich vor. Alles ist gedämpft. Verlangsamt.
Auf dem Weg nach Hause spricht sie eine Kolleg*in an. Ann erschrickt, denn sie ist nicht (mehr) da.
„Was ist los?“ fragt die Kolleg*in B. Ann erzählt. B ist erschrocken. „Das ist nicht in Ordnung!“ sagt B.
Erst jetzt stellen sich Gefühle bei Ann ein. Ihr Herz rast. „Ich schaffe den Weg nach Hause nicht.“ denkt und fühlt Ann. Wieder ist sie wie betäubt. Zu Hause bricht sie in Tränen aus. Ihr Körper zittert.
Am darauffolgenden Tag redet Ann mit ihren Chef*innen. „Ach, der Herr M.? Der ist doch an sich harmlos. Das hat er bestimmt nicht so gemeint.“ „Der steht bestimmt auf dich. Der hat sich nur ungeschickt im Flirten angestellt.“
Zwei Tage später geht Ann zur Polizei. Sie erstattet Anzeige wegen sexueller Belästigung. Auf der Anzeige steht „Beleidigung mit sexuellem Hintergrund“. Beleidigung auf sexueller Grundlage umfasst das Anfassen des Gesäßes oder der gezielte Griff zwischen den bekleideten Schritt, sexuelle Äußerungen verbal oder nonverbal.
4 Tage später findet ein Gespräch zwischen Herr M. und der Schulleitung statt. Herr M. gibt zu, dass er Grenzen schwer erkennt. Ihm wurde die Möglichkeit gegeben sich zu entschuldigen. Er ist weiterhin an der Schule. Entschuldigt hat er sich nicht.
Ann hat seitdem jedes Mal Angst vor die Kurse zu treten. Sie bricht „regelmässig“ vor dem Unterricht in Tränen aus. Hat Atemnot. Während des Unterrichts dissoziiert sie. Sie hat Schlafstörungen.
Sie ist jetzt in einer Traumatherapie. Er hat sie wegen Verleumdung angezeigt.
„Um den Tatbestand der Beleidigung zu erfüllen, muss die sexuell motivierte Handlung […] neben der Geschlechtsbezogenheit auch eine selbstständig beleidigende Komponente aufweisen. Diese fehlt jedoch, wenn die körperliche Berührung oder verbale Äußerung, das vermeintliche Opfer nicht herabwürdigen und in seiner Ehre verletzen sollte. Oftmals ist genau das Gegenteil einer sexuellen Beleidigung der Fall: Der vermeintliche Täter will viel mehr zum Ausdruck bringen, dass er sich zum vermeintlichen Opfer hingezogen fühlt.“ https://www.verteidigung-sexualstrafrecht.de/sexualstrafrecht/delikte/beleidigung-auf-sexueller-basis
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Kurzgeschichten „handeln davon, wie Figuren trotz aller Widrigkeiten eisern an ihrem Ziel festhalten und mit dem Mut der Verzweiflung darum kämpfen, ihr Problem zu lösen.“ (die-schreibtrainerin.de)