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Es ist an der Zeit: Wir brauchen einen Nobelpreis für Care-zentrierte Ökonomie

Von Ruth Kummer

Am Anfang des Lebens, wenn wir kleine Kinder sind, brauchen wir andere zum Überleben, nicht wahr? Und am Ende des Lebens, wenn du so wirst wie ich, dann brauchst du andere zum Überleben, nicht wahr?“…„Aber das Geheimnis ist: Dazwischen brauchen wir die anderen ebenfalls.“
(Morrie Schwartz)1

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) gilt als Kennzahl für die wirtschaftliche Leistung und den Wohlstand eines Landes. Als das BIP im und nach dem Zweiten Weltkrieg als „Goldstandard“2 für die Wohlstandsmessung eingeführt wurde, hatte man sich bereits darauf geeinigt, dass unbezahlte Leistungen, etwa private Care- und Haushaltstätigkeiten, in ihm nicht enthalten sein sollten. In den letzten Jahren gerät das BIP deshalb vermehrt in die Kritik, zumal auch immer deutlicher wird, wie viel Schädliches und Lebenszerstörendes Eingang findet, wenn Geld der einzige Maßstab für Wert und Wertschöpfung ist. Der Ökonom, Politikberater und Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz gestand in seinem Buch „Measuring What Counts“ ein, dass wir auch das Falsche tun werden, wenn wir das Falsche messen. Oder wenn wir etwas nicht messen, es zum Verschwinden bringen, so, als ob es nicht existieren würde.3

Unbezahlte Sorgearbeit. Sichtbar gemacht durch Unterlassen. (Foto: K. Oehlke)

Wie können wir das Richtige messen und das Richtige tun? In diesem Text möchte ich einen Vorschlag machen: Wir sollten den nächsten Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften einer Ökonom*in verleihen, die oder der Sorgearbeit nicht nur in die Wohlstandmessung einbezieht, sondern sie programmatisch in die Mitte allen Wirtschaftens stellt. Zum Beispiel Riane Eisler, Silvia Federici, Nancy Folbre, Jayati Ghosh, Tim Jackson, Mascha Madörin oder Marilyn Waring. Die Liste ließe sich verlängern.

Ein Nobelpreis würde selbstredend nicht alle Probleme lösen. Aber er könnte eine große, weltweite Wirkung entfalten und den Gruppierungen in der Wirtschaftswissenschaft Auftrieb geben, die sich schon auf den Weg in eine lebensfreundliche Gesellschaft gemacht haben.

Konstruierte und erfahrene Realität

Ich gehöre zu denen, die Jahrzehnte lang im bezahlten und unbezahlten Care-Sektor gearbeitet haben, als Pflegefachperson in unterschiedlichsten Settings und verschiedenen Ländern, als Tochter einer pflegebedürftigen Mutter und Schwiegertochter einer pflegebedürftigen Schwiegermutter – nicht Vollzeit, aber immer wieder -, als Ehefrau im Unternehmen des Ehemannes, teilweise in zwei Haushalten in zwei Ländern. Immer war mein Arbeiten begleitet von dem Gefühl, dass da etwas nicht stimmt.

Nach dem Tod meines Ehemannes wurde ich an meine eigene Endlichkeit erinnert und stellte mir die Frage, wie ich die Prioritäten neu gewichten möchte. Was mich schon länger an meinem Beruf gestört hatte, war die Ausbeutung weiblicher Fürsorgequalitäten. Ich begann, zum Thema „Menschlichkeit im Krankenhaus“ zu recherchieren und fand eine Weiterbildung im Fach Medizinethik, schrieb mich ein und löste damit einen Strom von Erinnerungen aus. Zur Ikone der Unmenschlichkeit wurde für mich eine Situation, in der durch Personalmangel keine Zeit war, hilfsbedürftigen Patienten Essen einzugeben: Ich rannte durch die Zimmer, mal bekam der eine einen Löffel in den Mund geschoben, mal die andere. In diesem Moment selbst hatte ich keine Zeit, angemessen zu reagieren, aber mein Körper hat ihn als „falsch“ gespeichert.

So wurde ich im Rahmen der medizin-ethischen Weiterbildung an unzählige Ereignisse aus meinem Arbeitsleben erinnert, schöne und schreckliche. Es wurde mir klar: In unserer von Konkurrenz, Leistungsdruck und einem vollkommen einseitigen Wohlstandsbegriff geprägten Gesellschaft fallen die noch nicht oder nicht mehr Leistungsfähigen durchs Raster. Sie haben keine Stimme. Und auch diejenigen, die Care-Arbeit leisten, bezahlt oder unbezahlt, vor allem Frauen, werden nicht beachtet, nicht repräsentiert und nicht gehört. Das ist logisch, wenn der große unbezahlte Teil dieser Arbeit, die wir in der Corona-Pandemie endlich als «systemrelevant» erkannt haben, vom BIP als nichts, als unproduktiv definiert wird.

Ich habe im Rahmen der Weiterbildung narrative Interviews mit Pflegenden geführt. Das Thema hieß „Menschlichkeit im Krankenhaus und im Gesundheitswesen“. Schon bevor diese Interviews als Buch erscheinen werden, kann ich die wesentlichen Aussagen aus den Gesprächen hier zusammenfassen:

Wir erfahren keine Wertschätzung.
Wir vermissen Ganzheitlichkeit.
Wir wollen gehört werden.

Bemerkenswert ist auch, dass die meisten meiner Gesprächspartner*innen ihren Beruf lieben, ihn aber nicht noch einmal wählen würden.

Menschenwürde statt Bruttoinlandsprodukt

“Aus menschenzentrierter Sicht müsste der Staat dafür zuständig sein, ein menschenwürdiges Leben für alle zu ermöglichen. Dies ist jedoch selten der Fall, denn die gängigen Ökonomien funktionieren nach der Logik der Rentabilität.”4

Das schreibt eine Autorinnengruppe, die Care nicht nur als systemrelevant, sondern als Friedensarbeit definiert. Sie hat Recht: Wenn staatliches Handeln wirklich auf das Wohlbefinden aller fokussiert ist, dann ist es auch für die Menschenwürde derer zuständig, die im Care-Sektor die unbestritten nützliche und notwendige Arbeit leisten, bezahlt oder unbezahlt. Frauen leisten ja weltweit nicht nur den größten Teil der unterbezahlten, sondern auch dreiviertel der unbezahlten Sorgearbeit.5 Die Logik des BIP hat aber dazu geführt, dass es gerade auch in den Care-Bereichen mehr und mehr Armutsbetroffene und working poor gibt, also Menschen, die arbeiten, aber dadurch ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten können. Immer mehr von ihnen sind auch im wohlhabenden Teil der Welt von sogenannten „Tafeln“ abhängig, wo sie mit Lebensmitteln versorgt werden, die aus Überproduktion stammen und die ohne die karitativen Vergabestellen im Müll landen würden. Das ist unwürdig, und es zeigt, dass die Staaten ihre Aufgabe nicht erfüllen.

Die US-amerikanische Psychoanalytikerin Jean Baker Miller hat schon im Jahr 1976 eine Erklärung für die ungleiche Verteilung und Wertung von männlichen und weiblichen Tätigkeiten geliefert:

Wenn die Gesellschaft die den Frauen zugewiesenen Gebiete für weniger wertvoll erklärt, kann sie nicht gleichzeitig den Frauen sagen, sie könnten oder sollten sich als vollwertige Personen fühlen; und wenn wir einer Person nicht das Grundrecht einräumen, ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein, dann behindern wir den Fluss ihrer psychischen Ausdrucksmöglichkeiten, im kleinen wie im großen, tausendfach. Der zweite wichtige Punkt ist, dass die Bereiche, die den Frauen als ihr Bereich zugeordnet sind, tatsächlich weder zweitrangig noch unwichtig sind. Doch weil man sie in der Weise definierte, haben sie für Frauen und Männer zu gewaltigen Problemen geführt; und die Beibehaltung dieser Aufteilung steht einer Lösung des Problems für beide Geschlechter im Wege.”6

“Da der Mann der Maßstab aller Dinge ist – also der Mensch als männliches und nicht als menschliches Wesen -, neigen wir alle dazu, uns an Männern zu messen. Wie Männer die Welt interpretieren, bestimmt uns alle, lenkt uns alle, sagt uns, was der Mensch sei.”7

Auch in den meisten staatlichen Institutionen sind nach wie vor Männer in der Mehrheit – zusammen mit Frauen*, die dazu neigen, «sich an Männern zu messen», statt eigene Maßstäbe für Wohlstand, Sicherheit und Frieden zu entwickeln.

Die notwendige Ehrung des Care-zentrierten Blicks auf die Wirtschaft durch einen Nobelpreis

Das herrschende Narrativ in der Wirtschaft kreist um ein Menschenbild, das sich an traditionell männlichen Lebenswirklichkeiten orientiert: den homo oeconomicus. Dieser Modell-Mensch ist als «unabhängig» gedacht und fällt stets rein rationale Entscheidungen zur Steigerung des eigenen Nutzens, worin auch immer der bestehen mag. Diese Parteilichkeit für eine beschränkte Vorstellung menschlichen Verhaltens führt konkret zu Konkurrenz und Leistungsdruck und einem Streben nach immer mehr, immer besser, immer weiter. Sie führt unseren unersetzlichen Planeten und damit uns Menschen an unsere Grenzen.

Es liegt auf der Hand: Wenn die Hälfte der Menschheit ignoriert und wenn ihren lebenserhaltenen Tätigkeiten kein Wert zugesprochen wird, wenn stattdessen ein Maßstab absolut gesetzt wird, der die negativen Auswirkungen profitgetriebener Handlungen systematisch übersieht, dann stimmt etwas gewaltig nicht.

Dass das herrschende Narrativ nur eins unter anderen ist, wird ausgeblendet. Dass Menschen oft anders handeln, als die Fiktion des homo oeconomicus vermuten lässt, hat die Corona-Pandemie gezeigt: Da rückten plötzlich Versorgung und Fürsorge ins Zentrum. Es wurde sichtbar, dass es die Berufe mit geringem Ansehen sind – Pflegepersonal, Supermarktmitarbeiter*innen, Müllentsorger, Reinigungskräfte – die die Menschheit wirklich braucht.8

Und was soll nun ein Wirtschaftsnobelpreis bewirken, der die ungesehene und ungezählte Arbeit von Frauen in den Fokus rückt? – Er würde dazu beitragen, weltweit die Aufmerksamkeit auf eben die Leistungen und Tätigkeiten zu lenken, die Grundlage für alles andere sind. Er würde uns der Einsicht näherbringen, dass ohne Fürsorgetätigkeiten kein menschliches Leben möglich ist. Er würde Ungleichheit und Ungerechtigkeit ins Licht stellen – und gleichzeitig das gute Leben auf dem bedrohten Planeten Erde, das wir haben könnten. Er könnte zu einem neuen Nachdenken über Wirtschaft animieren: über das, was es wirklich braucht, damit es eine gute Zukunft für die Menschheit gibt.

Quellen

  1. In: Mitch Albom (2002), Dienstags bei Morrie. Die Lehre eines Lebens, München (Goldmann) 179. ↩︎
  2. Dieter Schnaas (2013), BIP BIP Hurra! In: Wirtschaftswoche vom 10. Nov. https://tinyurl.com/yedta8ye ↩︎
  3. Joseph E. Stiglitz, Jean-Paul Fitoussi, Martine Durand (2019), Measuring what counts: The Global Movement for Well-Being, New York (The New Press) XXXI (Einleitung, Kindle Version). ↩︎
  4. cfd, FriedensFrauen weltweit, KOFF (2013), Kein Frieden ohne Care-Arbeit: Care-politische Reflexionen zum Vierten Schweizer Nationalen Aktionsplan zur Implementierung der Resolution 1325 des UN-Sicherheitsrates (NAP 1335) in: Uta Meier-Gräwe, Ina Praetorius, Feline Tecklenburg Hrsg., Wirtschaft neu ausrichten, Care Initiativen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Opladen, Berlin, Toronto (Barbara Budrich Verlag) 195-206, hier: 201. ↩︎
  5. Ebd. 202. ↩︎
  6. Jean Baker Miller (1980): Die Stärke weiblicher Schwäche. Zu einem neuen Verständnis der Frau, Frankfurt a. M. (Fischer) 113. ↩︎
  7. Ebd. 105 ↩︎
  8. Vgl. Tim Jackson (2021), Wie wollen wir leben? Wege aus dem Wachstumswahn, München (Oekom), 152, 167f. ↩︎

Autorin: Ruth Kummer
Redakteurin: Kathleen Oehlke
Eingestellt am: 16.03.2024
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