Forum für Philosophie und Politik
Von Dorothee Markert
Seit wir über Weihnachten in den Süden fliegen, treffen wir jedes Jahr im Flughafen zwei Frauen, die dasselbe Ziel haben wie wir. Jedesmal ist es eine Überraschung und eine Freude, und wir reden eine Weile miteinander, bis wir weiter müssen. Doch dieses Jahr kam kein Gespräch zustande. Auf die Frage, wie es denn so gehe, antwortete meine Frau: „Wir hatten beide heftig Corona.“ Eine der beiden Frauen sagte daraufhin: „Corona existiert für mich nicht. Das gibt es nicht“. Als meine Partnerin insistierte, dass es uns wirklich schlecht gegangen war und wir uns immer noch nicht richtig erholt hatten, fragte unser Gegenüber nur: „Na, und geimpft?“ Und lachte. Beim späteren Nachdenken über diese Situation zählten wir auf, was bei diesem Aufeinandertreffen unangemessen gewesen war. Die Reaktion war unbezogen, ohne jegliches Einfühlungsvermögen, völlig gleichgültig gegenüber dem, was uns passiert war. Wichtig war nur das Rechthaben und eine Verachtung, die bis zur Schadenfreude ging.
Ich überlegte später, ob das, was wir genannt hatten, vielleicht typische Erkennungsmerkmale dafür sein könnten, dass wir es statt mit einer menschlichen Begegnung mit einer Ideologie-Begegnung zu tun gehabt hatten.
Bei Corona-Leugner:innen ist das Ignorieren oder Bezweifeln einer Realität, die andere wahrnehmen bzw. erleiden, als Kennzeichen eines ideologieverformten Blicks ja leicht zu erkennen. Ganz anders bei meinem nächsten Beispiel, meiner Mitarbeit in unserer Ortsgruppe von Fuss e.V., einem Lobbyverband für Fußverkehr. Da ich jahrelang gestöhnt hatte, Fußgänger:innen hätten halt keine Lobby, war ich sehr froh, als ich Fuss e.V. entdeckte und schließlich sogar einer Ortsgruppe in meiner Nähe beitreten konnte. Ich freute mich darauf, mit anderen zusammen etwas zur Verbesserung der Situation der Zu-Fuß-Gehenden tun zu können, mich vor allem für besser geschützte Geh- und Fußwege einzusetzen. Und natürlich war mir auch wichtig, mit meinem Engagement zu einer Verkehrswende beizutragen, also etwas gegen die Klimakatastrophe zu tun.
Mit großem Schwung brachte ich mich in die kleine Gruppe ein, die damals nur aus dem Gründer und zwei Freundinnen von ihm bestand. Da mir alle drei sympathisch waren, dauerte es mehr als zwei Jahre, bis ich mir eingestehen konnte, dass ich als von mir selbst ausgehend denkende und handelnde Aktivistin in dieser Gruppe nicht willkommen war, dass ich systematisch vom Gründer ausgebremst wurde, meine Beiträge in den immer von ihm verfassten Protokollen unterschlagen, die von mir vorgeschlagenen Tagesordnungspunkte „vergessen“ wurden. Das ging so weit, dass einmal sogar Dinge im Protokoll standen, die so gar nicht besprochen worden waren, aber die „Linie“ des Gründers unterstrichen. Denn auf keinen Fall wollte er zulassen, dass die Probleme angesprochen wurden, die Fußgänger:innen mit Radfahrer:innen haben, die in unserer Stadt mit großer Selbstverständlichkeit und ohne jede Rücksichtnahme auf Gehwegen fahren, so dass vor allem ältere Menschen sich dort oft schutzlos fühlen und Angst haben müssen, einfach über den Haufen gefahren zu werden, was auch schon mehrmals passiert ist. Wenn ich solche Dinge ansprach, wurde ich jedesmal belehrt, dass mein „Kampf“ gegen Radfahrer:innen der falsche Weg sei, denn es gehe doch um politische Veränderung, darum, gemeinsam die Verkehrswende voranzubringen. Und dabei müssten wir gegen den motorisierten Individualverkehr kämpfen und dafür sorgen, dass den Autofahrer:innen Verkehrsflächen weggenommen werden zugunsten des Radverkehrs. Wenn es dann genug und bessere Radwege gebe, bekämen auch Zu-Fuß-Gehende wieder ihre geschützten Räume. Ich wusste, dass das nicht stimmt, denn immer wieder erlebte ich es, dass auf Gehwegen geradelt wurde, obwohl direkt daneben eine Fahrradstraße oder ein Radweg verlief. Manchmal hätte man die Straße überqueren müssen, um den Radweg in der richtigen Richtung zu befahren, stattdessen wurde einfach der Gehweg entgegen der Fahrtrichtung genutzt.
Dass ich es auch hier mit einer Ideologie-Begegnung zu tun hatte, wollte ich lange nicht wahrhaben, da der, der sich auf unauffällige Weise, aber letztlich knallhart in der Gruppe durchsetzte, so ein netter, freundlicher und engagierter Mensch war, dem ich in vielen Punkten zustimmen konnte.
Geholfen hat mir beim Ideologie-Erkennen die Parallele zu Argumentationsweisen von Genossen in einer linken Hochschul-Basisgruppe während meines Studiums, als wir, drei Frauen aus der Gruppe, nach der Lektüre von frühen Texten amerikanischer Feministinnen, mit Frauen “arbeiten”, also sie “politisieren” wollten. Die Genossen waren strikt dagegen, denn sie befürchteten, dass wir “den Nebenwiderspruch zum Hauptwiderspruch” machen wollten. Und sie predigten uns nochmals, was wir natürlich längst in zahlreichen Schulungen “eingesehen” hatten: der Nebenwiderspruch (zwischen Frauen und Männern) würde sich auflösen, sobald der Hauptwiderspruch (zwischen Kapital und Arbeit) nach der Revolution aufgehoben wäre, in der sozialistischen Gesellschaft. Wir gründeten trotzdem bald danach die erste Frauengruppe in unserer Stadt. Und ich dichtete das Arbeiterkampflied “Und weil der Mensch ein Mensch ist” folgendermaßen um:
Auch wenn andere schlimmer unterdrückt sind, ist’s unsere Lage, die uns erst angeht.
Und wenn wir erst wissen, was Widerstand heißt, geht weiter unsere Solidarität.
[…] , riskieren wir keinen Betrug, wir wissen, es ist wichtig genug.
Unsere Lage, das, was jetzt geschieht, im Nahbereich, was wir erleben und vor Augen haben, nicht ein vages Versprechen für die Zukunft. Jetzt erschrecke ich regelmäßig, wenn ich beinahe gestreift werde von rasenden Radler:innen, ich gehe nicht mehr gern in die Stadt, weil ich auf Gehwegen nicht mehr entspannt gehen kann. Und das trifft Menschen mit Behinderung oder noch höherem Alter zweifellos noch stärker. Weil mit Argumenten gegen Ideologie nicht anzukommen ist, habe ich mich nun schweren Herzens entschieden, für mein Engagement für fahrradfreie Gehwege einen anderen Kontext zu suchen oder einfach allein weiterzumachen.
Bei der Erinnerung an meine Zeit in der Linken erkenne ich auch, was der Gewinn sein kann, wenn man es zulässt, dass das eigene Wahrnehmen und Denken ideologisch wird. Weil das, was wir in den zahlreichen Schulungen und beim Lesen der verordneten Texte lernten, mir ein einfaches, klares Gerüst zur Verfügung stellte, in das ich alles, was geschah, einordnen konnte, war ich plötzlich in Diskussionen allen anderen überlegen, oder fühlte mich zumindest so. Ich hatte immer Recht und fühlte mich auch als besserer Mensch als die anderen, die “noch nichts begriffen hatten”. Während ich vorher gehemmt, unsicher und sozialphobisch gewesen war, so dass ich oft kaum den Mund aufbrachte, und mich eher in Tagträumen verlor, als mich wirklich zu engagieren, gab mir nun der Auftrag, andere “für die Revolution zu gewinnen”, mehr Selbstsicherheit. Beispielsweise wenn es uns zu zweit oder zu dritt gelang, Seminare “umzufunktionieren”, also dafür zu sorgen, dass dort über die Themen geredet wurde, die uns wichtig waren. Auch Entscheidungen fielen mir nun leicht, beispielsweise der Wechsel meines Studiengangs. Es war ja klar, dass ich an die Hauptschule gehen würde, um “mich mit der Arbeiterklasse zu verbinden”. Ein richtiges Highlight war meine erste Abschlussprüfung. Sie fand vor Publikum statt, da wir durchgesetzt hatten, dass mündliche Prüfungen auf Wunsch öffentlich sein konnten. Der Prüfer, ein junger Pädagogikprofessor, beendete die Prüfung vorzeitig und gab mir die Bestnote, da ihm nach meinen so selbstsicher vorgebrachten Äußerungen keine Fragen mehr einfielen. Leider dauerte es nach dem Ende meiner linken Zeit noch lange und erforderte viel Therapiearbeit, bis jenes ideologiegestützte Selbstwertgefühl zu echtem Selbstwert wurde.
Meiner Erfahrung nach ist es nicht möglich, ideologiegesteuerte Menschen in irgendeiner Weise zu beeinflussen oder zu überzeugen. Doch wie man an meiner Geschichte sieht, besteht zumindest die Hoffnung, dass sie sich früher oder später selbst aus diesem Denken herausarbeiten. Und dann können wir ja vielleicht wieder Kontakt miteinander haben.
Geschätzte Dorothee, nicht nur eine Corona-Leugnerin, hast du da getroffen, sondern eine Schwurblerin, eine Gefährderin, eine Sozialdarwinistin, eine Egoistin und Unsolidarische u.a.m. Ich möchte damit sagen, dass die „Ideologie-Begegnung“, wie du sie bezeichnest, nicht im luftleeren Raum stattgefunden hat, sondern im Zusammenhang des Spaltklimas der Corona-Krise. Auch wenn diese Zeit bereits historisch ist, wirkt sie nach und eine politische Aufarbeitung zu den gesellschaftlichen Verwerfungen findet bis heute nicht statt. Im Kleinenräumigen und Persönlichen ist ein Aufarbeiten bis anhin nur sehr selten möglich. Es begegnen sich zwei Wahrnehmungen und beide sind überzeugt, auf der richtigen Seite zu stehen und die Wirklichkeit richtig einzuschätzen. (Damit verteidige ich nicht das beschriebene Verhalten dieser Frau, das unhöflich, unpassend und frech war! Nicht aber ohne Bezug.) Wie jemand dazu kommt, die Existenz des Corona-Virus, neben ideologischen Gründen, abzulehnen, wäre vielleicht eine interessante Frage? Beide Seiten sollten das eigene Denken hinterfragen und so aufeinander zugehen und ins Gespräch kommen. Denn, wenn es keine gemeinsame Verständigung mehr darüber gibt, was eigentlich vor sich geht, gibt es gibt keine gemeinsame menschliche Welt, sagt Hannah Arendt
Liebe Dorothee, es menschelet halt allerorten. Nun muss man darüber nicht verzweifeln:
Es gibt Menschen, denen man vertrauen kann, und solche, denen man nicht vertrauen sollte.
Mit zunehmenden Alter wächst die Menschenkenntnis und man erkennt früher als vorher,
mit wem man es zu tun hat, und es wächst der Mut auch mal “Nein” zu sagen. Schlimm wäre
eine unzulässige Verallgemeinerung; es sind nicht alle schlecht. Da hilft das dialektische Gebet:
“Lieber Gott, gib mir das Vermögen, Dinge zu ändern, die zu ändern sind; gib mir Kraft, Dinge
zu ertragen, die nicht zu ändern sind, und gib mir die Weisheit zwischen beiden zu unterschei=
den!”