Forum für Philosophie und Politik
Heute wird es gar nicht richtig hell. Es ist Anfang Dezember, ich schreibe, die Schneeflocken fallen auf Hügel, Dächer, Balkonpflanzen und Vogelfuttereinrichtungen. Einige Äste unseres Baumes vor Wohn- und Arbeitszimmer neigen sich unter dem Schnee ein bisschen zu mir.
Der erste dunkle Tag kam spät dieses Jahr. Der Herbst blieb lange sonnig, und die meisten um mich herum feierten das; kurzärmelig mit Aperol Spritz in der Hand bis Anfang Oktober. Eine meiner Klimaängste bemächtigte sich meiner mal wieder: was, wenn es dieses Jahr keinen tagelang währenden Herbstregen mehr gibt? Bitte lass es nicht schon dieses Jahr beginnen, lass den Klimawandel den ungemütlichen Dauerregen bitte nie wegnehmen, bitte… auf gar keinen Fall darf er dieses Jahr ausfallen, sonst falle ich in eine tiefe Depression! Mein Gebet wurde zum Glück erhört. Endlich! Da war er, der erste kalte, graue Regen!
Nicht erst in den letzten Jahren habe ich beobachtet, dass immer, wenn viele ins Jammern verfallen über Kälte, Nässe, Dunkelheit und beginnende Herbst-Winterdepression, ich hingegen beginne, in purer Wohligkeit aufzugehen. Je dreckiger das Wetter, desto jubeliger und grinsiger werde ich, desto tiefer und ruhiger werden die Atemzüge. Ich darf mich endlich wieder in die dunklen, aber supergemütlichen Ecken der Wohnung verdrücken ohne schlechtes Gewissen, ich verliere den letzten Sommerspeck vom vielen Eisessen, Pommes rotweiß und Alkoholtrinken, ich kann meiner Kohlvorliebe frönen – Blumenkohl, Rosenkohl, Weißkohl, Wirsing, her mit euch in Dankbarkeit!… ich habe das Gefühl, ich finde mich endlich wieder, nach all dem Licht, nach all dem Draußensein und Spaßhaben und Lautsein.
Endlich ist wieder die Zeit gekommen für das Eintauchen in die Dunkelheit. Der erste kalte Herbstregen wirft jede Person irgendwie auf sich selbst zurück. Für viele fallen nun all die kleinen shiny Details des Sommers von einem Moment auf den anderen in eine sehnsuchtsvolle Erinnerung. Die Leichtigkeit verfliegt. Die Seufzer füllen sich mit Schwere, Melancholie und schlechter Laune.
Ich weiß nicht genau, was bei mir zu Leben erwacht, sobald es kalt und dunkel wird. Was steckt im Zur-Ruhe-Kommen, im Langsamwerden, im Verkrümeln, im Einmummeln? Es ist eine Form des Kleinmachens, des Nicht-Scheinen-Müssens: im Dunklen muss ich nicht und will ich nicht einflussreich wirken oder Macht ausstrahlen, muss ich niemandem etwas beweisen usw. usf. Licht – so Clark Strand in seinem wundervollen kleinen Buch Waking Up to the Dark – lädt zum Vergleichen ein. Es zeigt alles mit scharfen Umrissen. Es bewirbt das Neue, Reiche und Schöne und richtet sich damit gegen das Alte, Gewöhnliche und Arme. (vgl. S.xv)
Vielleicht ist das meine Assoziation: dass im Sommer alles so auf dem Präsentierteller liegt: die Gedanken, die gedacht werden wollen, die Schönheit, die betrachtet werden will, das Gespräch, das geführt werden will und sich fast ausschließlich auf das im Licht Befindliche richtet. Gedanken liegen und fliegen im Sommer mehr an der Oberfläche; kein Wunder, es ist ja auch heiß und grell. Im Sommer strahle ich nicht für mich; ich strahle für andere, ich bin ständig sichtbar und ausgestellt, oft sogar im Bikini. Im Sommer finde ich mich beim Nägellackieren wieder, überlege, ob ich doch mal anfangen sollte, die Haare zu färben, ob ich auf das Eis verzichten könnte usw. usf.
Auch das alles macht mir Spaß und hat sein Recht und seine Richtigkeit. Aber alles zu seiner (Jahres-)Zeit. Wenn sich der Sommer dem Ende zuneigt, fühle ich schon, wie die Lichtmüdigkeit sich in mir nur noch schwer zurückhalten kann und hochploppen will. Es fühlt sich an, als ob im Sommer versteckte, unsichtbare und unfühlbare Seiten von mir nun endlich wieder Gefühlsräume einnehmen wollen. Vielleicht ist es die Seele, die endlich wieder erscheinen können möchte. Schon interessant, dass unsere Sprache immer mit Licht füllt, was wir denken und fühlen: Wir „beleuchten“ etwas, etwas „erscheint“, etwas „erstrahlt“, wird „klar“, „klärt sich“, wird „erhellt“… es geht noch so weiter. Auch bei der folgenden Frage: Was würde zum „Vorschein“ kommen, wenn wir uns die Dunkelheit wieder etwas mehr aneignen, ja sie in gewisser Weise zurückerobern würden? Wir sehen schon (selbst „sehen“ ist eigentlich ein Lichtwort… außer, wir lernen wieder in der Dunkelheit sehen): unsere Sprache, unsere Kultur möchte mit manischem Willen alles gern bei Licht betrachten – am liebsten auch die Dunkelheit… und schon ward wieder Licht.
Aber nein, ich möchte für diesen Text zumindest gedanklich in Dunkelheit verbleiben, auch wenn die Sprache mir wohl noch öfter heimlich das Licht anknipsen wird. Um noch einmal auf die Seele zurückzukommen… ich habe das Gefühl, dass sie erst in den dunklen Monaten wieder erwachen kann. Vielleicht würde sie auch im Sommer dunkle Töne anstimmen. In der lichtvollen Weltbetrachtung aber wollen wir Europatriarch*innen Leichtigkeit fühlen und dabei den Tod vergessen. Wir feiern im Sommer nur das Leben. Die Seele verkrümelt sich. Denn für sie – so schätze ich die Seele jedenfalls ein – gehört Leben und Tod einfach zusammen; sie blendet den Tod nie aus, auch nicht im Sommer. Und vielleicht ist es ja ein bisschen so: wenn die Tage wieder kürzer werden und früher in die Dunkelheit kippen, kommt in allen von uns die Erinnerung an den Tod in der ein oder anderen Weise zurück. Viele von uns mögen das nicht; es fühlt sich an wie zurückgeworfen werden zu etwas, aus dem man sich den ganzen Sommer herausgearbeitet hat. Oder?
Und es ist nicht nur eine Frage von Tag und Nacht und Winter und Sommer. Es ist auch eine gesellschaftliche Entscheidung für das Licht, für das Tagesbewusstsein seit vielen Jahrtausenden, das die Seele in gewissem Sinne hat steril werden lassen. „Wir können unsere Seelen bei Tageslicht nicht finden, seit wir sie in der Nacht verloren haben“, sagt Clark Strand. „Sie versteckt sich vor der Zivilisation: vor Ordnung, Intellekt, Klassifikation, Bezifferung, Quantifikation, Kodifizierung usw. Die Seele gehört zur Körper*in, aber sie wurde verjagt durch den Impuls des Dominierenwollens.“ (S. 89f.) Nur im Dunklen erinnere ich mich an meine Seele. Ich benutze das Wort in diesem Text ganz selbstbewusst und frage mich nicht groß, was die Seele eigentlich ist und ob es sie überhaupt gibt. Ich nenne das Seele, wer oder was in mir erwacht, wenn der erste Herbstregen mindestens acht Stunden am Stück nicht verklingt, wenn die Temperatur dabei ungemütlich unter 10 Grad kriecht und wenn die Menschen die Straßen missgestimmt den tanzenden Pfützen und Regentropfen überlassen.
Ihre schlechte Laune rührt entweder daher, dass sie doch rausmüssen, obwohl sie sich lieber in ihre dunklen Ecken verkrümeln wollen würden. Sich verkrümeln können ist in dieser Gesellschaft zweifelsfrei ein Privileg. Aber es ist eben manchmal auch ein mögliches, aber ungenutztes Privileg. Will heißen: Die Zeit könnte durch ganz bewusste Entscheidungen – beispielweise weniger Zeit in Erwerbsarbeit zu stecken und ergo weniger Geld zu verdienen (und dann immer noch ein gutes Leben zu haben) – beispielsweise zum Verkriechen ins Dunkle genutzt werden. Es ist dann eine Frage der Priorisierung und dessen, was Leute für wichtig erachten.
Die schlechte Laune von Leuten könnte aber auch daher rühren, dass sie große Unruhe verspüren und unbedingt raus ins Licht wollen, damit sie ja nicht mit ihrer Seele allein in einer dunklen Ecke verbringen müssen. So oder so ist unser europatriarchal geprägtes Leben daran schuld, dass sich die Menschen nicht freiwillig verkrümeln (dürfen).
Auch ich bin ein Kind dieser Gesellschaftsordnung. Denn auch wenn ich mich alle Jahre wieder gut gelaunt in den ersten grauen Herbstregen fallen lassen kann, den Rhythmus wechseln und andere Sinne erwachen lassen kann, schaffe auch ich es noch nicht, ganz in mir in der Dunkelheit zu ruhen. Irgendeine Unruhe haut mich immer raus. Vielleicht ist es eine Form der Angst, etwas entdecken zu können, was größer ist, als ich momentan ertragen kann. Oder glaube, ertragen zu können, weil es wenig kompatibel mit meinem Leben im Europatriarchat sein könnte.
Bis zum Schreiben dieses Textes dachte ich, meine latente Abneigung gegen Sonne im Sommer käme nur daher, dass ich schon als Kind bei schönem Wetter gefühlt nie zur Ruhe kam. Die Anforderungen und Ansprüche an mich bei Sonne im Frühjahr und Sommer damals als Kind und heute als Mutter sind dabei irgendwie gleich geblieben. Da gibt es diesen ewigen Imperativ: Sonne???! OMG!! Schnell schnell, raus! Geh draußen spielen und komm erst zum Abendessen wieder!/Bespiel deine Kinder draußen! Bei so einem schönen Wetter bleibst du nicht drin (es könnte ja schon morgen wieder regnen!)/musst du mit deinen Kindern raus (es könnte ja schon morgen wieder stürmen!)! Sonst bist du ein blasse Stubenhockerin, die sich viel zu wenig bewegt/ eine BadLazyMum, deine armen Kinder haben nicht die Chance, sich in der Sonne zu bewegen! Geh an den Strand, geh ins Freibad! Nimm schon morgens alles mit, weil sich der liebe lange Tag von vorne bis hinten in Wärme und Helligkeit abspielen wird!
Dieser Sonnenimperativ lastet schwer auf mir. Ich blinzle in die Sonne, die Augen beginnen zu tränen und schmerzen, bitte, können wir Stühle tauschen, Sonne im Gesicht ist nicht so mein Ding… Danke.
Wirklich, ich liebe auch Frühjahr und Sommer, nicht falsch verstehen! Es fehlt mir nur was, und was genau das ist, daran erinnere ich mich manchmal auch erst, wenn die Tage wieder lichtärmer werden.
In meinen knapp drei Jahren in der Karibik befand ich mich in einer Art Lichtdelirium. Keinen Tag will ich missen: die niemals künstliche Wärme, die Herzlichkeit und Offenheit, das viele Lachen, der feine und der grobe Humor, die Sprache, die Musik, das Tanzen, die ganz besondere Form der Leichtigkeit trotz der teils immensen Schwere des Alltags und der Schicksale… es klingt nach Klischee, I know, aber das ist meine Erinnerung an diese Zeit. Ich hatte auch immer das Gefühl, dass viele Menschen dort die Dunkelheit viel besser kennen und ins Leben integrieren als wir. Salsa zum Beispiel kennt die Dunkelheit, nährt sich aus ihr. Jedenfalls empfinde ich das so. Die Tänze lassen die Sehnsucht der Menschen zu, dicht beieinander zu sein. Dieser Sonnenseite, die fähig ist, auch das Dunkle in sich zu tragen, bin ich sehr zugetan.
Nach drei Jahren aber… vielleicht hatte es auch mit meiner ersten Schwangerschaft zu tun… begann ich mich nach der Herbst- und Winterdunkelheit zu sehnen. Ich war satt von Sonne, ich hatte das Gefühl, genug getankt zu haben für die nächsten Jahre oder sogar Jahrzehnte. Ein merkwürdiges Gefühl.
Als endlich wieder der kalte Novemberregen auf mich und zum ersten Mal auf mein dick eingemummeltes Töchterchen im Kinderwagen prasselte, hatte ich das Gefühl, irgendwo tief in mir wieder anzukommen. Ich machte mein Baby vergnügt mit dem Novemberregen bekannt. Wie eine der eingeladenen Feen bei Dornröschen wünschte ich ihnen, dass sie sich gut verstehen und sich ein Leben lang begleiten. Natürlich alles zu seiner (Jahres-)Zeit. (Den letzten Satz hat meine Klimanotstandsangst erst in den letzten Jahren meiner Erinnerung hinzugefügt.)
Warum habe ich über meine Beziehung zur Dunkelheit nicht früher tiefer nachgedacht? Und warum habe ich mich nicht schon früher viel bewusster in die Dunkelheit fallen lassen, ganz ohne schlechtes Gewissen und Ausreden? Klar, weil auch ich im Jahresende-Run war und weil sich die Rush-Hour des Lebens als karriereambitionierte Mutter auch nicht Weihnachten verlangsamt. Aber dieses Jahr ist alles anders. Aus vielfältigen Gründen habe ich dieses Jahr keinen Stress. Sogar die Fotokalender sind bereits gebastelt. Ich habe Zeit. Zeit für reine Kontemplation. Ich vertiefe mich in den blassen Tag. Ich schaue durch das Grau hindurch. Ich begrüße das frühe Dunkelwerden mit einem Lächeln. Ich zünde Kerzen an schon vor dem ersten Advent. Ich schaue vom Buchlesen und Notizenmachen und Schreiben hoch und lächle in den Regen. Heute atme ich aus meinem ausreichend warmen Arbeitszimmer in dicke Schneeflocken hinein.
Und ich nutzte die frei gewordene Zeit, um meine Sehnsucht nach Dunkelheit ein bisschen besser zu verstehen und ihr hinterherzufühlen. Und dabei fand ich eher zufällig – „um nichts zu suchen, das war mein Sinn“ (ich will aus dem Gedicht eigentlich nicht mehr zitieren, weil…, aber… es rutscht mir ständig über die Lippen, die Zeile passt so gut… und ich entscheide mich jetzt und hier für’s Aneignen in meinem Sinne… vielleicht würde ich einen anderen Tag anders entscheiden) – das wundervolle Buch Waking up to the Dark von Clark Strand (das ist der Vater von Sophie Strand, über deren Schreiben und Denken ich auch regelmäßig in Bewunderung verfalle). Hier bekam ich mehrere Klarheiten: erstens, dass ich mir in den letzten Jahren lediglich eingeredet habe, dass mein Hang zur Dunkelheit zum einen vom Sonnenimperativ meiner Kindheit und zum anderen von der tief in mir sitzenden Klimanotstandsangst herrührt. Zweitens, dass meine Sehnsucht nach Dunkelheit ebenso wenig nur von der Sehnsucht nach einem tieferen Erkennen meiner Selbst herrührt, sondern dass ich mit ihr und in ihr erst die Welt in ihrer Ganzheitlichkeit erfahren kann (, wenn ich denn eines Tages den Mut dazu haben sollte). Und drittens – eng gekoppelt an zweitens – wurde mir bewusst, dass die Dunkelheit mit ihrem Öffnen und Bereitstellen anderer Bewusstseinsformen einen Pfad in die planetaren Grenzen offenlegt.
Wenn ich immer nur (künstlichen) Lichtzuständen ausgesetzt sein müsste, würde ich depressiv werden. Ach, was staple ich tief, wir wissen es ja: nach nur wenigen Tagen ohne Schlaf – also ohne uns in einen anderen Bewusstseinszustand zu begeben – würden wir alle sterben. Ich denke, mit der Welt verhält es sich ähnlich: Wenn wir sie ausschließlich mit menschlichem (Tages-)Bewusstsein bei künstlichem Licht betrachten, so wie wir das seit langer Zeit tun, dann führt uns das nicht nur als kleines schlafloses, dunkelheitsvermeidendes Individuum in die Zerstörung, sondern als ganze Menschheit.
Meine Körperin und die Welt sind miteinander verbunden. Meine Körperin wusste von der Zerstörung schon als kleines Kind; lange bevor ich mir das rational und tagesbewusst aufbereitet hatte. „Wir alle wissen, dass etwas falsch ist.“ (Auch Clark Strand beginnt einen Absatz mit diesem Satz. S. 84) Alle Körper*innen wissen das. Sie kennen andere Bewusstseinszustände, denn sie befinden sich oft in anderen Bewusstseinszuständen. Und sie wären fähig, weit mehr auszudrücken und uns weit mehr erfahren zu lassen, wenn wir sie nur ließen. Aber sie können nichts dagegen tun, dass wir bei Tage nur betrachten, was uns auch bei Tage bewusst wird und uns am Tage nützt. Sie können nichts dagegen tun, dass wir alles andere wegschließen, verkümmern lassen und nicht ernst nehmen.
Der 31. Oktober ist dafür ein gutes Beispiel: es ist der Tag und die Nacht von Halloween und der Beginn der Días de los Muertos in Mexiko. An diesem Tag und in dieser Nacht, sei – so die uralten Überlieferungen – die Grenze zwischen den Welten, die die Toten von den Lebenden trennt, offen; läge die Grenzwelt zwischen Lebenden und Toten besonders eng zusammen. Während die Mexikaner*innen mit ihrem Fest ihre Toten begrüßen und gemeinsam mit ihnen feiern, zelebriert Halloween eher die Angst vor den Toten und Geistern dieser anderen Welt. Das Fest hat seinen Ursprung in Irland bei den Kelten. Zur Abschreckung der als böse wahrgenommenen Geister verkleideten sich die Menschen mit furchterregenden Kostümen und spukten selbst bei Nacht durch die Straßen. Große Feuer sollten böse Geister fernhalten. Beleuchtete Kürbisse, die sogennanten „Jack-O-Lanterns“ (Kürbislaternen) wurden als Hauswächter gegen die bösen Geister vor das Haus gestellt. Vor den Häusern standen kleine Gaben (“treats”), die die Geister besänftigen und von Untaten abhalten sollten. Bereits hier: Licht und Ablenkung gegen die Geister der anderen Welt.
Mittlerweile ist Halloween auch in Deutschland angekommen. Auf Teufel komm raus vertreiben wir die Toten und anderen Geister, die wir eh schon Jahrhundertelang nicht mehr wirklich hereingelassen haben. Denn das gehört sich nicht für eine „aufgeklärte“ (natürlich ein Lichtwort) Gesellschaft. Aber ich glaube, ganz intuitiv spüren wir in diesen düsteren Tagen dennoch die Nähe zur anderen Welt. Ohne dass wir es wollen, denken wir vermehrt über den Tod nach, fühlen ihm uns näher allein schon, weil es scheint, als stürben die Pflanzen um uns herum; dabei schlafen sie nur den für ihr Überleben notwendigen Schlaf.
Vielleicht ist es das, was so anstrengend und energieraubend und winterdepressionsfördernd ist: ständig diese dunklen Gedanken und Gefühle mit aller Macht von uns zu schieben. Die Dunkelheit drängt sich uns auf, will uns ganz für sich, aber wir stoßen sie weg, wir wollen neben der stressigen Erwerbsarbeit wenigstens noch etwas Spaß. Ist es nicht anstrengend, sich den lieben langen Winter über nach dem Sommer zu sehnen? Warum lassen wir nicht einfach von der Sehnsucht los? Der Sommer kommt doch eh wieder! Tendenziell länger, heißer und trockener! Aber nein, wir jammern uns tief ins Sommervermissen hinein. Gedanken an den Tod passen zudem nicht in unser einzigartiges Leben, das nichts als gelebt werden will, ohne Tabus und Wenn und Aber, weiter, höher, und ein bisschen mehr Karriere geht immer noch, auch im Winter, aber nur mit ganz viel künstlichem Licht im Gesicht.
Vielleicht ist es dann auch ganz gut, dass der Dezember immer so stressig mit Deadlines und Weihnachtsgeschenkebesorgen vollgepackt ist. Keine Zeit für trübe Gedanken und Gefühle! Wir füttern das Europatriarchat, indem wir es zum Jahresende nochmal retten mit unserem Erwerbsarbeits- und Konsumexzess. Das Europatriarchat seufzt wohlig und legt sich schmatzend und vollgefressen vor den Kamin. Alles ist gut. Die Lichter sind angezündet. Alles ist gut. Die Ziellinie – der Nachmittag des 24.12. ist erfolgreich erreicht, da lassen auch wir uns laut seufzend ins Sofa fallen und machen es uns Hoppenstedt-mäßig im Scheine der vier Adventskerzen gemütlich. Und mit all unseren Geschenken und Beschenkungen sind wir so glücklich wie das letzte Mal am letzten lichtdurchfluteten Sommertag. Weihnachten ist ein Fest des Lichts geworden.
Wir haben vergessen – bzw. ich wusste es bis vor Kurzem nicht einmal –, dass der heilige Schein nur möglich aus der Dunkelheit heraus ist, aus anderen Bewusstseinszuständen heraus. Er ist kein Produkt des künstlichen Lichts und auch nicht des Feuers. Die Dunkelheit der Nacht: wir besingen sie noch – „stille Nacht, heilige Nacht“, aber sie ist ferner denn je.
Um dem heiligen Schein, den Geistern und der anderen Welt wieder nahezukommen, wäre ein Hinabtauchen in die Dunkelheit vonnöten. Um es sehen zu können, müssten wir andere Bewusstseinszustände zulassen können; uns versinken können ins pure Nichts und nicht gleich Winterdepression! schreien, sobald wir uns tatsächlich mal ganz jahreszeitenangemessen dunkel fühlen. Wir müssten wieder Leere aushalten können, wie Maria in unserem aktuellen wundervollen bzw-Blitzlicht schreibt.
Wir nehmen die dunklen Bewusstseinsformen gar als bedrohlich wahr. Albträume zum Beispiel. Statt sie bei Tageslicht näher zu betrachten und aus ihren oftmals wertvollen Hinweisen Schlüsse für unseren Alltag zu ziehen, verdrängen wir sie und hassen die Nacht und den Schlaf dafür, dass er uns keine Ruhe beschert hat. Das ist nicht die Schuld der Nacht, wenn wir der Nacht zum einen so viel Tag abknöpfen wie nur irgend möglich und dann nicht einmal in der Nacht vom Tagesbewusstsein loslassen können.
Manchmal stelle ich mir vor, es gäbe die „Traummacher*innen“ in den Körper*innen. Ich stelle mir ihre Langeweile vor, wenn sie die Träumer*in zum x-ten Male halb nackt – nur mit nicht zugeknöpftem weißen Hemd bekleidet – vor versammelter Mannschaft den Zug verpassen lassen. Dabei war der doch erreichbar! Aber ihre Füße waren wie in Betonklötze eingegossen! Sie kam einfach nicht vorwärts! Wenn die Träumer*in bis hierhin noch nicht aus ihrem stressigen Traum aufgewacht ist, kommt sie nun logischerweise zu spät zur Erwerbsarbeit und steht plötzlich mit fehlendem Vortragstext am Pult. Vergessen! Einfach so, das kann doch nicht wahr sein! All die stressige Tagesarbeit der letzten Tage und Nächte – und nun diese blamable Situation, zudem halb nackig, nie hatte sie die Zeit, wenigstens die Bluse zuzuknöpfen! Worüber reden ohne Skript, oder ist doch etwas hängengeblieben? Verzweifelt sucht sie nach Worten, Gebrabbel verlässt den Mund, der Chef glotzt sie an, Vollkatastrophe, Panik, Hyperventilation, die Körper*in weiß nicht weiter, schreckt hoch. Oh! Puh! Nochmal Glück gehabt, hallo liebes Tagesbewusstsein, schön, wieder in dir zu sein, hier kenne ich mich aus, und hier vergesse ich auch nichts!
Die Traummacher*innen jedoch gähnen. Another boring night ohne Nachtbewusstseinserkenntnisse. Sie checkt es einfach nicht, sie. checkt. es. nicht., sie beschäftigt sich noch immer nicht mit der Story, mit Farben, Tönen und Gefühlen. Welche Träume wir ihr morgen senden? Ja, egal, legen wir einfach einen leicht an das aktuelle Tagesgeschehen angepassten Film von gestern oder letzter Woche oder vorigem Jahr ein. Oder dem davor. Wirklich egal. Wir müssen darauf hoffen, dass sie irgendwann… one fine day… zuschaut, uns vernimmt. Nachfragt. Reagiert. Indem sie ihr Leben ändert. Indem sie sich uns zuwendet. Uns Geistern der Dunkelheit. Erst dann wird es wieder spannend für uns. Wozu gibt es uns denn sonst?
In Die Insel der Ata, einem meiner Lieblings-Science-Fiction-Romane von Dorothy Bryant, arbeiten die Menschen nur so viel, dass sie keinen Stress in den Träumen von der Arbeit bekommen. Die Träume geben das richtige Maß an körperlicher und intellektueller Arbeit vor.
Ich denke, so verhält es sich mit der vom Europatriarchat gestressten Dunkelheit: Wenn es ihr zu viel wird mit dem Tagesstress, kann es sein, dass sie sich selber auf ihre Art in Licht verwandelt und als Stress durch alle Poren fließt und alle anderen wichtigen Bewusstseinsströme zum Versiegen bringt.
Die Dunkelheit breitet – nicht nur in Träumen – ihre Weisheit aus, wenn ich ihr Platz einräume und ihr weniger Stress zumute. Ich kann im Dunklen mehr sehen, tiefer wahrnehmen und spüren, was mir wichtig ist. Die Dunkelheit verändert auch das Licht auf die Sorgen, die Stress verursachen. Wie bei einer Meditation ist das Dunkle besser geeignet, die „wahre“ Beschaffenheit, Tiefe und Schwere der Sorgen zu betrachten. Manche im Sonnenlicht groß erscheinende Sorge verpufft bei Ertastung im Dunklen.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich sage nicht, dass jede Nachricht oder Vision aus einem Traum beispielsweise nun in vollem Umfang und im wahrsten Sinne des Wortes geglaubt oder umgesetzt werden sollte. Natürlich müsste dafür ein kulturelles Netz an Wissen und Erfahrung geknüpft werden, viele viele Gesprächsrunden stattfinden usw. usf. Es gibt zum Beispiel so viele jahrtausendealte Wissensschätze und Erfahrungen, die in staubigen Schubladen vor sich hinschmoren oder zerstückelt und in merkwürdige, nicht erdgebundene Kontexte gesetzt wurden und noch immer werden. Diese warten nur darauf, sinnvoll in so ein Netz eingeflochten zu werden. Nochmal: mein Ziel ist das Gelangen in die planetaren Grenzen, und ich meine, dass sich Forschung sehr weiten muss, um dieses Ziel wirklich ins Visier zu bekommen.
Das Licht ist männlich, die Dunkelheit ist für ihn weiblich, schreibt Clark Strand. Nicht umsonst heißt der Untertitel seines Buches The Black Madonna‘s Gospel for an Age of Extinction and Collapse.
Das ist interessant. Oder? Denn gerade Frauen und viele LGTBQIA*-Personen fürchten sich vor der Dunkelheit nicht nur aus Angst vor Albträumen oder Ähnlichem. Alle Frauen* des Europatriarchats und sicher auch darüber hinaus haben eine vom Patriarchat aufoktroyierte und tief verinnerlichte Angst vor dunklen Straßen, Tunneln, Wäldern usw. Ich gehe nachts nicht in Wälder. Ich bin doch nicht lebensmüde! Oder? Von klein auf habe ich gelernt: in der Dunkelheit habe ich nichts zu suchen, in ihr gibt es nichts zu finden, in die Dunkelheit habe ich nicht allein zu gehen; da kann sich für mich nur Furchtbares zutragen.
Als ich mich beim Lesen des Buches von Clark Strand – einem Nachtwanderer seit der Kindheit – einmal in seine Schuhe versetzte, wurde es mir möglich, diese Angst beiseite zu schieben. Ich bemerkte erstaunt, dass ich eigentlich – die Horror-, Vergewaltigungs- und Femizid-Angst außer Acht lassend (das ist schwer, aber es gelingt mir, wenn ich mich ausschließlich auf unterschiedliche Formen von nächtlicher Dunkelheit konzentriere) – richtig Lust auf nächtliche Spaziergänge in Wäldern hätte, und zwar auch „unbeschützt“, ohne Gesellschaft, ganz allein, nur ich und die Nacht mit all ihren schlafenden und wachen Lebewesen um mich herum! Aber auch in Gesellschaft: es könnte so schön sein in und mit der Dunkelheit. Oder?
Aber schauen wir uns einmal um, auch bei Nacht, dann bemerken wir recht schnell, dass es kaum noch Orte gibt, in denen es kein künstliches Licht gibt. Kann künstliches Licht uns in die planetaren Grenzen bringen? Ich meine das metaphorisch und im wahrsten Sine des Wortes. Ich muss einmal mehr an den Satz von Audre Lorde denken: „Die Werkzeuge des Meisters werden niemals das Haus des Meisters niederreißen.“
Wie oft habe ich schon überlegt, was genau so ein Werkzeug ist, und was denn dann Werkzeuge sein könnten. Der Kapitalismus ist ein Kind des Öls, mit dessen Hilfe es von einer Nacht auf die andere plötzlich Licht ward und die Dunkelheit zerbrach. Der Kapitalismus existiert nicht in der Dunkelheit; er verhält sich zur Dunkelheit wie Vampire zum Knoblauch (und zum Licht ;). Wenn Licht also das Werkzeug des Europatriarchats ist, dann könnte die Dunkelheit ein Werkzeug zu dessen Verschwinden sein. Wenn die Maschinen und taghellen Gedankenmaschinerien in der Nacht stillstünden, wenn es keine Albträume über gelähmte Beine, verpasste Züge und nackte öffentliche Auftritte als Spiegelung eines ich/ego-bezogenen Alltags mehr gäbe, wenn wir uns stattdessen in unseren Träumen miteinander verbinden, Pflanzen sprechen hören und mit den Geistern, Engeln, Wölfen – wer auch immer sich uns dann eröffnet – Kontakt aufnähmen und all das Erlebte und Erfahrene in unser Tagesbewusstsein tragen würden, dann ginge es dem Kapitalismus richtig übel.
Audre Lordes Werkzeug-Satz ist bei den italienischen Philosophinnen etwa diese Erkenntnis: Frauen sollten nicht nach der Macht in europatriarchalen Institutionen greifen, wenn sie mit dieser Macht das Ziel verfolgen, das Patriarchat abzuschaffen. Die Autorität anderer Frauen anzuerkennen und ihnen Vertrauen zu schenken, ist hingegen ein geeignetes Werkzeug. Aus einem Gespräch mit einem Rabbi über die Lehren von Rebbe Nachman zitiert Clark Strand folgende Sätze in seinem Buch: „Mörder und Diebe lauern die ganze Zeit und warten auf eine unachtsame Person, weil sie die Straße kennen. Aber wenn eine Person einen neuen Pfad geht, der noch nicht bekannt ist, dann werden die Banditen nicht da sein, um sie zu überfallen.“ (S. 26)
Neue Pfade im Dunklen trampeln, ertasten, gehen – das sind die Pfade, die uns aus der Zerstörung führen.
Juliane, meine liebe bzw-Kollegin, sagte vor ein paar Monaten zu mir, nachdem sie sich eine Weile meine Gedanken zu Tod und Trauer angehört hatte: „Du bist ein sehr viel spirituellerer Mensch als du selbst von dir glaubst.“ Vielleicht war es einer der Sätze dieses Jahr, die wirklich den Unterschied für mich gemacht haben. Es war eine kleine Befreiung. Seitdem ist es, als wenn um mich gewickelte, mich einzwängende Fäden und Schnüre, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie relativ eng um mich gespannt sind, sich langsam lockern und abrollen und abfallen. Gestern stand ich beim Kochen, und plötzlich rief ich wie aus dem Nichts: „Heinrich, der Wagen bricht!“ „Nein Herr, der Wagen nicht; es ist ein Band von meinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen…“ Ich musste lachen.
Ich bin vorher noch nie auf die Idee gekommen, einer möglicherweise in mir verkümmert vor sich hin existierenden spirituellen Seite mehr Raum zu geben. Einfach weil… das tut man nicht. Das bringt nichts. Ich bin seriös. Das ist nicht angesehen in der Welt, in der ich lebe. Damit verdient man kein Geld. Und wenn doch, dann sind die entsprechenden Schubladen sofort auf und rein damit. Die Welt der Spiritualität und die Welt der Wissenschaftlichkeit und Rationalität werden in aller Härte getrennt voneinander gehalten. Gut gut, ich weiß, es ist bei Vermischung schon viel Schreckliches passiert. Aber das einsame Herrschen von Letzteren ist auch keine Lösung, das sickert langsam in mir durch. Die Zerstörung des Planeten hat mit dieser radikalen Trennung zu tun.
Bis vor einigen Monaten habe ich selbst noch spirituelle Weltzugänge mit dem Werkzeug des Meisters gelesen. Das Beschäftigen mit der Dunkelheit und mit all dem Begehren, das da in mir aufscheint, bringt mich gerade auf unmögliche und unerhörte Abwege. Ich trample mir einen Pfad durch die Dunkelheit.
Auch im Herbst und Winter ist alles miteinander verbunden. Wie geht es unseren Mitlebewesen? Den Tieren und Pflanzen? Sind sie in einer Art Trance-Zustand? In welchem wir vielleicht auch wären, um diese kalten Wintermonate zu überleben, hätten wir nicht das ganze Licht um uns entfacht? In Die Insel der Ata ist das so, da verbringen die Bewohner*innen die kalten Wintermonate in Trance und Schlaf. Ich bin mir sicher, dass ich in einem früheren Leben mal die Winter so verbracht habe. Es kommt mir so bekannt und natürlich vor. In diesem Leben will ich das ganz bestimmt nicht. Ich liebe die warme Wohnung. Und ich habe die Dunkelheit bisher einfach nicht genug kennengelernt. Sie macht mir schon auch noch ein bisschen Angst. Aber es fühlt sich für mich danach an, als könnte wichtig sein, was wir in Trance und Schlaf und anderen halbwachen Bewusstseinszuständen erfahren würden, beispielsweise über die Gestaltung der lichtreichen kommenden Monate. Sicherlich würden wir hier auf die ein oder andere Art wertvolle Ratschläge darüber bekommen, wie wir in die planetaren Grenzen kommen.
Einer der Nebeneffekte von dieser Arbeit am Pfad im Dunklen ist es, dass ich auf eine strange Weise ambitionslos geworden bin. Gefährlich ambitionslos für mein Leben als Mittvierzigerin in dieser Gesellschaft. Aber das kann vielleicht mal Thema eines anderen Textes sein. Wichtig für diesen Text ist: hier geht es um eine Ambitionslosigkeit, die nicht in depressivem Gewande daherkommt. Das Europatriarchat hat mir bisher immer eingeflüstert, dass jeglicher Anflug von Ambitionslosigkeit sofort wegzutherapieren sei. Schon wieder so ein stressiger Imperativ. Du musst etwas wollen! Wolle! Du musst wer sein wollen in dieser Gesellschaft! Sei wer! Du kannst was! Nutze das! Was soll ich nun damit anfangen, dass ich das Gefühl habe, dass die Zuwendung zur Dunkelheit beispielsweise mehr für das Gelangen in die planetaren Grenzen tut als … als… jedes ambitionsvolle Vorhaben, das mein Ego pusht?
Mein sonst so kluges Kluge Etymologisches Wörterbuch will mir nichts zur „Ambition“ sagen, aber das Wiktionary: Bedeutungen: [1] gehoben: Ehrgeiz, Streben nach Höherem. Herkunft: im 16. Jahrhundert von gleichbedeutend französisch ambition entlehnt, das auf lateinisch ambitio „Bewerbung, Ehrgeiz“ zurückgeht, Substantiv zu lateinisch ambire “herumgehen (und um Wähler werben)“. Aha.
Und ich wurde auch hellhörig (selbst hören tue ich hell, Wahnsinn), als Clark Strand das Wort „Ambition“ in seinem Buch verwendete: „Nennen wir es Geburtsstunde der menschlichen Ambition – oder auch die Geburt der menschlichen Kultur: mit dem Feuer und der erhöhten Fruchtbarkeit wurde auch die Idee geboren, dass das menschliche Wesen mehr sein sollte (ought to be more). Und mit dieser Idee kam jene, dass das menschliche Wesen mehr war. Menschen waren das big picture. Natur war nur die Kulisse für ihre Story, weil die Menschen der Sinn (the point) waren.“ (S. 38f.) An anderer Stelle schreibt er: „Je weiter die Lebenden in das Reich von Licht und Kultur reisen, desto mehr vergessen sie die Dunkelheit und den Tod. Und desto mehr verlieren sie ihren Weg.“ (S. 63)
Aha! „Ambition“ ist so gesehen etwas Unnatürliches, dachte ich sodann. Und schon höre ich jene rufen, die der Meinung sind, dass Ambition doch aber menschlich sei, also „menschliche Natur“. Hmmm. Nun sind wir wieder genau an dem Punkt, an dem ich schon lange rumdoktore, u.a. in diesem Text: wie kann es eine menschliche Natur geben, die außerhalb dieser Welt, außerhalb der planetaren Grenzen liegt, die weder Bodenhaftung hat noch diese sucht? Ist das nicht wirklich und wahrhaftig richtig dumm? Zu glauben, es gäbe eine „menschliche Natur“ außerhalb der planetaren Grenzen?
Ganz ehrlich… manchmal begreife ich einfach nicht… ist es nicht wirklich ein sehr einfacher und banaler Zusammenhang? Zu banal für den menschlichen Intellekt, der hoch fliegen kann, höher als jeder Vogel… schon klar. Weil der taghelle Intellekt gerne hoch fliegt und damit Karriere machen kann, muss ich Angst um die Zukunft meiner Kinder haben. Wie um alles in der Welt ist es uns zudem weiterhin möglich, uns für die klügsten Menschen zu halten, die je gelebt haben? Weil wegen Fortschritt (hinein in die Zerstörung) und Technik und so? In welches intellektuelle Gedankenkarussell haben wir uns da nur reinmanövriert. Ich kann es im Vorbeifliegen bei jeder Runde verschwommen erkennen: da, wo der Ausgang sein müsste, steht “no exit”. Das wollen wir doch mal sehen: Zieh doch mal einer den Stecker, sodass das Licht ausgeht und wir zum Halten kommen. Vielleicht kommen wir dann auf andere Gedanken.
Wenn ich uns da so kreisen sehe und höre, wie sich eine jede einzelne Person im Karussell fragt, wie sie eventuell noch weiter, höher und schneller fliegen könnte, oder ob sie nicht vielleicht schon angesichts ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten, Erfahrungen und ihres Alters längst in einem ganz anderen Karussell sitzen sollte, frage ich mich schon: Hat es die Menschheit nicht Tausende von Jahrhunderten zuvor schon anders und besser gemacht, indem sie sich als Teil dieser Welt begriff und sich nicht auf einer künstlich errichteten Bühne mit vielen Karussellen und mit diversen wackeligen Egopushleitern über der Welt schwebend positionierte und immer höher und noch höher hinauswollte und will, sich brav an das “no Exit”-Schild haltend?
Ich bin jetzt im Flow, ich suche im Wiktionary „Karriere“: Bedeutungen: [1] (erfolgreicher) beruflicher Werdegang, (schnell zurückgelegte) Laufbahn [2] schnellster Galopp des Pferdes Herkunft: von französisch: carrière “Lebenslauf, Laufbahn, Rennbahn“ im 18. Jahrhundert entlehnt; aus italienisch; carriera “Fahrstraße”; aus gleichbedeutend mittellateinisch: Carraria; zu carrus, la “Karre” Fortkommen, Vorwärtskommen, gehoben Emporstieg gehoben veraltend: Avancement Sinnverwandte Wörter: [2] Spurt Oberbegriffe: [1] Synonyme: [1] Aufstieg, Fortschritt, Laufbahn Unterbegriffe: [1] Achterbahnkarriere Beamtenkarriere, Bilderbuchkarriere, Blitzkarriere, Boxkarriere, Drogenkarriere, Erfolgskarriere, Filmkarriere, Fußballkarriere, Gesangskarriere, Glanzkarriere, Kinokarriere, Leinwandkarriere, Mannschaftskarriere, Modelkarriere, Musikerkarriere, Nationalmannschaftskarriere, Nebenkarriere, Parteikarriere, Politikerkarriere, Profikarriere, Schauspielerkarriere, Schornsteinkarriere, Schulkarriere, Solokarriere, Spielerkarriere, Sportkarriere, Tenniskarriere, Trainerkarriere, Traumkarriere, Verbrecherkarriere, Weltkarriere.
Sorry, ich konnte nicht stoppen. Zunächst bin ich versucht, in alle „Unterbegriffe“ Sternchen reinzubasteln. Aber dann denke ich… es passt schon so. Die Karriere ist ein europatriarchales Konstrukt. All diese Wörter befinden sich in einem stickigen Raum mit vielen rauchenden Europatriarchats-Zigarren. Da gibt’s einfach keinen Feminismus drin, auch nicht, wenn ich Sternchen reinbastle.
Ständig möchte ich mir selbst reingrätschen und rufen: „Aber Anne, ich bitte dich, du kannst doch nicht wollen, dass alle Frauen* jetzt so ambitionslos werden wie du! Dann sind doch wieder nur die Männer an der Macht! Willst du das?“ Darauf kann die andere Seite in mir wieder nur sagen… „Tja, denk an die Werkzeuge des Meisters…“ Die Lösungen, die ich in diesem Text gebe, sind Denkanregungen, die möglicherweise an der ein oder anderen Stelle etwas ent-wickeln oder lösen. Mehr nicht.
Aber auch jenseits der „Werkzeuge“: Warum sollte denn eigentlich irgendwer sich spurten, um auf eine solche Rennbahn zu gelangen? Ist das der Sinn des Lebens? Wirklich? Warum greifen wir in Karussellen oder Achterbahnen oder in Pferderennbahnen oder auf Leitern nach Sternen? Schau dir nochmal genau „Drei Nüsse für Aschenbrödel“ an (wie ich gerade gestern): Aschenbrödel braucht keine Rennbahn, um frei und tief versunken in Schönheit auf Nikolaus durch den Winterwald zu reiten. Aschenbrödel kennt zudem die Dunkelheit. Sie vertraut Rosalie. Wer die Dunkelheit nicht kennt und wessen Begehren nicht in der Dunkelheit seinen Ursprung hat, fällt in den Abgrund.
Nochmal zu diesen sogenannten prähistorischen Menschen: ist es nicht wirklich denkbar, dass sie viel klüger als wir Europatriarch*innen waren, weil sie sich bewusst für eine weltliche (also nicht ausschließlich menschliche) Kultur der Verbundenheit mit allen Kreaturen dieser Welt entschieden haben und diese verantwortungsvoll gepflegt und gelebt haben? Viele Jahrtausende lang haben sich die Menschen jedenfalls nicht ablenken lassen von eventuell mal in ihnen aufploppenden Besteigungswünschen wackeliger Leitern in Karussellen und Rennbahnen, vielleicht ja sehr wohl wissend, dass diese Werkzeuge sie direkt raus aus den planetaren Grenzen führen würden.
Mit der menschlichen Ambition ist uns also das Gefühl unserer Erdgebundenheit flöten gegangen. Bis vor ein paar Tagen habe ich meiner Ambitionslosigkeit noch mit Schrecken beim Wirken zugesehen. Mittlerweile frage ich mich eher: Hat mich die von Fäden und Schnüren befreite Intuition in die Ambitionslosigkeit geführt? Hat sich also meine Intuition ohne mein Wissen und meinen Willen im wahrsten Sinne des Wortes selbst „ent-wickelt“, seit ich mir selbst eine spirituelle Erkundung erlaube? Möglicherweise.
Sollten wir nun also nach gar nichts mehr streben? Mitnichten. Wir sollten der Erde zustreben. Also im Grunde den Rückwärtsgang einlegen. Die Leiter vorsichtig hinabsteigen. Die Rennbahn verlassen. Das Karussell verlassen. Die Achterbahn verlassen. Und den Ausgang im Dunklen ertasten. Wir Europatriarch*innen sind der Welt so weit entrückt. Um ihr wieder näher zu kommen, brauchen wir unter vielem anderen Mut zur Dunkelheit. Und leider nur ganz wenig Ego. Autsch. Das tut weh, I know.
I will not lie to you. Privilegierte bitches wie ich sind noch immer in verschiedene Facetten des Kapitalismus verknallt. Auch ich möchte ab und zu in der dunklen Jahreszeit scheinen und blinken. Nur… es ist halt einfach eine toxische Beziehung, da kann man nichts machen. Der Kapitalismus nutzt meine Liebe zu shiny little things nur aus. Ich bin mir mittlerweile sicher, dass es auch außerhalb des Kapitalismus shiny und blinky moments gibt.
Und ja, trotz unser aller heimlichen crushes auf den Kapitalismus wäre es ganz gut, wenn unser aller Ego ein bisschen in die Dunkelheit abtaucht. Aber… aber das kann doch nicht gut sein für das Ich!, kommt die eine Anne-Seite wieder um die Ecke. Also ausgehend von mir, insistiert sie: ich brauche doch gesellschaftliche Wertschätzung und Anerkennung, ich verzehre mich geradezu danach. Aber auch hier ist in den letzten Wochen etwas Interessantes passiert, beruhigt sie die andere Seite: im Zuge meiner zunehmenden Ambitionslosigkeit habe ich auch weniger davon gebraucht und war trotzdem total gechillt. Und gerade bröckelt eine meiner schlimmsten Ambitionsfestungen: Es beginnt mir tatsächlich egal zu sein, wenn Frauen in meinem Alter und jünger an mir vorbeieilen in der Rennbahn. Na gut, oder sagen wir… oft noch ja, aber immer öfter schon nein. Ach wie schön wäre es, wenn das Gegenteil von Ambition gesellschaftsfähig wird! Dann könnte ich wirklich ganz aufhören zu laufen, denke ich, während mir bewusst wird, dass auch ich immer noch laufe… langsamer vielleicht… ja… aber ich laufe und drehe mich dabei ab und zu nach hinten um… kommt da schon wieder eine? Ich fühle mich ein bisschen wie im Biathlon… ich werde langsamer, aber ich bin nicht erschöpft. Ich habe Kraft. Aber warum sollte ich wieder schneller werden? Das Gegenteil von Ambition ist nicht Faulheit, Unfähigkeit oder Indifferenz. Das Gegenteil von Ambition ist das Zuwenden zur Welt. Wir sollten alle ein bisschen mehr Rotkäppchen sein und vom Weg abkommen. (Ja, ich ändere die Moral von der Geschicht’.)
Ich möchte am Ende eine Studie erwähnen, deren Ergebnisse für Clark Strand ebenso inspirierend für sein Buch waren wie sein Buch für meinen Text (und die Ergebnisse dieser Studie lassen auch mein Denken nicht in Ruhe):
Mitte der 1990er Jahre hat der Forscher Dr. Thomas Wehr am National Institute of Mental Health ein Experiment durchgeführt. Er wollte herausfinden, ob der „moderne Mensch“ immer noch prähistorische Schlafrhythmen in sich trug. Seine Logik war einfach: ich entziehe der Gruppe von Partizipierenden vier Wochen lang jegliche Form des künstlichen Lichts. Er wollte des weiteren herausfinden: Haben die prähistorischen Menschen mehr geschlafen? Haben sie anders geschlafen – oder besser? Während der ersten drei Wochen des Experiments blieben die Schlafgewohnheiten gleich, außer dass die meisten etwa eine Stunde länger schliefen. Aber in der letzten Woche ereignete sich eine dramatische Wende. Die Partizipant*innen schliefen dieselbe Anzahl an Stunden wie zuvor, aber ihr Schlaf war nun in zwei Abschnitte geteilt. Sie schliefen vier Stunden. Dann waren sie zwei Stunden wach. Und dann schliefen sie wieder vier Stunden. In diesen zwei Stunden zwischen den Schlafphasen waren sie aber weder ganz wach noch voll im Schlaf. Sie erlebten vielmehr einen Bewusstseinszustand, den sie noch nie zuvor erlebt hatten. Thomas Wehr verglich diesen Zustand mit dem, den fortgeschrittene Meditationserfahrene in ihren tiefsten Phasen der Meditation erleben. In dieser Studie gab es aber keine einzige Person, die derartige Praktiken beherrschte.
Clark Strand folgert nun unter vielem anderen daraus, dass diese zwei Stunden von unseren Vorfahre*innen dazu genutzt wurden, Rituale durchzuführen und Kontakt zu pflegen mit den Wesen der anderen Welt. Prophet*innen konnten in diesen Stunden den Gospeln der Engel o.ä lauschen … stille Nacht, heilige Nacht… wie wäre das?
Die letzten Zeilen für diesen Text schreibe ich an einem Tag, an dem über den Hügeln stundenlang schwere Regennebel liegen. Das Grau veränderte sich in diesen Stunden von trist und entschlossen zu wild und ekstatisch: Nicht nur Regentropfen tanzten soeben in den Pfützen, unter sie mischten sich auch kleine Hagelkörner! Gleich muss ich mit dem Fahrrad los und meine Tochter von der Schule zum Karate bringen… ich suche alle Regensachen zusammen… und kann ein wohliges Grinsen nicht unterdrücken. Das wird herrlich ungemütlich!
Enden möchte ich mit einem Zitat aus Waking Up to the Dark. Es könnte auch ein Adventskalendersprüchlein sein, aber ich hoffe, am Ende dieses Textes ist es etwas mehr:
„Der Lebenssinn hat wenig zu tun mit dem Bekommen und Geben, mit dem wir die meiste Zeit des Tages beschäftigt sind. Wenn wir den Wert des Lebens wissen wollen – den wahren Wert, nicht den monetären oder den sozialen Wert – müssen wir mitten in der Nacht aufwachen und sehen, was in der Dunkelheit geschieht.“ (S. 15)
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Mutmacher*innen, mich ein bisschen in die Dunkelheit fallen zu lassen, war neben Clark Strand auch Sophie Strand. Ihren fast 600 Seiten langen Roman The Madonna Secret habe ich gerade erst angefangen zu lesen und bin schon jetzt dunkelwärts (oder was könnte das Gegenteil von „hellauf“ sein? Wie könnte sich unsere Sprache überhaupt wieder mehr der Dunkelheit zuwenden?) begeistert. Leider sind die Bücher von den beiden bisher nur auf Englisch zu lesen.
Inspiriert hat mich zudem das erste Drittel (weiter bin ich auch hier noch nicht) von Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit von David Graeber und David Wengrow. Für mein sich langsam veränderndes Tiefenzeitverständnis hat schon vor einiger Zeit Roman Krznaric mit The Good Ancestor. How to Think Long Term in a Short-Term World gesorgt.
In ganz besonderer Weise ermutigt zu diesem Text hat mich Nadia Shehadehs Buch Anti-Girlboss. Den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen. Ihr zusammen mit Jacinta Nandi vor ein paar Wochen im KOMMA in Esslingen zuhören zu dürfen, war definitiv eines von vielen kleinen aber feinen „Made my Year“-Momenten.
Übrigens… in zwei Tagen ist wieder Wintersonnenwende! Wie fühlst du dich?
Ich füge “grinsig” meinem Sprachschatz bei, jedoch nicht “Körperin”:
Wo kämen wir denn dann hin?: Vielleicht zu “Kotin” (“Urin” hat schon eine weibliche Endung.)
Hallo Anne, danke, wieder ein sehr inspirierender Text.
Ich gehöre ja auch zu denen, die November und Winter generell nicht mögen, aber es ist weniger das Licht, als die Wärme, die mir fehlt. Stichwort Karibik, bzw. bei mir Brasilien: Da ist es ja auch viel dunkel, die Hälfte des Tages, aber es bleibt WARM. Dunkel und warm, das ist eine Kombination, die mir sehr gut gefällt. Wobei aber natürlich das Einmummeln tatsächlich auch mit der Kälte zu tun hat.
Was mir noch einfiel assoziativ dazu einfiel: Kennst du die Theorie der “Opazität” von Edouard Glissant, die Idee finde ich sehr spannend, das “Recht, nicht verstanden zu werden” – es sagt mir was sowohl für die Erde und für Phänomene, als auch zum Beispiel für (feministische) Ideen, die auch oft nicht verstanden werden, obwohl sie wichtig sind. https://www.udk-berlin.de/studium/studium-generale/archiv-der-lehrveranstaltungen-des-studium-generale/archiv-wintersemester-201920/interdisziplinaere-kuenstlerische-praxis-und-theorie-ws-201920/opacity-as-resistance-das-recht-nicht-verstanden-zu-werden/
Ansonsten glaube ich, irgendwo mal gelesen zu haben, dass es Hinweise darauf gibt, dass die zwei Schlaf-Phasen früher in Europa generell verbreitet waren, also dass die Leute so zwischen Mitternacht und 2-3 Uhr wach waren. Finde ich spannend.
Und: Beim Thema Ambitionen war ich auch schon mal und bin damals zu sehr ähnlichen Überlegungen gekommen – https://antjeschrupp.com/2012/06/29/alles-was-ich-machen-muss-ist-nichts-kaputt/
Also danke fürs Teilhaben lassen an deinen Gedanken.