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Die Tränen der Barbie (und der Fußballerinnen beim Singen der Hymne)

Von Anne Newball Duke

Dieses wie alle folgenden Fotos aus einem mit anderen Schulkameradinnen erstellten Werbeclip ca. 1994; alle Fotos: Anne Newball Duke

Achtung Spoileralarm: dieser Text kommentiert viele Szenen aus dem Barbie-Film.

Barbie in meiner Kindheit

Ich war schon elf Jahre alt, als ich meine erste Barbie in den Händen hielt. Der Mauerfall machte Barbie für mich zu einer späten Kindheitserfahrung. Es war eine stereotypische Barbie; allerdings war sie besonders, weil sie sehr kleine blonde Locken hatte und ihr die Haare dadurch nur bis kurz unter die Schultern fielen. Ich dachte anfangs, die Haare würden schnell kaputtgehen und so verknoten und zerzausen, aber das war nie der Fall. Wenn ich sie kämmte und dann ein bisschen Wasser reintat, wurden sie immer wieder so schön lockig und glänzend wie zu Beginn, magic. Ich war höllisch verliebt. Ich bekam noch mindestens zwei weitere Barbies geschenkt, aber ehrlich gesagt kann ich mich an keine weitere erinnern. Ach doch! Eine, deren Ballkleid mit wenigen Handgriffen in ein Schmetterlingskleid verwandelbar war. Als hätte Barbie Flügel. Ich erinnere mich an sie nur, weil wir im Kunst- oder Sozialkundeunterricht in der 9. oder 10. Klasse Werbeclips erstellen sollten. Neben einer Whiskey-Werbung und irgendeiner Shampoo-Werbung machten wir auch einen Barbie-Clip.

Hätte ich in jüngeren Jahren mit Barbiespielen angefangen, dann hätte ich sicher mehr Barbiewünsche entwickelt. Vielleicht hätte ich dann irgendwann auch ein kleines Barbieland mit Ärztin, Präsidentin, Bauarbeiterin usw. gehabt. Mit elf war ich einfach schon zu spät dran. Und mir erging es so wie der Freundin von Sasha in Barbie, die einen Moment lang überlegt zuzugeben, dass sie noch länger als bis zu ihrem 5. Lebensjahr mit Barbie gespielt hat: aber sie wird gesilenct von ihren Freundinnen. Denn ab einem bestimmten Alter darfst du dich nicht mehr „öffentlich“ – also auch nicht vor deinen Freundinnen – für Barbies interessieren. Bämm fällt das Fallbeil und Barbie hat tot zu sein für immer und ewig; und sie hat noch nie cool und von dir geliebt gewesen zu sein; am besten und einfachsten ist es, du leugnest, dass du je mit ihr gespielt hast; oder du verschiebst die Spielzeit in die frühen Kindheitsjahre, als du noch nicht wissen konntest, wie toxisch das in Wirklichkeit wirkt. Aaaaaber: schauen wir ganz genau hinein in die Kinderzimmer der Mädchen dieser Welt, dann sehen wir, dass es eine klandestine Grauzone gibt, in der die pubertierenden Mädchen heimlich weiter ihre unterm Bett versteckte Barbie hervorziehen, und die Spiele – jetzt jeweils als vereinzelte Einzelne, nicht mehr wie früher im Kreise von Freundinnen – weitergehen.

Der Film thematisiert auch die Problematik, die Barbies Form und Figur mit sich gebracht hat und den Mädchen ab sehr jungen Jahren ein unmögliches Körperideal vorgibt. Und klar habe auch ich mir vorgestellt, irgendeinen schönen erwachsenen Tages einmal so schöne Partykleider anziehen zu können, und ich glaube schon auch, dass ich irgendwie tief im Körper wusste, dass man für diese Art von Kleidern besser eine schlanke Figur hat. Dieser Schöne-Kleider-Wunsch verschwand aber erstmal komplett nach der Barbiephase. Da tauchte ich erstmal tief in eine eher linkstickende Clique ein, die bis zum Abi hauptsächlich aus Jungs bestand. Das ist auch der Grund, dass ich bei meinen Töchtern total locker war und weiterhin bin mit pink und Puppen und allen Genderklischees, die sie mit Liebe und Hingabe erfüllen. Aus Erfahrung weiß ich: es hat mir nicht geschadet, und du kannst plötzlich Papas alte Karohemden tragen und zu Nirvana abgehen, da entsteht überhaupt kein Riss in der Persönlichkeit, das ist einfach eine ganz normale Entwicklung.

Ich würde so sagen: Barbie hat mir mehr gegeben, als dass sie mir Komplexe zugefügt hat. Mit der Barbie spielen ermöglichte mir ein tiefes Versinken in Phantasiewelten. Und natürlich – das ist mir schon auch klar – gibt Barbie dabei Phantasien vor – wie frau in dieser Gesellschaft idealerweise zu sein hat usw., und lässt andere, vielleicht schönere und wichtigere, außen vor. Aber Barbie war ja nicht mein ein und alles; ich widmete ihr ja nur wenige Stunden in der Woche. Schule, Vereinssport, Musikinstrument… der nicht ganz unstressige Alltag war so viel dominierender. Die Barbie-Spielmomente sind für mich eher jene Momente gewesen, in denen ich mal nichts leisten oder lernen oder üben oder praktizieren musste; es war wirklich „frei verdaddelbare Zeit“.

Oder doch: neben dem Werbeclip lieferte ich ungefähr im selben Alter noch einmal Leistung mit meinen Barbies ab: Im Kunstunterricht war es einmal die Aufgabe, etwas zu designen. Mir fiel nichts ein, kunststundenlange quälende Kreativitätslosigkeit in mir. Kurz vor Abgabe der Design-Ergebnisse griff ich relativ verzweifelt und gleichzeitig ein bisschen im Egalmodus zu meinen drei Barbies und entwarf kunstvolle Frisuren und präsentierte diese dann meiner Kunstlehrerin. Die guckte etwas verwirrt. Ist das jetzt echt Design oder kann das weg, fragte sie sich sicher. Sie entschied sich für Ersteres; für meine drei Frisuren gab sie mir dann eine Eins; oder jedenfalls erinnere ich mich an ein grinsiges Triumphgefühl.

Ich hatte auch eine ganz billige Ken-Puppe, wahrscheinlich einen Alan. Immer, wenn ich ihn umzog (er hatte allerdings nur zwei Outfits), kugelte sich der eine Arm aus. Er hatte die fingiert schwere Aufgabe, sich zwischen den drei hübschen Barbies entscheiden zu müssen. „Fingiert“, weil: Am Ende war es immer die Lockige, die Ken „gewann“, logisch.

Ich spielte also anders mit der Barbie als das Mädchen Sasha und ihre Mutter Gloria, die in Barbie mit Barbie spielen. Meine Barbie küsste auch den billigen Ken; überhaupt war das ganze Spiel ziemlich erotisiert, und ehrlich gesagt auch gespickt von ziemlich viel Eifersucht; es gab ja nur den einen billigen Ken. Und auch bei mir gab es – wie in Barbieland im Film – fast jedes Mal zum Abschluss des Spiels eine Party, aber die endete zumeist im Bitchfight um Ken. Dem Film-Ken im Mojo Dojo Casa House hätte das gefallen.

Vielleicht habe ich die Idee des Nicht-Kusses und der sich an die Party noch anschließenden Girls Night im Film deshalb so abgefeiert, also das allgemeine Desinteresse der Filmbarbies an den Kens, weil ich selber damals eben nicht so bezogen auf sinnstiftende Frauenbeziehungen gespielt habe. Ich fragte mich dann fasziniert, ob jüngere Mädchen – also U11 – so mit Barbies spielen? Oder ob Greta Gerwig hier einfach und ganz frech eine Utopie gesetzt hat? Wenn Mädchen Anwältinnen und Präsidentinnen als Barbie haben, dann spielen sie diese Rollen auch konsequent durch? Hat eine Leser*in hier Erfahrungen?

Der Text des Clips ging so: “Zum Geburtstag habe ich die neue Superbarbie geschenkt bekommen. (…)”

Vorfreude auf Barbie

Als ich hörte, dass Greta Gerwig (mit ihrem Mann Noah Baumbach zusammen) das Drehbuch geschrieben hatte, war ich eh schon hin und weg. Seit Francis Ha bin ich schockverliebt in sie. Ich habe den Film sogar als DVD zu Hause. Danach habe ich aber eigentlich nie wieder etwas von ihr gesehen.

Wir waren zu viert in Barbie: Mutter, Vater und zwei Töchter, geballte Vorfreude schon Wochen vorher; das gibt es nicht so oft (das letzte Mal allerdings tatsächlich erst kurz zuvor bei The Little Mermaid, den wir einstimmig auch ganz toll fanden). Barbie und vor allem der geniale, kluge, tiefgründige Humor hat uns komplett abgeholt.

Mit meiner ganzen Barbie-Euphorie wollte ich sodann alle in meinem Umkreis anstecken, aber das klappte im Ü30-Bereich tatsächlich nur sehr zögerlich. Schuld daran waren u.a. auch einige Rezensionen, in denen der Film nicht sonderlich gut wegkam. Der Hauptvorwurf an den Film ist, dass er zu wenig Kapitalismuskritik übe. Ich musste da schon auflachen. Okay. Ernsthaft? Eine Rezensionist*in geht in Barbie und schaut den Film auf Kapitalismuskritik durch? Barbie ist ein Konsumprodukt sondergleichen. Wieso erwartet irgendwer von Barbie Kapitalismuskritik? Ich habe da wirklich Verständnisprobleme: Wieso sollte der Film hauptsächlich das leisten, wie kommt nur irgendwer auf die Idee? Das ist ja im Grunde so, als wenn ich in einen Kriegsfilm mit der Erwartung gehe, dass es keinerlei Kriegsszenen geben wird. Weil doch irgendwo stand, es würde sich um einen Antikriegsfilm handeln.

Also ich gehe in keinen (Anti-)Kriegsfilm. Einfach weil mich das Genre null interessiert; denn nichts, was in so einem Film verhandelt wird, kann mir irgendetwas über das gute Leben für alle verraten. Vielleicht helfen solche Filme jungen Männern bei der Entscheidung für oder gegen einen Eintritt in die Armee. Okay, das mag sein. Aber ich brauche diese Filme nicht. Krieg ist Scheiße, Krieg zerstört Leben. „Man kann einen Krieg genauso wenig gewinnen wie ein Erdbeben“ (Jeannette Rankin); und kein fiktiver Kriegsheld könnte mir am Ende eines dreistündigen Blockbusters eine Weisheit verraten, die ich erstens nicht schon wüsste und die ich zweitens sicher auch gar nicht für eine Weisheit halte. Aus Krieg erwächst keine Weisheit. Darüber kann man vielleicht streiten, aber mit dem Standpunkt würde ich in eine Diskussion gehen. Und wenn ich mit null-Bock-Laune auf Kriegsfilm – also noch nicht mal „mit Lust an der Nicht-Lust“ (Timothy Morton) – in einen gehe, weil ich eine Rezension schreiben muss… well… das kann nicht gut für den Film ausgehen.

Bitte Kapitalismuskritik, sonst geh ich nicht in den Film

Und dann fragte ich mich gleichzeitig: Seit wann sind die deutschen Kinogänger*innen so heiß auf Kapitalismuskritik? Theatergänger*innen wollen seit vielen Jahrzehnten die Bourgeoisie und seit einigen Jahren den Neoliberalismus zerlegt sehen. Arme werden abgerissen und blutgetränkt durch die Gegend gefeuert auf der Bühne. Der ganze Horror einer gewaltvollen Gesellschaft, rausgerupft aus den Menschenkörpern. Immer und immer wieder. Und dann cremt die Überlebende den Sterbenden mit seinem Blute ein. Theateraction in Dauerschleife.

Aber seit wann wollen deutsche Kinogänger*innen Kapitalismuskritik? Seit Parasite? Okay. Wir lernen durch diesen Film: im Kapitalismus gibt‘s Hierarchien, so wie in einem Reichen-Haus unten und oben, und die Armen wollen auch nur die Reichen sein und die Treppchen vom Keller hoch in die Küche und noch höher in die Wohnstube und Schlafgemächer kommen, und die Armen sind nicht immer die Guten. Guter Film, okay, aber ich war danach voll von schlechten Gefühlen. Wie sollte es auch anders sein: Der Film zeigt viel Hass und Blut und Neid und Totschlag und sonst noch einige Etagen und Räume an hässlichen Gefühlen und Taten. Kapitalismuskritik wie wir Deutschen sie mögen. Tatort Deluxe.

Ja, und vielleicht ist die Kinogänger*in auf den Geschmack gekommen und möchte mehr wissen zur Gewalt in einer europatriarchalen (Kapitalismus ist in der Definition des Wortes von Minna Salami inbegriffen) Gesellschaft. Das ist ja okay. Aber: wenn die Erwartung an Kapitalismuskritik Blut und Neid und Totschlag ist, wieso erwartet dann eine Person Kapitalismuskritik von Barbie? Erwartet sie, dass Ken der Arm ausgekugelt – oder besser noch – rausgerupft wird, während er sein Styling ändert, und dabei dann eine Menge Blut spritzt all over Barbieland? Irgendwas muss doch dann falsch sein: Die Filmwahl oder die Erwartung an den Film. Oder die sehr eindimensionale Vorstellung von Kapitalismuskritik.

Auch Johanna Adorján von der Süddeutschen Zeitung ist in ihrer Rezension enttäuscht von nicht geschehener Kapitalismuskritik. Ich möchte sie gern fragen, wie sie sie sich denn in ihren kühnsten Träumen vorgestellt hat, die Kapitalismuskritik in Barbie? Vielleicht war ihr Blick auf etwas eingestellt, was es nicht gab. Und klar kann man kritisieren, dass etwas nicht da ist, was man gerne gehabt hätte. Aber schade, wirklich schade, denn so sieht sie nicht, was alles da ist. Sie hätte so viel Schönheit sehen können. Mit der blutigen, schlechtgelaunten Kapitalismuskritikbrille, die sie eventuell aufhatte (my guess!), gehen ihr dann die ganzen Nuancen zwischen Schwarz und Weiß, also konkret, all die Nuancen in Pink verloren. Davon hat der Film eine solche Unmenge zu bieten, dass ich beim zweiten Mal erst vieles wahrgenommen habe, und mich schon jetzt die Sehnsucht quält, noch ein drittes Mal zu gehen, diesmal ohne Kinder U10 und in English, please.

Timothy Morton, ein Philosoph, den ich gerade entdecke, schreibt in Ökologisch sein: „Kritik ist ein Modus der Lust an der Nicht-Lust, eine sadistische Reinheit, bei der man sich die Hände vom Verbrechen der Verführbarkeit reinwäscht, als ob die Stimmung aufgeben bedeutet, den Einstimmungsraum zu verlassen, wo doch in Wahrheit nur ein Umstimmen passiert. Kitsch herzustellen oder gar zu genießen ist das Schlimmste, was in diesem Modus geschehen kann.“ (S. 189)

Was also würde passieren, wenn sich die Kritiker*innen auf den Kitsch einlassen?

“(…) Die kann auf jede Party gehen, (…)”

Barbie im Science Fiction-Modus ansehen

Barbie wird im Stil eines Films im Science Fiction-Genre erzählt. Eine Heldin verlässt ihre Welt und kommt in eine ihr gänzlich fremde. Sie kehrt zurück, und nimmt dann wiederum Heldinnen der neuen Welt mit in ihre alte, um dann dort den Daheimgebliebenen von ihrer Reise und ihren Erfahrungen zu berichten, sowie aber auch die Reiseführerin für die nun hier neu Angekommenen zu spielen. Bei Science Fiction gibt es die stille Verabredung zwischen Film und Publikum: du glaubst jetzt, was du siehst. Wenn du nicht glaubst, dass das Ei fliegt, sobald ich die Hand unter ihm wegziehe, dann bist du nicht ready für das Genre. So ist es mit Barbie. Du musst ihre Reise ernst nehmen. Und diese Reise ist gespickt mir so viel Liebe zum Detail; keine einzige Szene ist unbedacht. Slapstick wechselt sich in turbulentem Tempo mit tiefen, bewegenden Szenen ab. Und es ist sehr überlegt, was im Slaptstick-Stil erzählt wird und was nicht. Dazu gleich mehr.

Die erste Träne

Ein Beispiel für eine tiefgründige Szene ist zum Beispiel, als Barbie sich in der realen Welt umschaut und ein streitendes Pärchen sieht. Das Paar streitet nicht laut. Die Frau sitzt mit eingefallenem Rücken da. Sie schweigt, aber sie hat wahrscheinlich gerade geredet. Sie sieht an dem Mann vorbei. Vielleicht hat sie zum x-ten Male versucht, ihm etwas begreiflich oder verständlich zu machen. Vielleicht hat sie Schluss gemacht. Er macht eine kurz ausladende Armbewegung der Verständnislosigkeit. Und sie hat keine Worte und auch keine Energie mehr, weiter nach Worten der Vermittlung zu suchen. It`s up to him. Es scheint, er muss von nun an allein in den Prozess der Verarbeitung gehen. Jede andere Filmbesucher*in denkt sich vielleicht etwas anderes bei dieser Szene. Oder auch gar nichts, denn sie ist mit circa 2 Sekunden sehr kurz. Mir tut sich ein Universum auf. Auch, weil ich fühle, wie sich Barbie fühlt, die sich noch nie in ihrem Leben so viel Mühe gegeben hat, Ken irgendwas begreiflich zu machen. Vielleicht spürt sie, was „harte Beziehungsarbeit (im Patriarchat)“ ist, und vielleicht spürt sie gleichzeitig auch, wie Frauen in dieser echten Welt Zeit und Energie geraubt wird. Die Szene ist eben auch ein kleines Mosaikteil für das Beziehungs-Bild von ihr und Ken.

Barbies Blick schweift weiter. Hinter einer Hecke sitzt ein junger Mann. Er wirkt verzweifelt und traurig. Wer weiß, was er gerade für eine schreckliche Nachricht bekommen hat, oder was ihm den Tag so beschwert. Barbie realisiert: In der realen Welt ist nicht jeder Tag ein perfekter Tag. Menschen leiden. Woran leiden sie? Menschen machen sich das Leben schwer. Warum? Schon kurz zuvor ist ihr aufgefallen, wie gewaltvoll der menschliche Umgang miteinander in dieser echten Welt sein kann. Sie wurde übel sexistisch angemacht, und bekommt auch einen heftigen Klatsch auf den Po. Für die Reaktion – einen ordentlichen Schlag ins Gesicht des Mannes – landen sie und Ken im Gefängnis. Schon zuvor benennt sie den sexistischen Blick der Männer um sie herum als gewaltvoll. Also nicht erst den Poklatscher. Das ist doch eine wahnsinnig interessante Sache: Barbie, die noch nie zuvor sexistische Gewalt erfahren musste, scheint besonders sensibel und nimmt bereits die verbalen Übergriffe als Gewalt und Ungerechtigkeit in der Gesellschaft wahr. Sie treffen sie unerwartet und ungeschützt, denn sie verfügt über keine Schutzmauer, mit denen im Europatriarchat sozialisierte Frauen normalerweise immer durch die Welt gehen. Kurz darauf weint sie ihre erste Träne; sie rollt ihr direkt aus ihren Körpererfahrungen der wenigen ersten Stunden in der echten Welt über ihre Wange. Es ist im Grunde auch die erste Flüssigkeit, mit der sie in der realen Welt in Berührung kommt; ein Intitiationserlebnis.

Barbie bekommt das Patriarchat also am eigenen Leibe zu spüren und straft damit all jene Lügen, die meinen, wir fortschrittlichen Menschen in der westlichen Welt hätten es schon längst abgestreift. Der Satz „Wir verstecken es jetzt nur besser“ fällt an irgendeiner Stelle.

Zuerst ist da also Barbies Körperreaktion auf die Gewalterfahrung. Worte, Begriffe, Konzepte dafür bekommt sie erst von dem Mutter (Gloria)-Tochter (Sasha)-Gespann geschenkt, zum Beispiel das Wort „Patriarchat“. Meine kleine Tochter ist jetzt acht Jahre, und die einzige Frage, die sie mir während des Films stellte, war „Was ist denn eigentlich das Patriarchat?“ Ich musste lächeln und hatte erstmal ein Riesenloch im Kopf, wie ich das Thema kindgerecht angehen soll. Aber der Film gibt so viele Ansätze für Gesprächsmöglichkeiten.

Erfahrung von Schönheit

Es gibt viele Szenen, die Kinder noch nicht deuten können, und über die aber später gesprochen werden kann. Für Kinder unter 10 Jahren ist der Film meines Erachtens kaum zu verstehen; sie langweilen sich sogar zeitweilig, habe ich nicht nur an meiner Tochter beobachtet. Aber auch sie ist wieder mitgekommen, als wir noch ein zweites Mal ins Kino gegangen sind. Danach sagte sie: „Ich habe jetzt schon sehr viel mehr verstanden.“ Ich musste wieder lächeln, denn ich habe keine Ahnung, was sie nun „mehr verstanden“ hat. Und als ich sie fragte, welche Szene nun nach dem zweiten Mal schauen ihre Lieblingsszene ist, sagte sie: „Wo sich die alte Frau und Barbie die Hände reichen.“

Nach dem ersten Mal schauen war ihre Lieblingsszene jene, wo Barbie einer älteren Frau an der Bushaltestelle ganz unvermittelt sagt, dass sie schön sei. Auch diese Szenenauswahl fand ich schon bemerkenswert. Ich fragte mich, was ihr so sehr an dieser Szene gefallen haben mochte. Dann erinnerte ich mich an eine Familiengeschichte, die bereits etwa 35 Jahre zurückliegt: eine meiner Cousinen hat im Alter von etwa 6 Jahren einmal meine Oma beim Schlafen beobachtet. Als meine Oma aufwachte, hing das Gesicht meiner Cousine tief über das ihre gebeugt, und meine Cousine sagte aus vollstem Herzen, verbunden mit einem tiefen Seufzer: „Oma, wie schön du bist.“ Meine Oma bekam daraufhin einen Lachkrampf, der sich jedes Mal wiederholte, wenn sie an diesen Moment dachte; und das war oft. Und jedes Mal, wenn es sie vor Lachen schüttelte und sie sich die Hände vor den Mund hielt, um ihre Zahnlosigkeit zu verbergen, lachte ich mit und dachte, wie recht meine Cousine hatte: Wie schön du bist, Oma. Vielleicht hat meine Tochter in diesem Moment im Kino etwas über Schönheit verstanden, so wie ich damals durch die Familiengeschichte. Was kann einem ein Film Schöneres schenken.

“(…), denn man kann sie sogar in einen Schmetterling verwandeln. (…)”

Welcher Feminismus wird also in Barbie angesprochen?

Ich würde sagen, es ist ein wilder Mix aus allem. Barbie vermisst die Frauen in der Führungsriege von Mattel, und sie vermisst auch die weibliche Power an einer Baustelle zur Mittagszeit in der echten Welt.

Der Film feiert aber gleichzeitig das gemeinsame Frausein; Frausein in all ihren möglichen Unterschieden; natürlich hier vor allem in ihren Berufsrollen. Und der Film thematisiert eben auch – wie eben schon besprochen – das weibliche Altern und die Beziehungsweisen zwischen Frauen unterschiedlicher Generationen. Auf Barbies Kompliment hin antwortet ihr die alte Frau übrigens: „Ich weiß.“ Barbie kann hier von der Erfahrung einer anderen, älteren Frau lernen und tut dies auch. Mir ist jetzt während des Schreibens erst bewusst geworden, dass Barbie ja bis dahin auch gar keine älteren Frauen kannte. Also ihr Kompliment an die Frau kommt aus ihrer durch keinen patriarchalen Blick verfärbten Haltung und Sichtweise. Außerhalb des patriarchalen Blicks und von (kleinen) Kindern wird die Schönheit von älteren Frauen erkannt; auch das enthält also der Film.

Der Film zeigt aber auch, wie sich Frauen in ihren Rollen im Patriarchat wohl fühlen und gar nichts geändert haben wollen. Dass also Frausein im Patriarchat nicht nur bedeutet, sich ständig scheiße und diskriminiert zu fühlen. Und dass manche Frauen auch im hohen Alter noch nichts von vielen Diskriminierungspraktiken und Sexismen wissen wollen, obwohl sie ihnen womöglich vielfach selber widerfahren sind, sich aber in ihrer Selbstsicht „behaupten“ konnten. Denn so sieht sie aus, die „Stärke“ und „Potenz“ einer Frau in patriarchaler Logik.

Der Film zeigt in wenigen, aber intensiven Szenen, wie gerade die unbezahlte Care-Arbeit auf Frauen abgewälzt ist. Ich erinnere mich an Barbies Blick, der über einen Spielplatz schweift, auf dem eine etwas ramponiert wirkende Mutter mit ihrem Kind zugegen ist. Deren etwas abschweifender Blick, der auch ein bisschen sagt, „ich könnte grad auch ganz woanders gut Zeit verbringen“, entbehrt nicht der Liebe für das Kind. Das meine ich mit „tiefgründig“: der Blick der Mutter ist nicht eindeutig; er ist klirrend vieldeutig. Zu einem solchen Blick kann ich mir tausend Geschichten ausdenken. Ich kann mich an solchen Szenen nicht sattsehen.

Greta Gerwig und Noah Baumbach haben meines Erachtens so ein kluges, tiefgründiges, witziges, in jede kleinste Einzelheit geplantes und durchdachtes Drehbuch geschrieben, das mich in der perfektionistischen Umsetzung an Loriots Sketche und Filme erinnert. Nichts, nicht die kleinste Bewegung oder Gesichtsausdruck – auch nicht im Hintergrund – ist hier dem Zufall überlassen.

Der Film thematisiert, dass nicht alle Frauen den Wunsch haben, Mitglied im Vorstand eines DAX-geführten Unternehmens zu sein, sondern dass eine leitende Position in der Stadtreinigung eine durchaus erfüllende Arbeit sein kann. (Und die Barbies, die keine Leitungsposition in der Stadtreinigung haben, sehen auch nicht unglücklich aus bei ihrem Job). Ich habe gerade das gefeiert, weil ja oft die Frage an utopisch denkende Menschen ist, wer sich denn in einer Gesellschaft, in der alle nur das tun, was sie wollen, um die Müllabfuhr kümmert. Vielleicht – so sinniert Barbie – wird das also gar nicht das Problem einer zukünftigen Gesellschaft sein, in der es by the way sowieso nicht mehr viel Müll geben sollte, aber das ist wieder ein anderes Thema (, das nicht im Film verhandelt wird).

Es wird auch der Ausschluss von Barbies thematisiert, weil sie plötzlich „komisch“ aussehen; und zwar, weil ihnen von den mit ihnen spielenden Mädchen die Haare abgeschnitten werden oder ihr wunderschönes, perfekt ebenmäßiges Gesicht mit nicht abwaschbarer Farbe beschmiert wird. Oder weil sie aus der Spagatposition nicht mehr rauskommen. Durch ihr komisches Aussehen oder ihre komische Rolle leben all diese ausrangierten Barbies am Rande der Gesellschaft/von Barbieland in einem komischen Haus. Durch die Erschütterungen in Barbieland werden die perfekten Barbies aber ihrer unschönen Exklusionspraktiken gegenüber den komischen und ausrangierten Barbies gewahr und entschuldigen sich bei ihnen, vor allem einer, der mit den kurzen Haaren und dem Spagat. Was für eine witzige Idee, und auch wieder metaphorisch zu verstehen, wenn man will: eine, die den Spagat von perfekter in komische Welt versucht. Der gelingt aber erst, als auch die perfekten Barbies eine ernste Beziehungsweise mit ihr suchen. Über jede andere komische/aus dem Sortiment ausrangierte Barbie – auch männliche Figuren – ließe sich noch einiges sagen. Aber puh, der Text wird schon wieder so lang.

Aber vor allem feiert der Film die geballte Frauenpower (inklusive schon der komischen Barbie, denn natürlich verfügt diese über das notwendige Wissen, die Reise betreffend, die die stereotypische Barbie aufgrund ihrer plötzlich aufgetretenen Todesgedanken in die echte Welt antreten muss, „damit alles wieder so wird wie zuvor“). Frauen verbünden sich, um das Patriarchat im einstigen Barbieland – von Ken in ein Kendom umgeformt – wieder abzuschaffen. Ob ihre Strategie – das Aufzeigen der kognitiven Dissonanz, der Frauen im Europatriarchat unentwegt ausgesetzt sind – wirklich zu Erfolg führen würde auch in der realen Welt, sei mal dahingestellt, aber es ist allemal ein hübscher Vorschlag. Was mir so gut gefällt, ist, dass zum Sturz des Patriarchats keine Frau irgendeine Führungsposition braucht oder nutzt, sondern dass sie es hierarchielos „von unten“ und nur durch die Zusammenarbeit und ihr gegenseitiges Vertrauen schaffen. Das ist doch groß. Oder?

“(…) Und für mich hat sie eine super Maske! [Gesang aus dem Off:] Superbarbie! Superbarbie! (…)”

Das Patriarchat ist zu Ende, denn es ist ein Witz

Ja, und wo ist denn nun die so vermisste Kapitalismuskritik? Patriarchat und Kapitalismus wird in der echten Barbie-Plastik-Welt von Los Angeles immer zusammengedacht. Sobald es um die vielköpfige, ausschließlich männliche Führungsriege des Mattel-Imperiums geht, wird der Humor weit ins Slapstickhafte gezogen. Damit wird meines Erachtens auch vermittelt: diese Form des Europatriarchats ist nicht mehr ernst zu nehmen; das Patriarchat und der Kapitalismus sind vorbei und nur noch in ihrer Absurdität zu fassen. Ist es nicht absurd, dass die Entscheidung über Puppen für Mädchen in Männerhänden liegen? Die höchstwahrscheinlich nie mit ihnen gespielt haben, als sie Kinder waren? Die also nur projizieren können, aus keiner eigenen Erfahrung schöpfen können? Das Patriarchat likes that, natürlich, wenn Mädchen mit Männerträumen spielen; sie stimmen sich so direkt auf die Erwachsenenwelt im Europatriarchat ein. Einst zertrümmerten die Mädchen dieser Welt die Babypuppen – wie die Anfangsszene des Films suggeriert –, weil sie die ewige Mutterrolle satt hatten. Aber die Barbies versetzen die Träume des Mädchens von sich als Erwachsene ja nur in die neoliberale Welt. Deswegen ist das, was der Film macht, schon sehr intelligent: er holt zumindest das Bestmögliche aus den Spielmöglichkeiten der im und für das Europatriarchat entworfenen Barbies raus.

Ken derweil versucht sich in der echten Welt im Kapitalismus; er beansprucht Führungsrollen und auch einen Rettungsschwimmerjob für sich, aber er kann ja nix, hat keine Abschlüsse, keine Berufserfahrung, keine Rettungsschwimmerausbildung, nix. Er lernt: Mann sein allein reicht im kapitalistischen Patriarchat nicht. Und er kann ja nur Beach, und das ist für das Funktionieren im Kapitalismus zu wenig. Aber dann kombiniert Ken doch relativ clever: in Barbieland muss er keine kapitalistischen Anforderungen erfüllen; da reicht es, dass er nur Beach kann. Schnell kehrt er ohne Barbie zurück ins Barbieland. Und tatsächlich gelingt es ihm, Barbieland in allerkürzester Zeit in ein Kendom zu verwandeln, denn die Barbies haben keinerlei Resistenz oder Abwehrmöglichkeiten: Von einem Tag auf den anderen widmen sich die Präsidentin und die anderen Barbies statt um ihre Jobs und ihre Girls Nights nun lieber darum, dass ihr jeweiliger Ken immer ein Mangobierchen im Kühlschrank kaltgestellt hat, das sie ihm sofort serviert, sobald ihm danach dürstet, verbunden mit liebevollen Fußmassagen. Ihr ganzes Leben dreht sich nur noch um Ken. (Es gibt eine Szene, wo eine Barbie ruft „Aber was ist mit Ken? Kommt Ken auch mit? Wo ist Ken? Ken?“. Ich musste laut loslachen, denn diese Szene erinnerte mich stark an die Beziehung zwischen Cat und Peter in The Hunger Games (Die Tribute von Panem), wo es besonders im zweiten und dritten Teil irgendwann richtig nervt, wie oft und vehement Cat nach Peter schreit.) So ein herrliches Symbol dafür, wie das Patriarchat den Frauen die Zeit klaut, um sich ja nicht mit sich oder ihrer Liebe zur Welt zu beschäftigen. Wieviel Spaß muss die Arbeit an dem Film gemacht haben, denke ich mir manchmal.

Zunächst ist Barbie dem Kendom-Schock nicht gewachsen. Eine meiner Lieblingsszenen ist die, wie sie sich ganz kerzengerade – also puppenhaft – auf dem Gras ausstreckt und dann daliegt wie tot, erst auf dem Rücken, dann auf dem Bauch, die Nase im Gras. Sie will nicht mehr, sie schafft das nicht, das ist alles viel zuviel für sie. Und nun rücken aber alle Frauen und die perfekten und komischen und ausrangierten Barbies zusammen und sorgen als erstes dafür, dass die anderen Barbies wieder aus ihrem Patriarchats-Brainwash erwachen. Sobald das erreicht ist, lernen sie gemeinsam – angeführt durch Gloria, der Mutter von Sasha –, wie das Patriarchat zu bekämpfen ist.

Als auch das glückt und Ken seine Vormachtstellung und seine (Fake-)Beziehung mit Barbie bedroht sieht, beginnt er erstmal einen Krieg mit einem anderen Ken. Patriarchat im Brennglas, ganz zurück an ihre mythischen Wurzeln; ich musste jedenfalls an Helena und die Trojanischen Kriege denken. Wenn Patriarch*innen ihre Macht und ihren Einfluss schwinden sehen, dann ist Krieg ein probates Mittel.

Als der patriarchale Spuk dann auch irgendwann für Ken vorbei ist, ist dieser total erleichtert. Er bricht vor Barbie weinend zusammen und gibt zu, dass Anführersein furchtbar anstrengend ist. Das Patriarchat tut also auch den Männern nicht gut; auch das Thema wird im Film abgehakt. Die große Frage des „Was ist ein Ken/Mann ohne Barbie/die Frau und außerhalb des Europatriarchats?“ tut sich auf, und der Film widmet sich der Frage eine gute Weile. Unter anderem wird thematisiert, dass es sich natürlich nicht um die Umkehrung handeln kann: einfach nur zurück ins Barbieland/Matriarchat, in der Ken nur einen guten Tag hat, wenn Barbie ihn sieht (Was für ein genialer Satz gleich relativ zu Beginn des Films), ist natürlich auch keine Lösung. Auch wenn die Kens kurz freudig hüpfen und in die Hände klatschen bei der Vorstellung von Aufstiegschancen und einem ganz kleinen bisschen mehr „Gleichberechtigung“: au ja, sie werden sich fleißig die Hierarchietreppchen hocharbeiten! Kurz und knapp wird hier abgespeist, was eines der stereotypen Vorurteile gegenüber Feminismus von Leuten ist, die sich noch nie tiefer mit Feminismus auseinandergesetzt haben: die Frauen wollen doch alle nur selber an die Macht und die Männer in den Keller stoßen. Nope, that’s not what feminists want. Also nicht ausruhen, sondern gleich mal weiterdenken.

“(…) Da freut sich sogar Ken! (…) “

Nachdenken über eine postpatriarchale Utopie

Wie sieht nun eine vom Patriarchat befreite hierarchielose Gesellschaft aus? Zunächst herrscht Ratlosigkeit. Gloria schlägt daraufhin die „gewöhnliche Barbie“ vor. Ja, sie schlägt ein Konsumprodukt vor. Man kann sich darüber aufregen. Aber der Film bleibt eben konsequent in der Barbiewelt gedacht. Er geht dabei auch ein bisschen davon aus, dass Barbie als Spielzeug, als ein Ding, das gerade für Mädchen fiktive utopische Welten öffnet, die Kraft hat, Veränderung in der realen Welt zu bewirken. Phantasien haben eine starke Wirkung. Wir, die wir mit Barbies gespielt haben, wissen das. Glorias Vorschlag ist also: Barbie muss nicht Präsidentin oder stereotyp sein; was wäre, wenn sie einfach nur gewöhnlich wäre? Ich finde in diesem Angebot – denkt man es konsequent weiter – auch die Absage an die europatriarchale hierarchische Machtauslegung wieder, denn wenn alle gewöhnlich sind, gibt es keine Hierarchie mehr. Weder Ken noch Barbie müssen mehr können als Beach, wenn sie nicht wollen. Werden da die Menschen in der realen Welt nicht ein bisschen neidisch? Was wäre, wenn Geld nicht notwendig wäre für ein gutes (Beach-)Leben? Was würden die Menschen mit einem bedingungslosen Grundeinkommen tun? Ich glaube nicht, dass alle nur Beach sein oder können wollen. Einige werden vielleicht auch in der Stadtreinigung arbeiten wollen. Oder ein Buch schreiben wollen. Oder Ärzt*in sein wollen. Oder die Meere säubern wollen. Alles, nur keine Bullshitjobs mehr. Vielleicht findet auch in der realen Welt irgendwann jede Person ihr sinnstiftendes Tätigsein jenseits hierarchischer Gesellschaftsstrukturen.

Marketing- und Spielstrategie

Nicht zu Unrecht wurde auch die massive Marketingtour von Mattel und Co kritisiert, denn natürlich gibt es jetzt jede Film-Barbie inklusive der weiblichen Menschen auch in der echten Welt als Barbie zu kaufen. Klar, wieder Konsum, wieder werden Stoffe, Lebensräume samt Lebewesen unserer Welt und (fossile) Energiegewinnung genutzt, um Spielzeug herzustellen. Tscha. Da sind wir wieder an dem Punkt, an dem nichts mehr weiterzudenken geht. Böse kapitalistische Welt. Aber das ist halt noch die Welt, in der wir leben. Wir sind noch nicht draußen. Aber wir können uns rausdenken:

Denn was passiert nun mit einer stereotypischen Film-Barbie im Kinderzimmer? Ein Kind wird vielleicht damit beginnen, den perfekten Tag für Barbie zu kreieren. Doch durch den Film hat es gelernt: etwas ist falsch im Staate Barbieland. Es hatte ja Risse bekommen, und wie die zu flicken sind, das wusste im Endeffekt da auch niemand so recht; oder jedenfalls hätte mein elfjähriges Ich die Antwort nicht wirklich verstanden. Der perfekte Tag gleitet ab in einen kindergedachten perfekten unperfekten Tag. Mein elfjähriges Ich würde Barbie spätestens zur Mittagszeit einmal gerade und verweigernd auf den Boden legen; erst auf dem Rücken, dann auf den Bauch. Vielleicht passiert das mitten auf der Straße. Die Autos hupen. Ihr doch egal. Dann tragt sie doch von der Straße, wenn ihr euch traut. Yeah Barbie, ich bin so stolz auf dich, deine Verweigerung ist pure Rebellion! Wie geht’s weiter? Keine Ahnung, aber eins weiß ich: die drei Barbies meines elfjährigen Ichs werden sich jetzt – nachdem ich den Film geschaut habe – abends sicherlich nicht mehr um Ken streiten. Es gibt doch so viel Wichtigeres und/oder Spaßbringenderes zu tun.

Und wer weiß, vielleicht habe ich dann auch mal Spaß daran, mich mit Ken zu beschäftigen, um herauszufinden, wer er ohne Barbie ist. Denn im Film macht Barbie klar, dass sie nicht in Ken verliebt ist und er tief innen drin verstehen muss, dass sich sein Leben nicht mehr um sie zu drehen hat. Übrigens eine sehr elsa-eske Situation (hier habe ich über Frozen geschrieben). Absagen an die romantische heteronormative Liebe häufen sich in feministischen Filmen und Serien; und die Gründe dafür werden so vielfältig wie sie auch im echten Leben sind.

Ich finde also, es steckt nicht nur eine Marketingstrategie dahinter, sondern in gewissem Sinne auch eine Spielstrategie. Barbie ist nach dem Film nicht mehr dieselbe Puppe, die sie vor dem Film war. Sie ist nicht mehr unschuldig; sie hat jetzt eine Ahnung von der echten Welt. Sie ist jetzt eine Frau, die ihrem Gefühl folgt, und das Gefühl führt sie „ganz natürlich“ in eindeutig feministische Zonen. Das färbt auf die spielenden Mädchen ab, ich bin mir sicher. So sicher ich mir eben sein kann. ;)

Das zweite, dritte und vierte Weinen

Antje hat bereits 1997 einen wunderschönen Artikel geschrieben zum Weinen aus Zorn und Ohnmacht. Ich kenne dieses Weinen so gut. Und je mehr ich über das Weinen nachdenke, desto mehr wird mir bewusst, wie viele weitere Gründe und Auslöser es für’s Weinen gibt.

Schauen wir uns allein die vier Weinsituationen (wenn ich richtig gezählt habe) der Barbie an:

Wie es zur ersten Träne kam, habe ich bereits ausführlich beschrieben. Das zweite Weinen ereignet sich, nachdem Sasha (das ist das Mädchen, dem die stereotype Barbie gehört) ihr einen aggressiven und schlechtgelaunten Vortrag darüber gehalten hat, was für eine toxische Wirkung Barbies auf Mädchen haben.

Das dritte Weinen ereignet sich, nachdem Ken Barbie – zurück im ehemaligen Barbieland – das Mojo Dojo Casa House (ehemals das Barbiehaus, das er sich einfach angeeignet hat) präsentiert hat und ihre ganzen Klamotten vom Balkon geschmissen hat. Barbie sieht sich der Aufgabe nicht gewachsen, ihr Haus zurückzuerobern und das von Ken etablierte Patriarchat wieder zu stürzen. Sie lässt sich einfach hinfallen. Flach liegt sie da, die Nase im Gras; auch diese Szene beschrieb ich schon. Die komische Barbie trägt sie mit anderen Barbies und Sasha und Gloria in ihr komisches Haus. Sie überlegen, wie sie Barbie wieder aus der totalen Aufgabe und Verweigerung holen können. Als diese sich dann endlich aufsetzt, weint sie ein lautes, hässliches Weinen; das Gesicht verzieht sich; sie sei hässlich, sagt sie, und sie wäre den Herausforderungen einfach nicht gewachsen. Aber die anderen Barbies haben schon eine Idee, wie die Ohnmachtsgefühle zu beseitigen sind: Gemeinsam können sie es schaffen.

Das vierte Weinen ereignet sich, als Barbie zu einer echten Frau wird. Sie spürt den Atem; sie spürt, wie ihr Herz zu schlagen beginnt, und das alles bei dem wunderschönen Song von Billie Eilish, das ihren gerade gefundenen Atemrhythmus perfekt aufnimmt. Und mit dem Spüren des Atems und des Frauwerdens kommen die Tränen. Ich kann mir keine schöneren Tränen vorstellen.

Traurigkeit und Schmerzgefühle bei Wahrnehmung und Fühlen der Gewalt und der komplexen Zumutungen für Frauen in der Gesellschaft: Träne Nummer eins.

Verzweiflung gemischt mit Enttäuschung und Selbstbildkorrektur von „übergut“/perfekt zu sehr viel schlechter/irgendwie undefiniert, unklar: Weinen Nummer 2.

Nach Ohnmacht und Aufgabe und stiller, aber wirkmächtiger Rebellion gegen das Patriarchat: lautes, „hässliches“ Weinen Nummer drei.

Diese drei Weinen bauen aufeinander auf und steigern sich in ihrer Heftigkeit. Sie alle haben mit der Realisierung dessen zu tun, was es bedeutet, eine Frau in der europatriarchalen Gesellschaft zu sein: du erfährst verbale und psychische Gewalt. Dein Selbstbild ist bei Abgleich mit dem Bild, das die (patriarchal geprägten) Anderen von dir haben, immer irgendwie falsch/ver-rückt oder unklar. Dir kann alles genommen werden; einfach so: deine Realität kann ins übelste, unversteckteste Patriarchat zurückgedreht werden, auch wenn das Patriarchat für dich nie begonnen hat oder längst vorbei ist.

Aber dann; und das ist wirklich bemerkenswert: Lebendig werden, den Atem und das Herz und das Frauwerden spüren: Weinen Nummer vier.

Also allein vom Weinen ausgehend weiß ich nicht, wie dieser Film oberflächlich sein soll. Das Weinen und was dem jeweiligen Weinen vorausgeht (Gewalterfahrung, Identitätskonflikt, Verweigerung und stille Rebellion als Markierung einer Grenze: bis hierhin und keinen Schritt weiter auf diese Art mit mir) und sich ihm anschließt (noch mehr Gewalt, Verwirrung, Suche nach Identität und Lösungen) ist überhaupt ein Leitmotiv in diesem Film. Weinen als Körperreaktion zeigt an, wenn etwas Wichtiges in Barbies Körperin geschieht, noch bevor sie Worte oder gar eine Erklärung dafür hat.

Und vergessen wir aber nicht das vierte Weinen: hier zeigt es das Ereignis einer Schönheit an: es geschieht etwas, das sich für Barbie gut und genau richtig anfühlt. Dieses Weinen ist das Resultat einer mit Herz und Verstand gefällten Entscheidung, die zu mehr Selbstliebe und Liebe zur Welt führt.

“(…) JA! Wir stehn auf Barbie!”

Die seltsame Wirkung auf mich, wenn die Fußballerinnen ihre Hymnen singen

Ich bin in die Frauen-Fußball-WM erst nach einigen Spielen gerutscht. Ich wollte nicht recht, obwohl mein Mann bereits von Spiel eins total drin war. Die Faszination begann bei mir erst, als ich erlebte, wie die panamaischen Frauen vor ihrem ersten Gruppenspiel ihre Hymne sangen. Sie schrien sie, sie stießen sie hervor, sie weinten sie, sie seufzten sie… die Tränen liefen nur so an den schönen Gesichtern hinunter. Ich blieb wie angewurzelt vor dem Fernseher sitzen, und mir liefen ebenfalls die Tränen runter. Ihre Energie hatte sich auf mich übertragen.

Gerade jetzt, während ich diesen Artikel schreibe, schaue ich das Spiel zwischen Kolumbien und Jamaica an. Und natürlich ließ ich mir das Hymnensingen nicht entgehen. Und ich begann – mittlerweile erwarteterweise – wieder zu weinen. Warum sollte ich mir auch ein schönes Weinen entgehen lassen?

Diesen Körperreaktionen genauer hinterhergedacht: Was ist da los? Was ist das für ein Weinen? Bei den Fußballerinnen und bei mir?

Meines Erachtens ereignet sich beim Singen der Hymnen eine Schönheit, und die wahrzunehmen, das bringt mich zum Weinen. Die Kamera schweift ins Publikum, und ich sehe die Männer im Publikum die Hymne mitsingen. Sie begleiten das Singen der Frauen unten auf dem Spielfeld. Sie haben mit ihrem Mitsingen die Unterstützerrolle. Aber die Stimmen, die wirklich laut erklingen, das sind die der Frauen. In aller Vielfalt der Stimmen, schräg und laut und kräftig und leise und weinend und nur lippenbewegend und geistesabwesend und erfüllt und schön. Weibliche Stimmen singen Hymnen von Staaten, die patriarchal organisiert sind. Das ist irgendwie auf genauso weirde Weise ambivalent; so wie eigentlich das meiste ambivalent und weird ist im Europatriarchat, nicht nur für Frauen (wir sehen es ja an Ken), wenn frau und man nur genauer hinschaut und hinfühlt.

Diese Frauen, die ihre Hymnen singen… ich finde, das enthält eine seltsame Form und Textur des Neuen; es trägt etwas zutiefst Rebellisches in sich. Als würde das Vaterland, das besungen und auf das geschwört wird, einmal komplett auf den Kopf gestellt. Karnevalesk. Marokkanische Fußballerinnen singen aus vollstem Herzen die Hymne. Was in dem Singen meinem Hören nach enthalten ist, ist: „Das ist auch unser Land, und wir haben es bis hierher geschafft, und jetzt in diesem Moment repräsentieren wir es.“

Und nochmal: Es geht nicht ums Umdrehen; genauso wenig wie es in Barbie um das Umdrehen ins Matriarchat (hier verstanden als genauso gewaltvoll wie das Patriarchat) geht: Es geht um neue Bilder, die wir nur wahrnehmen und als solche erkennen müssen, denn die Bilder entstehen mitten in einer (vielleicht noch so kleinen) Veränderung, die wiederum aus Leidenschaft und Liebe und Hingabe von Frauen entsteht; und diese Leidenschaft und Liebe und Hingabe ist nicht dem Patriarchat gewidmet. Und wenn andere Personen genau das als eine Veränderung (die sie an sich schon für die Frauen auf dem Spielfeld ist!) wahrnehmen und auch als solche benennen, wird das Wirkungsfeld der Energie der veränderten Wahrnehmung größer und stärker, und das gibt wiederum anderen Personen die Möglichkeit, von ihr ergriffen zu werden, und auch diese Personen werden sensibler für das Aufscheinen und Aufkommen von Schönheit in den unmöglichsten und überraschendsten Situationen. In einem solchen Moment ist das Europatriarchat für einen kurzen Moment vorbei, und zwar mitten im Europatriarchat. Und da das ein Gefühl ist, das schön ist, möchte jede Person, die es einmal gespürt hat, das wieder erleben dürfen… und so kommt Veränderung in Gange.

Denkumentas und Schönheit everywhere

Ich glaube, es war Ina Praetorius, die auf der Denkumenta 2019 (hier schrieb ich über die Denkumenta) den wertvollen Ratschlag gab – und der begleitet mich seitdem überallhin –, jede Veranstaltung für die eigenen Zwecke zu „kapern“, zu einer Denkumenta zu machen. Dazu bräuchte es nur zwei von uns auf derselben Veranstaltung. Ich würde diese Idee gerne ausweiten: Vielleicht müssen wir uns gleichzeitig noch mehr im Wahrnehmen üben, um eine Denkumenta zu erkennen, die sich in unserem Beisein ereignet oder die andere für uns erdenken. Zu zweit oder mit mehreren ist das ein großer Spaß, aber auch alleine ist das möglich. Schlechte Laune und das Warten auf eine blutrünstige Kapitalismuskritik, die dann noch nicht mal kommt, ist dabei etwas, was den Blick und überhaupt die Möglichkeit auf so ein Ereignis absolut verstellt. Ein glückliches Weinen oder ein Kompliment oder ein ordentlicher Lachflash hingegen sind ein Anzeichen dafür, dass sich möglicherweise gerade eine Schönheit und/oder eine Denkumenta ereignet.

Wie kommt ein Schönheitsereignis zustande? Aus der Zusammensetzung von ambivalent wirkenden Eindrücken, wobei der Fokus auf dem guten Gefühl liegt: entweder, weil die fühlende Person das Ereignis eher positiv als negativ deutet, oder weil das Ereignis auch schon von sich aus einfach so viel Schönheit in sich trägt.

Vielleicht weinte ich mit den Hymnensingerinnen mit, weil ich mir einbildete zu verstehen, was sie fühlten: So viel erreicht. So hart trainiert. Gegen so viele Widerstände angekämpft, den tausenden Formen von Ohnmachten und Aufgebenwollen und von Gewalt standgehalten und finally durchgesetzt. Es in die WM geschafft. So viel überbrodelnde, überbordende Emotionen, die sich u.a. mit Tränen ihren Ausdruck in die Welt suchen.

Und das, was nun zum einen die Schönheit für mich ausmacht, ist, dass dieses Weinen viele Gründe und Auslöser vereint enthält: die Erinnerung an die Ohnmacht wegen des „Anders-Seins“ usw., und gleichzeitig das Spüren des Frauseins, des Atems, des Herzens, des „Genau-Richtig-Seins jetzt und hier“.

Zum anderen aber sah ich einfach nur Schönheit: ich konnte mich nicht sattsehen an all den auf so unterschiedliche Weisen strahlend schönen Frauen. In mir verband sich die Schönheit dieser (echten) Frauen mit der Schönheit der ebenfalls sehr unterschiedlichen und zusammen feiernden und dann gegen das Patriarchat ankämpfenden fiktiven Frauenfiguren und Barbies in Barbie. Sie haben gemeinsam, dass sie ganz genau wissen, was ihre jeweils sinnstiftenden Tätigkeiten sind, und wie es ist, gemeinsam im könnerischen, wissenden und intuitiven Flow und Willen ein Ziel zu erreichen.

Seltsam und ambivalent dann gleichzeitig wieder, dass so viele Fußballtrainer*innen Männer sind. Das erinnert stark an die Führungsriege-Männer bei Mattel im Barbie-Film. Beispiele aus der echten Welt und Extrapolation in der Fiktion… Volltreffer. Tscha. Das ist eben die reale Welt. Und alles ereignet sich und wirkt gleichzeitig auf sehr unterschiedliche Weise: Schönheit und Patriarchat. Genau hier entsteht die Ambivalenz. Wenn das Wahrnehmen der Ambivalenz für kurze Risse im Patriarchat sorgt, und zwar zugunsten von positiven Gefühlen und Energien, dann eröffnet sich die Möglichkeit, dass sich Schönheit ereignet.

Unzählige Lachflashs durchzogen die Aufnahmeversuche

Kitsch und Schönheit zelebrieren

Ich liebe klugen Humor, ich liebe perfekte Pässe und perfekte Ballannahmen, ich liebe tiefgründige Gespräche und Szenen in echt und in Filmen, ich liebe Flow auf dem Fußballfeld. Eine gelingender Spielzug über das ganze Spielfeld, aber auch eine saubere Ballabnahme ist wie Magie; es schauert in meinen Beinen. Ich liebe die Tränen der Barbie und das Weinen der Fußballerinnen beim Singen ihrer jeweiligen Hymne. Schauer in der ganzen Körperin. Ich liebe es, wenn Frauen ihre Kräfte, ihre Intuitionen, ihre Blicke hinter und vor der Kamera und auf dem Spielfeld verbinden; wenn Frauen sich verbünden. Meine Körperin zeigt mir an, wenn mich etwas bewegt und berührt. Ich muss dann nur diesem Gefühl folgen; und gemeinsam mit ihm nach Sprache suchen.

Gerade in Deutschland halten wir schlechtgelaunte und selbstverliebte Dauerschleifen durch intellektualisierte und technokratische Europatriarchatsgeschichte für notwendig, um zum Kern der Dinge vorzudringen, oder um eine Erklärung dessen zu kommen, was sich gerade ereignet, oder um eine Brille gereicht zu bekommen, mit der wir die Dinge erst scharf sehen können. Aber wie sollen wir mit immer derselben Brille, mit der Lust an der Nicht-Lust „neue Schönheit“ entdecken können? Auch hier gilt doch letzten Endes in gewisser Weise Audre Lordes berühmter Satz: „Die Werkzeuge des Meisters werden niemals das Haus des Meisters niederreißen.“

Barbie feiert das (teils utopische, da patriarchatslose) Frausein mit so viel Spielfreude und klugen Statements, dass es mich nicht wundert, dass ja dann doch auch viele Personen davon angesteckt werden, Lust darauf haben, in pinken Klamotten ins Kino zu gehen usw. usf. Gute Laune ist ansteckend. Pink in allen möglichen Variationen ist ansteckend. Unsere Körper*innen mögen gute Laune und Farbe. Beides tanzt in unseren Körper*innen weiter, wenn wir es lassen. Und damit tanzen sich auch die Nachrichten von der Wirkmächtigkeit von gutgelaunten und willensstarken Frauenzusammenschlüssen in die Körper*innen. Das Patriarchat wurde ziemlich offensiv und sehr humorvoll entblößt; halt dich gut fest, Patriarchat, denn wenn wir so weitermachen, lachen und tanzen wir dich bald endgültig aus unseren Körper*innen!

Vielleicht vergessen wir immer wieder, dass feministische Gefühle und Notwendigkeiten nicht nur aus der Not, aus Ekelgefühlen, aus Gewalterfahrungen und Verletzungen und Verlusten geboren werden. Sie entfalten erst ihre ganze Macht und Energie, wenn sie auch in der und aus der Schönheit heraus, im Kitsch und im vollen Gefühl der Liebe entstehen und gedeihen dürfen. Gewalt, Ekel und Schönheitsereignisse: alles ist immer da und kann sich jederzeit ereignen; hier und jetzt, mitten im Europatriarchat. Und mit Schönheitsereignissen meine ich nicht nur die Tränen der Fußballerinnen beim Singen ihrer Hymnen und ihr wundervolles Spiel, sondern auch Ereignisse, die durch Dinge entstehen, die uns im Kapitalismus gute Laune machen. Konsum über die planetaren Grenzen hinaus ist absolut Scheiße, schon klar. Aber… mit einer Barbie spielen… mit Barbies phantasievoll wirkmächtige Frauenzusammenschlüsse zelebrieren… kann pure Schönheit in den spielenden Körper*innen produzieren, durch welche das Europatriarchat wiederum Risse bekommen kann. Vielleicht brauchen wir schon bald keine Vielzahl an perfekten Barbies mehr, sondern es reicht eine einzige gewöhnliche Barbie in jeder Mädchenhand. Und viele Füße und Hände und Barbies treffen sich… vielleicht auf einem Bolzplatz… und das Spiel kann beginnen.

Zum Abschluss sei mir ein Wunsch erlaubt

Falls es einen zweiten Barbie-Film geben sollte, wünsche ich mir, dass Barbie die Plastikwelt von Los Angeles verlässt. Dass sie keine Lust auf weitere Tränen hat, die sich aus dem Leiden am Europatriarchat ergeben. Ich wünsche mir, dass Barbie stattdessen Bekanntschaft schließt und Verwandtschaft wahrnimmt zu nichtmenschlichen Lebewesen. Da sie noch nicht so verbaut vom europatriarchalen Blick ist, sie das Europatriarchat nicht von kleinauf verkörperinlicht hat und es nicht so schwer in ihr wiegt, stelle ich mir das Ereignis, wenn Barbie beispielsweise auf einen Schmetterling trifft (die Sehnsucht ist da, denn sie hatte ja mal ein Schmetterlingskleid… ;), spektakulär vor. Vielleicht wird aus diesem Zusammentreffen und der entstehenden Beziehungsweise im Haraway’schen Sinne Barbies Wunsch Gestalt annehmen, die Monarchfalter vor dem Aussterben zu bewahren, auch wenn das nicht mehr gelingen kann. Ich traue das Barbie jedenfalls zu.

Hinweis: Morgen, am 20. August 2023 um 12 Uhr wird das Finale der Frauen-Fußball-WM Spanien gegen England im ZDF ausgestrahlt.

Kommentare zu diesem Beitrag

  • Juliane Brumberg sagt:

    Da hast Du ja einen super-interessanten Artikel geschrieben, liebe Anne, und auf so viele Details aufmerksam gemacht. Ich habe null Barbie-Erfahrung, hatte aber vor, in den Film zu gehen. Nun bin ich sehr gespannt und froh, das nicht nur mit der Mainstream-Intellektuellen Brille tun zu können, sondern auch noch ganz andere Anhaltspunkte bekommen zu haben. Danke!

  • Jutta Pivecka sagt:

    Liebe Anne, wie wunderbar und detailreich du Greta Gerwigs (und – muss man hinzufügen -: Margot Robbies, die den Film auch produziert hat) “Barbie” analysiert hast. Beim Lesen habe ich die Freude, die mir schon das Anschauen des Films bereitet hat, noch einmal ganz stark spüren können.
    Die Szene, die deiner jüngeren Tochter beim zweiten Schauen am besten gefiel, hat auch mich sehr berührt. Das ist genau – wie Du es auch beschreibst – eine der Stärken dieses Films: dass er es wagt, sentimental zu sein und “zu Tränen zu rühren”, ohne in dieser Sentimentalität hängen zu bleiben. Diese Tränen sind produktiv und laden zur Utopie ein.
    Wie die Barbies “Kendom” außer Kraft setzen mit, wie man früher gesagt hätte, “den Waffen der Frau” (Mansplaining + fingierte Hilflosigkeit) und das gar nicht altbacken daher kommt, sondern fabelhaft schlau und effektiv (weil die Barbies eben von Anfang an nicht als “blonde Dummchen” gezeigt werden, die aus Mangel zu “solchen Mitteln” greifen müssen, sondern als superkompetent auf allen Ebenen), das ist halt auch grandios, finde ich. Und wie alle “Kens” “ihr Fett wegkriegen”, nicht nur die Bier trinkenden Super-Bowl-Fans, sondern auch die Indie-Gitarre-spielenden-Softies und die Punks, das gefällt mir auch. Und trotzdem werden sie ja als durchaus als lernfähig gezeigt, die Kens: eine andere Welt wird möglich, sichtbar am Horizont des Strands.
    (Mein Barbie war die Hawai-Barbie mit Bastrock, supersoftem langem schwarzen Haar und Mandelaugen. Der Bastrock musste gleich weg. Ich habe einen Safari-Anzug für sie genäht. Mein Bruder hatte einen He-Man und einen Jeep; ich ein Zelt und ein Schlauchboot für Barbie. So ging’s auf Abenteuerreisen, durch wilde Dschungel und reißende Flüsse hinunter.)

  • Anne Newball Duke sagt:

    Ha, ja danke liebe Jutta, auch für den Hinweis mit Margot Robbie, das stimmt natürlich. Ja, die Gitarren-Szene ist grandios, “4 hours later”… hehehe, auch die Verweise auf.. genau, das Mansplaning an “Der Pate” oder “DER Musikgeschichte” usw. Auch die Stiche gegen frühere “Prinzessinnenfilme”, wo der (angeblich hässlichen) Heldin nur die Brille abgenommen werden muss, et voilá, schon ist sie schön und jetzt ready für den tollsten Jungen der Schule! Einfach großartig. Ja genau, und dass die Kens eben auch lernfähig sind bzw. sein wollen, vom “Du hast mich enttäuscht!”, das Ken Barbie entgegenschmeißt (und ich die einzige im Kino war, die bei diesem Satz laut losgelacht hat… hach… Ryan… hihi), hin zum “Ok, ich finde heraus, wer ich sein kann ohne dich” usw.
    Liebe Juliane, das freut mich sehr! Have fun, dance the night away ;)!!!

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