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Viel mehr als weibliche Endungen: Zehn Punkte zur Verwobenheit von Sprache und Geschlecht

Von Antje Schrupp

Vor einiger Zeit nahm ich an einer Tagung der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft teil und hörte dort einen Vortrag der Linguistik-Professorin Damaris Nübling von der Uni Mainz über Gender und Sprache. Er enthielt so viele spannende Aspekte und Details, dass ich sie aufgeschrieben habe und hier teile, weil ich glaube, das interessiert auch andere.

Gender (also Geschlechterkonzeptionen und -vorstellungen) und Sprache sind auf allen möglichen Ebenen und unter allen möglichen Aspekten miteinander verwoben, deshalb ist es schade, dass in der öffentlichen Debatte das Thema oft auf die Frage nach weiblichen Endungen und Personenbezeichnungen verkürzt wird. Dabei sind andere Aspekte ebenso spannend. Damaris Nübling macht weniger Sprachtheorie (so wie Luise Pusch zum Beispiel) als vielmehr empirische Forschung darüber, wie gesprochen wird. Und das ist gerade in Bezug auf Geschlechteraspekte wirklich interessant, vor allem, wenn sich Gewohnheiten verändern.

Das Folgende ist eine lose Aufzählung und immer noch nur ein kleiner Ausschnitt – einfach eine Sammlung dessen, was mir besonders spannend erschien.

1. Stimmliches „Doing Gender“

Frauen und Männer drücken ihre Geschlechtszugehörigkeit auch mit der Art und Weise aus, wie sie ihre Stimme beim Sprechen einsetzen. Das nennt man „stimmliches Doing Gender“. Zwar sind menschliche Körper entlang der reproduktiven biologischen Differenz auch in Bezug auf die Stimme unterschiedlich: Menschen, die mit Vulva geboren werden, sprechen im statistischen Mittel etwas höher als Menschen, die mit Penis geboren werden.

Früher wurde dieser auf Biologie gründende Abstand sozial aktiv vergrößert: Frauen sprachen extra mit hoher Stimme und Männer extra mit tiefer, sonorer Stimme, denn beide bemühten sich, den biologisch vorhandenen „Überlappungsbereich“ der Tonhöhen, also jenes Spektrum, das natürlicherweise von allen Menschen gesprochen wird, zu umgehen. Frauen vermieden es, „von oben kommend“ dort hineinzugeraten, Männer „von unten“. Es gab also ein aktives Bemühen, beim Sprechen mit Hilfe der Stimme die eigene Geschlechtszugehörigkeit eindeutig zum Ausdruck zu bringen.

Heute wird dieser Gap tendenziell verkleinert. Frauen sprechen im Schnitt tiefer als früher und Männer höher, der „Überlappungsbereich“ wird aktiv ausgenutzt und weniger Wert darauf gelegt, dass die eigene Geschlechtszugehörigkeit bereits beim Sprechen von Dritten eindeutig identifiziert werden kann.

2. „Serialisierungsmuster“: Reihenfolgen und Hierarchien

Dass die Abfolge von geschlechtlichen Aufzählungen Hierarchisierungen ausdrückt, ist bekannt: Mann und Frau, Maria und Josef, Herr und Frau Schmidt. Wer zuerst genannt wird, ist wichtiger – Männer sind wichtiger als Frauen, außer Maria, die ist wichtiger als Josef.

Auch bei der Aufzählung von Eltern hängt es von der Bedeutungshierarchie ab, wer jeweils zuerst genannt wird: Es heißt „Mama und Papa“ (weil hier emotional aus Sicht des Kindes gedacht wird), aber „Vater und Mutter“ (weil in der Rechtsposition der Vater der mächtigere ist). Auch hier schlagen sich soziale Veränderungen im Sprachgebrauch nieder, wie Forschungen zeigen, die den Gebrauch bestimmter Ausdrücke empirisch auswerten: Trotz aller Rede von „neuen Vätern“ ist die Reihenfolge „Mama und Papa“ weiter sehr stabil, während die Reihenfolge „Mutter und Vater“ inzwischen ebenfalls häufig vorkommt und sich mit „Vater und Mutter“ abwechselt.

Womöglich ist auch der Sprachgebrauch hier ein Beleg für die Beobachtung, dass die Gleichstellung der Frauen mit den Männern im Bereich von Öffentlichkeit und Politik besser gelungen ist als die Gleichstellung der Männer mit den Frauen im Bereich Privates und Care-Beziehungen.

3. Vornamen als wichtigstes sprachliches Geschlechtsmerkmal

Vornamen sind das mit Abstand wichtigste Geschlechtsmerkmal. Wichtiger als Genitalien zum Beispiel, wie empirische Befragungen von trans Menschen zeigen: Eine Transition ist ja ein längerer Prozess mit verschiedenen Meilensteinen, aber die große Mehrheit bezeichnet den Wechsel des Vornamens als jenen Moment, in dem sie „wirklich“ im neuen Geschlecht angekommen ist – nicht die Operation oder die Kleidung zum Beispiel.

Lange Zeit war es in Deutschland auch tatsächlich so, dass Vornamen geschlechtlich eindeutig sein mussten. Inzwischen wurde das etwas aufgeweicht, und es sind auch geschlechtlich uneindeutige Namen erlaubt, allerdings weiterhin keine „falschgeschlechtlichen“. Ich darf also ein weibliches Kind nicht „Peter“ nennen, höchstens „Alex“.

Auch bei der Personenstandsänderung von trans Männern oder trans Frauen ist heute nur noch eine einzige Maßnahme verpflichtend vorgeschrieben, und das ist die Änderung des Vornamens. Ein trans Mann kann die Vulva behalten, kann gebären, kann weiterhin Röcke und Stöckelschuhe tragen, aber er muss sich einen männlichen Vornamen geben, um im Personenstandsregister als männlich eingetragen zu sein. Das wird voraussichtlich auch mit dem neuen Selbstbestimmungsgesetz so bleiben (es gibt aber auch keine Forderung, das zu ändern, gerade weil eben fast allen trans Menschen die Änderung des Vornamen so wichtig und eine Selbstverständlichkeit ist).

Das heißt: Der Vorname wird so langsam zum einzig noch verbleibenden „sicheren“ Geschlechtsmerkmal, das wir haben, da alles andere – Kleidung, Genitalien, Sozialisierung, Performance – nicht mehr geschlechtsspezifisch gelesen wird (oder werden soll). Lediglich am Namen halten wir fest.

4. Genderphonografie: das Geschlecht der Laute

Es gibt noch andere interessante Entwicklungen in Hinblick auf das Geschlecht von Namen, und zwar Bezug auf die „Genderphonographie“. Der Begriff bedeutet, dass wir bestimmten Lauten ein Gender zuordnen, auch wenn es gar keine existierenden Wörter sind. In Tests kam heraus, dass wenn man Leuten Phantasiewörter als Vornamen anbietet und fragt, ob das ein Jungen- oder ein Mädchenname ist, zu 90 Prozent Übereinstimmung herrscht. Wir „wissen“ also, ob ein Wort „männlich“ oder „weiblich“ ist, auch wenn es das Wort gar nicht gibt!

Nun sind aber seit einigen Jahren Jungennamen populär, die – etwa durch ihre Endung auf „a“ – phonetisch „weiblich“ klingen, wie Luca, Jona und so weiter. Bei Mädchennamen kommen verstärkt kurze, teils einsilbige Namen (Kim, Ann, Sue) hinzu deren Genderphonographie uneindeutig ist.

Ein letzter Punkt beim Thema Vornamen betrifft die Verwendung von Namen innerhalb von sozialen Beziehungen. Dabei zeigt sich, dass sich Klangmuster im Lauf der Zeit nivellieren und sich innerhalb bestehender Beziehungen angleichen. Das heißt, wenn man Personen neu kennenlernt, ist in der Kommunikation der geschlechtlich konnotierte Vorname wichtig, wenn man mit ihnen aber vertrauter wird, wird das Geschlecht irrelevanter und zum Beispiel aus Ulrich oder Ulrike wird gleichermaßen „Uli“.

Geschlecht, schließt Nübling daraus, scheint eine Ressource zu sein, die in der Phase wichtig ist, wenn Beziehungen aufgebaut werden, während es innerhalb von länger bestehenden engen Beziehungen dann nicht mehr notwendig (oder zu anstrengend) ist, dauernd das Geschlecht aufzurufen.

5. Das Gender von Menschen, Tieren und Sachen

Ob ein Wort im Deutschen geschlechtlich konnotiert ist, hängt sehr stark davon ab, ob es sich um etwas Belebtes oder etwas Unbelebtes handelt: Je mehr „Animat“, desto wichtiger ist es, sprachlich ein Geschlecht zuzuweisen. Der Zusammenhang ist aber nicht einfach Ja/Nein (nach dem Motto: Belebtes hat ein Geschlecht, Unbelebtes nicht), sondern es ist eine Skala. Sie reicht auf der „belebten“ Seite in absteigender Intensität von Menschen über Tiere und Pflanzen bis hin zu Dingen, Stoffen und Konzepten.

Dabei können auch die einzelnen Punkte untereinander nochmal differenziert werden: Bei den Menschen ist das „Ich“ das am höchsten „animierte“ Wesen, dann kommen Verwandte, dann andere Personen.  Auch die Tiere sind in Bezug auf ihr Animat in sich differenziert: Säugetiere sind „animierter“ als Insekten zum Beispiel. Götter gelten als hoch animiert, was bedeutet, dass die Behauptung, Gott sei geschlechtslos, tatsächlich nur eine Behauptung ist. Gottes sprachliches Geschlecht hat aufgrund der großen „Lebendigkeit“ Gottes extrem hohe Bedeutung. Das ist vermutlich der Grund, warum neutrale Gottesbegriffe nicht gut in der Praxis funktionieren.

6. Geschlecht und Verwandtschaft

Interessant sind die Auswirkungen veränderter Geschlechterrollen auf Verwandtschaftsbezeichnungen, insbesondere Eltern. Traditionell gibt es für Verwandtschaftspositionen im Deutschen gar kein „Hyperonym“, also keinen geschlechtsunabhängigen Begriff: Man ist entweder Mutter oder Vater, Onkel oder Tante, Oma oder Opa. Übergeordnete Begriffe („Eltern“) existieren nur im Plural.

Allerdings zeigen sich auch hier sprachliche Veränderungen in der Folge gesellschaftlicher Veränderungen. Während die Bezeichnungen „Vater“ und „Mutter“ historisch etwas sehr Unterschiedliches bedeutet haben (Mutter als biologische Gebärerin und materielle Versorgerin, Vater als gesetzliche Rechtsposition und Machtfigur), geht man heute tendenziell davon aus, dass Väter und Mütter dasselbe tun (sollten). Damit ergibt sich aber häufig die Notwendigkeit, ein Hyperonym zu finden, um sprachlich auszudrücken, dass eine der beiden Personen, egal welche, gemeint ist. „Elternteil“ ist als Begriff dafür aus einer bürokratischen Notwendigkeit heraus entstanden, nicht aus dem Sprachgebrauch selbst. In queerfeministischen Kontexten hat sich inzwischen manchmal das Wort „Elter“ als Hyperonym für Vater/Mutter etabliert.

Für andere Verwandtschaftsbeziehungen – Großeltern, Onkel und Tanten, Cousinen und Cousins – gibt es weiterhin keine Hyperonyme.

7. Das Genus-Sexus-Prinzip

Ein Lieblingsargument, das Kritiker*innen des „Genderns“ in der Sprache immer wieder vorbringen, ist die Behauptung, Genus (also die grammatikalische Form) und Gender (soziale Geschlechterkonzepte) hätten nichts miteinander zu tun. Damit wollen sie begründen, warum das generische Maskulinum gar kein Problem sei, da grammatikalisch männliche Begriffe ja problemlos weibliche oder nicht binäre Personen bezeichnen könnten. Sie bestreiten also das Genus-Sexus-Prinzip, wonach aus dem Genus eines Wortes (dem grammatikalischen Geschlecht) auf den Sexus (die geschlechtliche Zugerhörigkeit) geschlossen werden könne.

Auch hier ist das Problem deutlich komplexer als ein einfaches Ja/Nein. Nach Einschätzung von Damaris Nübling ist eine „Vergeschlechtlichung“ durch das grammatikalische Geschlecht tatsächlich nicht zu 100 Prozent gebahnt, aber doch zu über 90 Prozent. Einige Beispiele aus ihren empirischen Forschungen.

Eine Studie forderte Menschen auf, folgende Sätze zu beenden: „Die junge Person am Fenster heißt…“ beziehungsweise „Der junge Mensch mit Fahrrad heißt…“ Weil ja Namen, wie oben ausgeführt, eine sehr große geschlechtliche Eindeutigkeit haben, war diese Frage gut geeignet, um die geschlechtlichen Assoziationen der Worte „Person“ und „Mensch“ abzufragen, zwei Begriffe, die zwar beide inhaltlich in Bezug auf Gender neutral sind, aber vom Genus her einmal weiblich „die Person“ und einmal männlich „der Mensch“.

Bei der Frage nach dem Namen einer „jungen Person“ antworteten 30 Prozent mit einem männlichen, 65 Prozent mit einem weiblichen und 5 Prozent mit einem geschlechtlich uneindeutigen Namen. Es zeigt sich also ein deutlicher Trend, die geschlechtsneutrale, aber vom Genus her weibliche „Person“ auch als weibliches Gender zu interpretieren. Allerdings eben nur ein Trend, da es immerhin bei einem guten Drittel der Antworten anders war. Sehr viel eindeutiger war das Ergebnis allerdings bei „Mensch“: Hier antworteten 95 Prozent der Befragten mit einem Männernamen, aber nur 5 Prozent mit einem uneindeutigen oder weiblichen Namen.

Dass vom grammatikalischen Geschlecht auf das Geschlecht in der Realität geschlossen wird, lässt sich also recht eindeutig belegen, jedenfalls im Trend. Sie lässt sich übrigens nicht nur beobachten, wenn es um Personen/Menschen geht, auch sonst gibt es zahllose Beispiele: In figurativen Darstellungen von Mosel und Rhein zum Beispiel wird immer der Rhein als Mann, die Mosel als Frau interpretiert. Im Kinderbuch von „Herr Löffel und Frau Gabel“ ist klar, dass die Gender-Identität dem grammatischen Genus folgt. Und so weiter.

8. Das Sexus-Genus-Prinzip

Während sich vom grammatikalischen Genus zu 90 Prozent auf das Geschlecht einer Person oder Sache schließen lässt, besitzt anders herum das Sexus-Genus-Prinzip, also das Prinzip, wonach geschlechtlich bestimmte Personen oder Dinge auch in der Sprache mit demselben Genus bezeichnet werden, sogar zu 99 Prozent Gültigkeit.

Allerdings nicht zu 100 Prozent, und gerade die wenigen Ausnahmen vom Sexus-Genus-Prinzip sind interessant. Verteidiger des generischen Maskulinums führen diese Ausnahmen oft als Beweis dafür an, dass Geschlecht und Genus eben nichts miteinander zu tun hätten: die Schwuchtel als weibliche Bezeichnung für einen Mann, das Mädchen als neutraler Begriff für ein weibliches Kind. Tatsächlich sind diese Ausnahmen aber keineswegs ein Beweis dafür, dass Sexus und Genus nichts miteinander zu tun hätten, ganz im Gegenteil: Gerade sie belegen, wie eng Geschlechtervorstellungen durch das grammatikalische Geschlecht ausgedrückt und normiert werden.

Denn wenn vom Sexus-Genus-Prinzip abgewichen wird, wenn also für eine geschlechtlich eindeutig bestimmte Person ein abweichendes grammatikalisches Genus verwendet wird, dann dient das immer dazu, eine Abweichung von der Geschlechterordnung zu markieren. „Der Vamp“ ist eine Frau, die – entgegen der Norm – Männer beherrscht. „Die Schwuchtel“, „die Memme“ sind abwertende Bezeichnungen für „unmännliche“, weil homosexuelle oder feige Männer. „Das Aas“, „das Luder“ ist abwertend für eine „nicht respektable“ Frau.

Interessant dabei ist, dass weibliche Personen hier in der Regel ins Neutrum rutschen, männliche Personen hingegen ins Femininum. Das Ganze funktioniert sogar mit Namen „(die Westerwelle“, „das Merkel“).

9. Das Neutrum als Genus für defizitäre Weiblichkeit

Das Neutrum-Genus dient im Deutschen eigentlich zur Bezeichnung von Unbelebtem, von Objekten und Stoffen. Auf Personen bezogen bezeichnet es die „Vorgeschlechtlichkeit“ von Personen, etwa „das Kind“.

Dass weibliche Personen durch grammatikalisches Neutrum ent-sexualisiert und/oder abgewertet werden, war nicht immer so. Noch im Mittelhochdeutschen des 12. Jahrhundert gibt es keine Neutrums-Bezeichnungen für weibliche Personen (auch nicht in stark frauenfeindlichen Dokumenten wie den Protokollen der Hexenprozesse im 16. Jahrhundert). Die sprachliche Form des „Neutrums für deviante/unfertige/unvollständige Frauen“ entstand vermutlich erst im 18./19. Jahrhundert zusammen mit der modern-bürgerlichen Geschlechterdifferenz.

Es gibt Personen, die gegen das Neutrum quasi „geschützt“ sind, und zwar sind das alle Männer sowie die verheiratete sozial arrivierte (Ehe-)Frau/Mutter. Diese Personen können ihre Geschlechtlichkeit sozusagen per Definition nicht verlieren. Insbesondere das Wort „Mutter“ ist ultra-stabil, es existiert in indogermanischen Sprachen seit rund 6000 Jahren. Der Begriff war bis vor kurzem vollkommen unsexualisiert, die heutige Sexualisierung von Mutterschaft (zum Beispiel als MILF/”Mom I‘d like to fuck”) ist eine ganz neue Entwicklung.

Bei Frauen wird der Übergang vom „Fräulein“ zur „verheirateten Frau“ traditionell mit dem Wechsel von „es“ zu „sie“ markiert; neben dem Wechsel des Nachnamens bei der Heirat gibt es also auch einen Wechsel im grammatikalischen Genus. Nübling hat in ihrem Vortrag ein eindrückliches Beispiel dafür zitiert aus einer Gerichtsverhandlung im 17. Jahrhundert, bei der der Richter eine Angeklagte befragt und sie im Femininum anspricht, solange er sie für verheiratet hält, aber in dem Moment, als er erfährt, dass sie unverheiratet ist, ins Neutrum wechselt. Es war also die Ehe (nicht die Mutterschaft), die eine weibliche Person auf sprachlicher Ebene vom Neutrum ins Femininum brachte: Auch Frauen, die geboren hatten, wurden im Neutrum angesprochen, wenn sie unverheiratet waren.

Nun ließe sich einwenden, dass es ja auch für männliche Personen neutrale Bezeichnungen gibt, was stimmt, allerdings nur in Diminutiven („Bübchen“). Verkleinerungsformen haben aber im Deutschen immer ein neutrales Genus. Was es bei Jungen/Männern niemals gibt, das sind neutrale Genus-Bezeichnungen, die kein Diminutiv sind, sondern ein eigenständiges Wort. Andersherum können allerdings Diminutive, auf Frauen angewendet, dazu dienen, Neutra zu generieren – „das Fräulein“ etwa, das irgendwann „lexikalisch“ wurde, also ein eigenständiges Wort, das nicht mehr nur der Diminutiv eines anderen Wortes ist, sondern einen eigenen Eintrag bekommt („Fräulein“ bedeutet nicht mehr „kleine Frau“, sondern „unverheiratete Frau“, so wie „Mädchen“ nicht mehr ein kleines weibliches Kind bezeichnet, sondern jedes weibliche Kind, auch ein großes).

Natürlich gibt es auch beleidigende und abwertende Ausdrücke für Männer, aber aus linguistischer Perspektive ist das ein Unterschied: Männer werden abgewertet, indem man sie mit abwertenden Wörtern bezeichnet. Frauen werden durch das Genus-System als solches, also auf der sprachlichen Ebene, abgewertet.

Noch eine interessante Unterbemerkung: In manchen Gegenden Deutschlands (zum Beispiel in der Eifel) ist das Neutrum als Anrede weiblicher Verwandter ein Merkmal von Nähe und Zugehörigkeit – „Das Hilde“. Auch das ist historisch gewachsen. Das Neutrum als Genus wurde ursprünglich innerhalb der Familie für alle unverheirateten Frauen verwendet (die noch nicht sexualisierten Mädchen) und zusätzlich vom Ehemann für die Frau, die mit ihm verheiratet war. Inzwischen hat sich diese Hierarchisierung „horizontalisiert“, das heißt, innerhalb der Familie/des Dorfs können alle Frauen im Neutrum bezeichnet werden, als Genus markiert es aber immer noch eine Beziehungsebene, denn „zugezogene“ Frauen werden weiterhin im Femininum angesprochen.

10. Und was ist jetzt mit dem generischen Maskulinum?

Das feministische Argument „Beim generischen Maskulinum sind Frauen nicht mitgemeint“ ist ein politisches Argument, der Realität entspricht es in dieser Eindeutigkeit nicht. Wenn man die Sache empirisch untersucht, also die Frage stellt, ob der Gebrauch des generischen Maskulinums in einem konkreten Fall geschlechterübergreifend verstanden wird oder nur als Bezeichnung für männliche Personen, kommt heraus, dass auf einer Skala von Null bis Hundert alles möglich ist.

Es gibt Fälle, wo die geschlechterübergreifende Bedeutung des Maskulinums zu 100 Prozent klar ist. Bei einem Satz wie „Frankfurt hat 700.000 Einwohner“ kommt niemand auf die Idee, damit könnten nur Männer gemeint sein. Wenn es hingegen heißt: „Zehn Bergarbeiter wurden verschüttet“ werden so gut wie alle Menschen sich nur Männer vorstellen.

Insgesamt zehn Faktoren hat Nübling ausgemacht, die einen Einfluss darauf haben, ob eine Zuhörer*innenschaft beim Gebrauch des generischen Maskulinums auch Frauen und nicht binäre Menschen assoziiert oder nicht: Singular (tendenziell nein) oder Plural (tendenziell ja), ob jemand direkt angesprochen wird (nein) oder ob über Dritte gesprochen wird (ja), ob es um Berufe geht (nein) oder um soziale Rollen (ja), ob die Bezeichnenden im wahren Leben überwiegend Männer sind (nein) oder Frauen (ja), iob die bezeichnende Tätigkeit eher weiblich konnotiert oder eher männlich konnotiert ist und so weiter. Vieles davon ist unmittelbar plausibel. „Es waren 15 Teilnehmer im Yogakurs“ evoziert eher die Assoziation weiblicher Personen als „Es waren 15 Teilnehmer beim Skatturnier“. Die Frage, ob das generische Maskulinum Frauen mitmeint und wie es ankommt, ist also recht komplex.

Noch komplizierter wird es dadurch, dass auch der Sprachgebrauch selbst wieder Einfluss auf das hat, was gehört wird: Je mehr und länger es gesellschaftlich üblich ist, weibliche Bezeichnungen mitzunennen, desto weniger lässt sich die männliche Form noch für einen „generischen“ Gebrauch nutzen. So stellt man sich unter „Schülern“ inzwischen tatsächlich nur noch männliche Schüler vor, während das vor 40 Jahren noch anders war.

Das finde ich dann zum Schluss eine gute Nachricht: Je mehr wir weibliche und geschlechterinklusive sprachliche Formen im Alltag benutzen, desto weniger wird das generische Maskulinum noch zu gebrauchen sein – ganz unabhängig von leidigen theoretischen Debatten.

Autorin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 29.07.2023

Kommentare zu diesem Beitrag

  • Esther Gisler Fischer sagt:

    Liebe Antje
    Danke für deine spannenden Ausführungen. Nur schade, dass du die Kategorie ‚Frau‘ vollkommen aufgibst.
    Zum Pkt. 10: Was immer eine Linguistin meint; als Frau beim generischen Maskulinum mitgemeint zu sein ist Schnee von vorvorgestern.
    Mlg. Esther.

  • Merci für die erhellende Aufklärung, sie hilft beim differenzierten Wahrnehmen. Herzlich Adelheid

  • Kristin Flach-Köhler sagt:

    Liebe Antje,
    vielen Dank, dass du das hier mit uns teilst.
    Das ist wirklich spannend und zeigt, dass sich Sprache sehr viel mehr durch ihre kontextuelle Praxis entwickelt und verändert und Regelwerke das kaum einfangen können.
    Ich werde mir den Artikel gleich ausdrucken.
    LG Kristin

  • Antje Schrupp sagt:

    @Esther – Was meist du damit, dass ich die Kategorie “Frau” aufgebe?

  • Elfriede Harth sagt:

    Faszinierend. Es würde mich interessieren, warum bestimmte Bezeichnungen ein bestimmtes Geschlecht haben…. z.B. Die Gruppe, Die Nation, Die Familie, Die Verwandschaft, Die Ethnie, Die Gattung, Die Religion, Die Zugehörigkeit, Die Zivilisation, Die Kutur, Die Menschheit, Die Sorte, Die Art, Die Sprache… und dann wieder andere Der Staat, Der Clan, Der Stamm, Das Volk, Das Vaterland…..Irgendwie erscheint es ja verständich, dass es heißt: Die Vulva, Die Scheide, Die Gebärmutter, Die Matrix, (aber Der Uterus! oder Der Schoß, Abrahams Schoß!), Die Brust.. und Der Hoden, Der Penis…

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