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LEGENDEN IM KINDERZIMMER, SCHWEBEND

Von Jutta Pivecka

Eine Ausstellung in den Rüsselsheimer Opel-Villen zeigt „BRAVO“-Starschnitte von den 1960er bis 2000er Jahren und ermöglicht einen Blick auf die Jugendkultur der BRD in dieser Zeit.

Der erste BRAVO-Starschnitt:
Brigitte Bardot, 1959

Wir Boomer aus der alten BRD treten nun endgültig ein ins Lebensalter der nostalgischen Verklärung unserer Jugendjahre. Die Generation der zwischen 1955 und 1969 geborenen „Babyboomer“ blickt in ihrer Mehrheit zurück auf ein von Horizonterweiterung und Konsumausweitung geprägtes Leben: mehr Bildungschancen, höhere Einkommen und mehr Komfort, weiter entfernte Urlaubsziele, mehr individuelle (auch sexuelle) Freiheiten und weniger soziale Kontrolle im Alltag als die Generation unserer Mütter haben die meisten von uns erleben können.

Für viele von uns gehört die „BRAVO“, eine zur führenden Jugendzeitschrift mutierte Fernsehzeitschrift, die erstmals 1956 erschien, fest zum Erinnerungspanorama einer Jugend in den 70er und frühen 80er Jahren. In ihrer Glanzzeit erreichte die Zeitschrift eine Auflage von 1,9 Millionen. Mancher wurde im Elternhaus der Erwerb oder sogar das Lesen der Zeitschrift verboten, vor allem wegen der Rubrik „Dr. Sommer“, in der es um Liebe und Sex ging, um die Erforschung des eigenen und des anderen Körpers, des sexuellen Begehrens und des Umgangs mit dem Begehren der anderen. Und selbstverständlich auch wegen der „Foto-Love-Stories“ (erstmals 1972), in denen nicht selten nackte Brüste und Hintern zu sehen waren. In der BRD war man noch prüde (vielleicht auch einer der Unterschiede zur DDR, wo die Freikörperkultur sich großer Beliebtheit erfreute, aber das müssten jene beurteilen, die dort aufgewachsen sind). Die „BRAVO“ galt als Verderberin der Jugend, weil in ihr Techniken der Onanie ebenso thematisiert wurden wie die Frage, wie ein Mädchen „Nein“ zu den sexuellen Wünschen eines Jungen sagen kann, obwohl sie ihn mag und mit ihm „gehen“ will. Elterliche Verbote blieben indes wirkungslos. In der Schule ging die „BRAVO“ rum, wir diskutierten eifrig die Antworten von „Dr. Sommer“ auf Leserbriefe. 

Aufklärung für Fortgeschrittene

Wir lasen und kauften die „BRAVO“ jedoch nicht nur wegen „Dr. Sommer“ und der Foto-Love-Story, sondern auch, weil sie uns unsere „Stars“ vorstellte, die von uns angehimmelten Bands, Sängerinnen und Schauspielerinnen. Das Taschengeld (auch eine „Erfindung“ jener Jahre in der aufstrebenden Mittelschicht) war bei den meisten knapp, weswegen wir in der Regel die „BRAVO“ abwechselnd kauften und einander ausliehen. Die Macher wussten jedoch einen Weg, um mehr von der neu gewonnen Kaufkraft der Jugendlichen zu profitieren: den STARSCHNITT. Wenn eine einen vollständigen Starschnitt wollte, musste sie zwischen 10 und mehr als 30 (!) Hefte sammeln, die einzelnen Poster herauslösen, zusammenkleben und akkurat als Silhouette ausschneiden. Dann erst hingen sie an der Wand des Kinderzimmers, lebensgroß, in lässigen Posen: Mick Jagger (1971), Alice Cooper (1973), die Bay City Rollers (1975), Juliane Werding (1976), ABBA (1977), Boris Becker (1982)….

Pierre Brice als Winnetou, 1977

Bei mir war es Pierre Brice, als der von mir verehrte Winnetou, der tatsächlich sogar dreimal mit einem Star-Schnitt geehrt wurde. Ich sammelte, schnitt und klebte den Starschnitt von 1977. Für mich war das eine gewaltige Investition, an Taschengeld, Zeit und Mühe. Und dann hing er da auf meiner lindgrünen Tapete; sorgfältigst ausgeschnitten auch ganz filigran die legendäre Silberbüchse. Mit dem Starschnitt zog sie in mein Zimmer ein, die Aura des edlen Häuptlings der Apachen, dem der Schauspieler Pierre Brice die Gestalt verliehen hatte. 

Die Opel-Villen in Rüsselsheim zeigen eine große Auswahl der populären BRAVO-Starschnitte von den 60er bis in die 00er Jahre. Alles begann mit 1959 mit den „Füßen von Brigitte Bardot“, der die Ehre des ersten Starschnittes zuteil wurde. In schwarzer Lingerie und mit Netzstrümpfen greift sich die Bardot ins Haar und schaut die Betrachter herausfordernd an. Noch sind die Zielgruppe offensichtlich nicht zwangsläufig jugendliche Fans. Das ändert sich bald, vor allem nachdem die BRAVO 1966 mit der „BRAVO-Beatles-Blitztournee“ zur Promoterin von deren rasanten Höhenflug beim jugendlichen westdeutschen Publikum geworden war. BRAVO-Starschnitte gab es aber nicht nur von internationalen Stars, sondern ebenso von heimischen Schlager- und Filmsternchen, wie eben Pierre Brice, Freddy Quinn (1960) oder Jürgen Drews (1976). Die überwältigende Mehrzahl der Starschnitte zeigte männliche Stars, vielleicht auch weil die BRAVO überwiegend, wenn auch nicht nur, von weiblichen Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 15 gelesen wurde, die sich eben ihren „Schwarm“ (sagt man das noch?) übers Bett hängen wollten. 

Diana Rigg als “Emma Peel”, 1967

Beate Kemfert, die Leiterin der Opel-Villen, hat sich dafür entschieden, in der Ausstellung dieses anteilige Geschlechterverhältnis nicht abzubilden, sondern besonders viele Starschnitte mit weiblichen Protagonistinnen ausgewählt. So zeigt sich nicht nur, für welche Männertypen Mädchen in den 60er, 70er und 80er Jahren schwärmten, sondern auch, wie sich die Frauenbilder änderten: Von Brigitte Bardot, die noch ganz schlicht den „male gaze“ bedient, zwischen Mädchen und „femme fatale“ (wie eben auch – an der Seite von Curd Jürgens – im Film „Und immer lockt das Weib“, 1956),  über die coole Diana Rigg (als “Emma Peel” aus „Mit Schirm, Charme und Melone“) im Karate-Anzug bis zur großartigen Juliane Werding auf dem Chopper.

Die Ausstellung in Rüsselsheim kann auch in dieser Hinsicht nostalgisch stimmen, denn sie verweist auf einen Kapitalismus, der zwar mit den Träumen, für die unsere Stars standen, Geld verdiente, aber noch nicht versuchte, den Warenkonsum selbst als einzigen Traum darzustellen. Repräsentation hat selbstverständlich immer auch mit Macht zu tun. Das Verhältnis zwischen uns, den BRAVO-Leserinnen und denjenigen, die die „Ehre“ eines Starschnittes erhielten, war steil hierarchisch: Sie waren überlebensgroß, weit über uns und entfernt von unserem Alltagsleben, für das meist noch die Eltern die (damals oft wesentlich engeren) Regeln aufstellten. Das Aufhängen eines Starschnittes von den Village People (1979) oder KISS (1980) an der Kinderzimmerwand empfanden so mancher Vater und so manche Mutter als pure Provokation. Aber die Starschnitte ermächtigten uns in diesem Sinne auch, gerade weil sie Provokation ermöglichten und uns an der Aura teilhaben ließen, mitten in unseren Jugendzimmern den Raum zu öffnen für was Anderes, Größeres, Internationales, Besonderes, das da, wo wir (noch) waren, (noch) nicht möglich erschien, das wir uns aber erträumen konnten. 

Village People, 1979

Die Starschnitt-Fotos wurden exklusiv für die BRAVO aufgenommen, mit wenigen Ausnahmen bereits verstorbener Stars (z.B. Marilyn Monroe, 1978 oder James Dean, 1979), die gemalt wurden. Das bedeutet, dass die Starschnitte gleichermaßen repräsentieren, was und wen die BRAVO jeweils für „Starschnitt“-würdig hielt, aber auch, wie sich die jeweiligen Stars selbst ihrem Publikum darstellen wollten. Dabei fällt auf, dass es durchgängig erkennbar Posen sind, die eingenommen werden. Ziel dieser Darstellungsweise ist es nicht „authentisch“ und „alltäglich“ zu wirken. Die Stars zeigen sich als Stars, in komponierten Outfits und Gruppenensembles (die Bands), mal lässig liegend, mal hockend oder im Schneidersitz. Wichtig ist auch, dass sie immer direkt in die Kamera und d.h. die Betrachterin anblicken. Indem die Silhouette ausgeschnitten wird, ergibt sich auch kein Bild (das in der westlichen Sehtradition als begrenztes Viereck, seit der Renaissance meist mit Vorder-, Mittel- und Hintergrund, definiert ist). An der Wand angebracht scheinen die Stars völlig kontextfrei geradezu zu schweben. Lebensgroß zusammengeklebt schauen sie direkt hinein ins Alltagsleben ihrer Fans: Ich bin DA, wir sind DA, sagt der Starschnitt, ganz DA, gegenwärtig und vollständig, hier bei Dir, in Deinem Kinderzimmer, jetzt! Aber eben nicht als Hobbykoch Pierre Brice oder als Brüderpaar Langmuir, sondern als Winnetou oder Bay City Rollers. Der selbstausgeschnittene und geklebte Starschnitt als Format schaffte es so, noch einmal eine Aura zu schaffen und in die heimischen Jugendzimmer zu transportieren, die Distanz zwischen Fan und Star zu überbrücken, aber ohne diese Aura der Stars zu zerstören. Winnetou im Kinderzimmer stand für den Traum vom edlen Apachen und verwandelte Pierre Brice noch nicht in einen puren Werbeträger.

Die Influencer-Welt der Social Media, in der sich heutige Jugendliche orientieren, ist dagegen wieder zum Bild zurückgekehrt, häufig gar zur noch einschränkenderen quadratischen Kachel wie auf Instagram. Influencer, die „Stars“ von heute, zeigen sich beim Aufstehen, im Badezimmer, in der Küche, räkeln sich auf ihren Sofas oder in Dubai am Pool, fahren in dicken Autos an den Strand, sie posen vor dem Eiffelturm oder am Strand von Barcelona. Dabei halten sie Produkte in die Kamera oder tragen sie am Körper, die die Jugendlichen über die unter dem Bild befindlichen Links bestellen können. In den bildbegleitenden Texten werden die Betrachterinnen direkt angesprochen; die Influencer simulieren eine unmittelbare Beziehungen zu ihren Fans, die gerade keine Aura entfaltet, sondern Influencer und Publikum auf eine Ebene stellt in ihrer gemeinsamen Funktion, nämlich als Konsumentinnen. Die Träume, die sie erzählen und zu denen sie verführen, bestehen daraus, eine ebenso gute, perfekte Konsumentin zu werden, wie die Influencerin selbst es zu sein vorgibt: Ich bin, was ich kaufe.

Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmidt haben über die „Ideologie der Werbekörper“ im Netz ein lesenswertes Buch geschrieben, das u.a. auch ein Kapitel zu Geschlechterrollen enthält.* Sie zeigen, dass in der Influencer-Sphäre das Geschlechterverhältnis, anders als bei den BRAVO-Starschnitten, durchaus ausgeglichen ist, weibliche Influencerinnen sogar vielfach dominieren. Die erreichte Quote führt aber nicht zwangsläufig dazu, dass Geschlechterrollenstereotype sich auflösen Zwar treten die Influencerinnen als selbstbewusste freie Unternehmerinnen auf, doch erhöhen sie kaum die Sichtbarkeit unterschiedlicher Frauen, sondern bedienen weitgehend drei Typen, wie Nymoen und Schmidt nachweisen: „die sexy Businesswoman, die ewige Lolita oder die eine Playmate-Ästhetik bedienende Sexbombe.“ Während  also mit den Starschnitten von Emma Peel oder Juliane Werding in den 70er Jahren neue Frauenbilder entworfen wurden, reduzieren die Influencerinnen diese Bildmöglichkeiten wieder auf„Sexyness“: „Bestätigt wird dabei eine Ästhetik, die jahrzehntelang der Unterdrückung von Frauen diente und welche die (zumeist weiblichen und jungen) Follower drängt, sich selbst diesen Normen und Selbstdarstellungen anzupassen.“

Die BRAVO und mit ihr die Starschnitte, so lernte ich im Studium Jahre später, war Teil jener “Kulturindustrie” (Adorno/Horkheimer), die uns ein falsches Bewusstsein vermittelte und daran hinderte, die Warenförmigkeit aller Verhältnisse im Kapitalismus zu erkennen. Tatsächlich könnte man jene „Aura“ der Starschnitte, die mich in der Ausstellung in Rüsselsheim so angesprungen hat, genau so interpretieren. Als nostalgisch gestimmte Boomerin aber nehme ich auch wahr, dass gerade aus diesem fiktiven Scheinen und Glimmern heraus, schwebend über unseren Betten, sich eben doch noch Träume entwickeln ließen, weiter hinaus über das, was war und was möglich schien, die sich nicht völlig darin erschöpften, etwas (und mehr) zu kaufen. Eine musste  sich ihren Starschnitt kaufen (die BRAVO-Hefte), aber man konnte ihn gleichzeitig eben auch nicht kaufen, sondern musste ihn selbst ausschneiden und kleben. Jetzt soll eine stattdessen, polemisiere ich, nur noch einen Button drücken, um eine Bestellung aufzugeben. 

Aber vielleicht ist meine Wahrnehmung auch durch die Nostalgie völlig verzerrt und Jüngere könnten die Ikonographie der Starschnitte (und im Vergleich dazu die Online-Kacheln der Influencerinnen) ganz anders deuten. Die Ausstellung in Rüsselsheim ist jedenfalls sehr sehenswert. Ich bin gespannt auf die Blicke und Wertungen der Anderen, der Jüngeren, der Nicht-Westdeutschen….

“BRAVO”-Starschnitte. Eine Sammlung von Legenden

Noch bis zum 1. Oktober 2023 in den Opelvillen in Rüsselsheim: https://www.opelvillen.de/de

*Ole Nymoen/Wolfgang M. Schmitt: Influencer. Die Ideologie der Werbekörper, edition suhrkamp 2021

Autorin: Jutta Pivecka
Redakteurin: Jutta Pivečka
Eingestellt am: 02.07.2023
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