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Care-Arbeit, Naturprozesse, (ehemalige) Kolonien und Commons: das unterschlagene Außen der kapitalistischen Produktionsweise

Von Ina Praetorius

Die Analyse des Kapitalismus wird traditionell nur auf das Verhältnis des Kapitalisten zum Lohnarbeiter bezogen, wobei der Arbeiter meist implizit als männlicher Haushaltsvorstand vorgestellt ist. Die Ökonomin Anna Saave bezieht nun all die Bereiche in ihre Analyse ein, die normalerweise als „außerökonomisch“ begriffen werden: die Natur, die überwiegend von Frauen* erbrachte unbezahlte Care-Arbeit, die (Ex-)Kolonien und die Commons. Sie erforscht die Beziehungen des Externalisierens und Einverleibens, die zwischen dem „Innen“ und dem „Außen“ der kapitalistischen Produktionsweise bestehen.

Anna Saave ist feministische Nachhaltigkeitsökonomin und arbeitet zurzeit im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Humboldt-Universität Berlin zu feministischer Bioökonomieforschung und Forstwirtschaft im Kapitalismus. 2022 hat sie ihre Dissertation „Einverleiben und Externalisieren. Zur Innen-Außen-Beziehung der kapitalistischen Produktionsweise“ als Buch herausgegeben.

Im März 2023 war Anna Saave (links) bei der Denk- und Handlungswerkstatt „Wirtschaft ist Care“, bei der studentischen Organisation Oikos und den Ostschweizer Sozialdemokratinnen zu Gast. An der Universität St. Gallen und in der Kleinstadt Wil hat Ina Praetorius (rechts) öffentliche Interviews mit ihr geführt. Wir publizieren eine Zusammenfassung dieser Gespräche.


Ina Praetorius: Kannst du für uns umreißen, worum es in deinem Buch im Wesentlichen geht?

Anna Saave: Am besten erkläre ich zunächst die drei Teile des Titelbegriffs „Innen“, „Außen“ und „Beziehung“: Das Innen ist, was man landläufig „die Wirtschaft“ nennt, also die „offizielle Ökonomie“: all die Situationen, in denen Güter und Dienstleistungen als Waren mit dem Ziel der Profitmaximierung geschaffen werden, unter Einsatz von Lohnarbeit. Anders ausgedrückt also all das, womit Leute es zu tun bekommen, wenn sie Betriebswirtschaft oder Volkswirtschaft studieren.

Meistens ist nicht im Blick, was dieses Innen umgibt: das sind Gesellschaft und Umwelt. Konsens ist zwar, dass „die Wirtschaft“ in ein Außen eingebettet ist. Die Annahme ist hier oft, dass dieses Außen wie ein Gefäß ist. Aber wie genau diese Einbettung funktioniert, darüber wird viel zu wenig nachgedacht. Faktisch ist das Außen aber kein passives Gefäß, sondern Innen und Außen sind zwei Teile des kapitalistischen Verwertungszusammenhangs, die miteinander interagieren. Die Frage ist nun: In welcher Beziehung genau stehen Außen und Innen? Darum geht es in meinem Buch.

Mein Ziel ist es, diese Beziehung besser zu verstehen. Die These ist, dass zwei Dynamiken eine entscheidende Rolle in dieser Beziehung spielen: Einverleibung und Externalisierung. Kapitalistisches Wirtschaften findet also nicht nur „in der Wirtschaft“ statt, sondern erstreckt sich auf das ausgeblendete Außen. Innen und Außen sind ein Zusammenhang, den wir verstehen müssen, wenn wir informierte Politik betreiben wollen, also nicht nur die gängige „Wirtschaftspolitik“, sondern auch Nachhaltigkeitspolitik. Ohne ein präzises Wissen um die Innen-Außen-Beziehungen befindet sich so viel Wesentliches außerhalb des Blickfelds, dass dies zu nicht-nachhaltigen Ergebnissen führt.

Der Weg zur Forschungsfrage

Ina Praetorius: Wie bist du dazu gekommen, dich so intensiv mit dieser Fragestellung zu befassen?

Anna Saave: Ich habe Umweltwissenschaften und Volkswirtschaftslehre studiert. In den Umweltwissenschaften habe ich viel darüber gelernt, wie man messen kann, was schiefläuft, zum Beispiel den Biodiversitätsverlust oder die Klimakrise. Aber die Frage nach den Ursachen ist hier unterbelichtet, und die Antworten sind entsprechend verkürzt auf „die Menschen“ oder „das Konsumverhalten“. In der VWL hingegen besteht eine anders gelagerte Lücke: Man versucht, mit unternehmerischen oder wirtschaftspolitisch lenkenden Mitteln Verbesserungen für die Gesellschaft zu bewirken. Was dabei aber eher nicht gefragt wird, ist, warum es überhaupt soziale Ungleichheit und Umweltprobleme gibt und, wie es dazu gekommen ist. Zwar gibt es inzwischen einige „plurale“ Studiengänge, in denen auch andere Handlungsansätze entwickelt und gelehrt werden. Zu der Zeit, in der ich studiert habe, habe ich aber den Schlüssel vermisst, der mir helfen würde, die gesamte komplexe Problemlage zu verstehen.

Einen persönlich Bezug zum Thema habe ich natürlich auch. Was ich untersuche, ist ja eine Beziehung, und zwar eine ziemlich kaputte Beziehung, in der Einverleibung und Externalisierung Probleme darstellen. Vermutlich haben mich auch persönliche Prägungen in die Lage versetzt, mich ausgerechnet mit einer problematischen Beziehung auseinander setzen zu wollen und zu versuchen, einen Schlüssel dafür zu finden. Ich denke, der Satz „research is me-search“, also „Forschung ist Ich-Suche“ trifft häufiger zu als gedacht, vor allem, wenn man sich so ein Riesenprojekt wie die Synthese von Theorien kapitalistischer Außenverhältnisse aufhalst.

Vorläuferinnen

Ina Praetorius: Deine These ist, dass die „offizielle Ökonomie“, wie du es nennst, eine Ökonomie der Verschleierung ist. Der gesamte Mittelteil des Buches ist dann dem Anliegen gewidmet, dennoch Vorläufer und Vorläuferinnen zu finden, die sich auch schon mit dem verschwiegenen und ausgeblendeten „Drumherum“ der kapitalistischen Produktionsweise befasst haben. Du wirst da durchaus fündig: Deine Rekonstruktion dieser Denk-Geschichte beginnt mit Rosa Luxemburg und spannt sich über die sogenannte Hausarbeitsdebatte der 1970er und 1980er Jahre und den Bielefelder Subsistenzansatz bis in unsere Gegenwart. Kannst du zu dieser Vorgeschichte deiner Forschungsfrage mehr sagen?

Anna Saave: Ich versuche im Buch alles zusammenzutragen, was es zum Verständnis der Innen-Außen-Beziehung schon gibt, auf unterschiedlichen Sprachebenen und in verschiedenen Kontexten. Das hilft, der Verschleierung etwas entgegenzusetzen und eine Sprache zu finden, um über die Innen-Außen-Beziehung der kapitalistischen Produktionsweise zu sprechen. Meine Geschichte beginnt mit Rosa Luxemburg, wobei es schon etwa 50 Jahre vorher erste Bezugspunkte gibt, nämlich in der Diskussion über die „ursprüngliche Akkumulation“ bei Karl Marx. In seinem Buch „Das Kapital“ gibt es viele Begriffe, die verstehen helfen, was das Innen ist. Hingegen spricht er über das Außen nur dort, wo es um den Zeitraum geht, in dem der Kapitalismus in die Welt kam. Er schaut sich die Periode vom 14. bis 16. Jahrhundert in Großbritannien genauer an und vollzieht nach, was dort passiert ist: die Trennung der Produzent*innen von den Produktionsmitteln. Menschen, die früher typischerweise in der Landwirtschaft tätig waren, wurden von den Produktionsmitteln, das heißt im Wesentlichen vom Land getrennt. Sie waren am Ende dieses Prozesses „doppelt frei“, wie Marx es ausdrückt, das heißt, sie mussten keine Zwangsarbeit leisten, besaßen aber auch nichts, mit dem sie etwas produzieren konnten. Diese Trennung der Produzent*innen von den Produktionsmitteln nannte Marx die „ursprüngliche Akkumulation“. Für Marx ist das Außen also „vorkapitalistisch“. Wenn man seinen Text eng auslegt, ist das Außen ihm zufolge nach der Etablierung des Kapitalverhältnisses passé.

Rosa Luxemburg

Anna Saave: Rosa Luxemburg kommt einige Jahrzehnte später zu einem anderen Schluss. Ihr ökonomisches Hauptwerk „Die Akkumulation des Kapitals“ ist im Jahr 1913 erschienen. Darin sagt sie, dass die ursprüngliche Akkumulation nicht an einem Punkt historisch abgeschlossen ist, sondern fortbesteht. Es gibt ihr zufolge permanente Beziehungen des Kapitals zu einem Außen, das nicht einfach mit der Durchsetzung des Kapitalismus verschwindet. Für dieses Außen wählt sie den Begriff der „nichtkapitalistischen Schichten und Milieus“. Um das nachzuvollziehen, muss man sich in ihre Zeit hineinversetzen. Im Jahr 1913 gab es weder Digitalisierung noch war die Globalisierung so weit fortgeschritten wie heute. Es gab daher wirklich Flecken auf der Welt, die nicht in dem Maße Teil der Industrialisierung und des kapitalistischen Wirtschaftens waren, wie wir es heute kennen. In dieser Situation ist es naheliegend, nichtkapitalistische Schichten und Milieus anzunehmen. Rosa Luxemburg verdanken wir zu wissen, dass die Interaktion zwischen Innen und Außen ein permanenter Prozess ist.

Feministische Hausarbeitsdebatte und Bielefelder Subsistenzansatz

Ina Praetorius: Wer und was kam nach Rosa Luxemburg?

Anna Saave: In der feministischen Hausarbeitsdebatte gab es den so genannten „Bielefelder Subsistenzansatz“, der in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren entstanden ist, in einer Zeit also, in der die Weltwirtschaft sich stark verändert hat. Die Autor*innen des Subsistenzansatzes mussten sich nochmal neu fragen: Wie können wir in einer Zeit, in der in fast allen Teilen der Welt industriell-kapitalistisch gewirtschaftet wird, das Außen der kapitalistischen Produktionsweise fassen? Ihre Antwort ist, dass Frauen, (ehemalige) Kolonien und die Umwelt jetzt das Außen darstellen. Es handelt sich bei diesem neuen Verständnis des Außen also nicht mehr um tatsächliche Orte auf der Landkarte, sondern um eine Dimension, die auch moderne Gesellschaften durchzieht: Auch mitten in hochindustrialisierten Ländern gibt es unbezahlte soziale Reproduktion, ökologische Prozesse, von denen wir alle profitieren. Und es gibt nach wie vor (ökonomische) Kolonien. Was macht denn eine Kolonie aus? Eine Kolonie macht aus, dass man sie wie eine Kolonie behandelt. Die Bielefelder Soziologinnen Veronika Bennholdt-Thomsen, Maria Mies und Claudia von Werlhof haben gezeigt, dass diese drei Bereiche, Frauen, Umwelt und Kolonien, miteinander vergleichbar sind, weil auf sie auf vergleichbare Weise zugegriffen wird. Zu diesen drei Bereichen unterhält das Kapital ein Raubverhältnis. Dank dem Bielefelder Subsistenzansatz wissen wir, was es bedeutet, als Außen kategorisiert zu sein: Es bedeutet, dass davon geraubt werden kann, und beraubt zu werden.

Die feministische Hausarbeitsdebatte Ende des 20. Jahrhunderts war insgesamt eine sehr vielfältige Debatte. Silvia Federici zum Beispiel, die später des Buch „Caliban und die Hexe“ verfasste, war damals schon aktiv. Sie hat zum Beispiel untersucht, was historisch dazu geführt hat, dass wir uns heute in einer bestimmten Form der geschlechterbasierten Arbeitsteilung vorfinden.

Ina Praetorius: Der Titel eines Buches der Bielefelderinnen war ja „Frauen, die letzte Kolonie“. Ich erinnere mich noch gut daran, welch ein Aha-Erlebnis dieses Buch für mich Ende der 1970er Jahre war, als ich Feministin wurde. Noch heute müssen wir daran arbeiten, Soziales und Ökologisches nicht als separate Bereiche zu verstehen. Und auch das postkoloniale Verhältnis können wir seither nicht mehr als eigenes Silo verstehen, das eine politische Sonderbehandlung braucht. Politik wird vielmehr genau dann effizient und wirksam, wenn sie strukturelle Parallelen beachtet.

Du beziehst dich dann noch auf soziologische Ansätze zum Verständnis des Außen. Stichworte sind hier die „Imperiale Lebensweise“ und die „Externalisierungsgesellschaft“.

Anna Saave: Ja, der Soziologe Stefan Lessenich etwa spricht davon, dass es ein eingeübtes Nicht-Wissen-Wollen der Folgen der Imperialen Lebensweise gibt, und damit eine systematische Abkehr vom Wissen um die Innen-Außen-Beziehung. Dieses Nicht-Wissen-Wollen muss man oft erst einmal adressieren, bevor man danach über Ausbeutung und Profit sprechen kann. Der Ansatz der Imperialen Lebensweise von Ulrich Brand und Markus Wissen sowie die Externalisierungsgesellschaft sind für die Innen-Außen-Beziehung relevant, weil sie Einverleibung und Externalisierung auch im Konsum und in Lebensstilen lokalisieren.

Das „Netzwerk Vorsorgendes Wirtschaften“

Ina Praetorius: Und dann wurde im Jahr 1992 an der Universität St. Gallen das „Netzwerk Vorsorgendes Wirtschaften“ gegründet. Es brachte die feministische Theorie mit der ökologischen Ökonomik zusammen. Die Ökonominnen Ulrike Knobloch, Maren Jochimsen, Adelheid Biesecker und andere haben systematisch angefangen zu fragen, wie die Frauenfrage mit der Ökonomie zusammenhängt.

Anna Saave: Der Denk- und Handlungsansatz „Vorsorgendes Wirtschaften“ löst viele Dinge ein, die heute gebraucht werden. Das Netzwerk hat zum Beispiel einen sehr guten Nachhaltigkeitsbegriff entwickelt. Er widerspricht dem üblichen Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit, demzufolge Soziales, Umwelt und Ökonomie drei Säulen sind, auf denen ein Dach liegt, auf dem „Nachhaltigkeit“ steht. Diesen additiven Nachhaltigkeitsbegriff hat das Netzwerk durch einen integrierten Ansatz abgelöst. Die Autorinnen sagen, dass wir eine soziale, ökologische und emanzipatorische Gesellschaft nur erreichen werden, wenn wir alle Dimensionen miteinander verschränken. Der Ansatz des Vorsorgenden Wirtschaftens ist nicht durchgehend antikapitalistisch und macht daher Übersetzungsarbeit in Theoriewelten wie die von Rosa Luxemburg nötig. Er spricht aber dennoch von zwei Bereichen der Gesellschaft, die vergleichbar sind mit Innen und Außen. Der Ansatz weist darauf hin, dass die offizielle Ökonomie das Innen als „produktiv“, das unsichtbare Außen als „reproduktiv“ oder sogar „unproduktiv“ wahrnimmt und behandelt. Adelheid Biesecker nennt das die grundlegende „Trennungsstruktur“ unserer Gesellschaft. Das Netzwerk fordert dazu auf, einen Produktivitätsbegriff zu formulieren oder zu entwickeln, der die getrennten Bereiche und damit auch Innen und Außen einbezieht.

Wissenschaft und Politik

Ina Praetorius: Im Anschluss an den theoriehistorischen Mittelteil des Buches entwirfst du im Schlussteil eine eigene „politiknahe“ Theorie. Du verstehst dich ja nicht nur als Theoretikerin, sondern hast auch eine aktivistische und politische Seite. Was wäre denn nun deiner Auffassung zufolge aufgrund der neuen Analyse der Innen-Außen-Beziehung der kapitalistischen Produktionsweise zu tun? Wie müssen wir jetzt, in der derzeitigen Multi-Krise, unser Politisieren einrichten, damit diese Analyse fruchtbar werden kann?

Anna Saave: Die Quintessenz des Buches im Sinne einer Politisierung dieses Themas lässt sich meiner Meinung nach so zusammenfassen: Wir müssen die Wege der Inanspruchnahme des Außen durch das Innen der kapitalistischen Produktionsweise besser verstehen, um überhaupt darüber informiert zu sein, wie diese Gesellschaft angeordnet ist und wie darin Herrschaft funktioniert. Erst auf der Grundlage solcher Einsichten können wir sachgerecht Politik betreiben.

Für Wirtschaftspolitik bedeutet die Theorie der Innen-Außen-Beziehung, dass man daran arbeiten muss, Einverleibung und Externalisierungen zu minimieren, abzumildern, vielleicht sogar ganz abzuschaffen. Eine Ökonomie ohne Einverleibung und Externalisierung, vielleicht sogar ohne Ausbeutung im Innen, ist das Ziel. Aber ist eine kapitalistische Produktionsweise ohne Ausbeutung überhaupt möglich? Marx würde klar sagen: Nein, einen Kapitalismus ohne Ausbeutung gibt es nicht, denn ein Wirtschaftssystem, das auf der Ausbeutung von Lohnarbeit beruht, nennen wir eben „kapitalistisch“. Demzufolge müssten wir also nach einer nichtkapitalistischen Wirtschaftsweise suchen, wenn es keine Ausbeutung mehr geben soll. Aber auch wer die Systemfrage nicht ausdrücklich stellt, kann und muss alles daransetzen, Einverleibung und Externalisierung zu minimieren.

Auch für die Wirtschaftswissenschaften hat meine Analyse Folgen: Wirtschaftswissenschaftler*innen müssen in Zukunft das Wissen um die Innen-Außen-Beziehung in Forschung und Lehre berücksichtigen. Die Studierenden könnten aufmerksam werden und den Einbezug des Externalisierten jederzeit und überall einfordern.

Die Frage, was denn nun konkret zu tun ist, wird mir natürlich häufig gestellt. Letztlich kann ich aber als Theoretikerin mein Wissen nur einfach anbieten, zum Beispiel in Form dieses Buches, und dann gespannt sein, was die Gesellschaft daraus macht. Oft beantworte ich die Frage nach dem konkreten Tun so: Wer noch nicht genau weiß, was zu tun ist, kann einfach mal einige Dinge sein lassen. Ich denke dabei zum Beispiel an Subventionen für fossile Industrien. Aufgrund des engen Zeitfensters zur Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels in der Klimapolitik sind diese Subventionen jetzt wirklich nicht mehr nötig und nicht sinnvoll. Wichtig finde ich auch, was die amerikanische Politologin Nancy Fraser zur Frage des konkreten Engagements sagt: Wir können uns heute nicht mehr zufrieden geben mit sogenannten „single issue social movements“, also mit sozialen Bewegungen, die sich nur einem Thema widmen. Stattdessen müssen wir Themen zusammen denken, zum Beispiel die feministische Care-Bewegungen mit der Klimabewegung, und überhaupt aktiv die Verbindung zu strukturell verwandten Bewegungen suchen, um wirksamer zu agieren. Ich glaube, es ist gar nicht so wichtig, welches Thema ein Mensch konkret bearbeitet, denn es gibt so viele wichtige Themen in der multiplen Krise. Es ist eher die Frage, wie man sein Engagement aufzieht, nach welchen Logiken und Handlungsprinzipien man sich darin ausrichtet. Lassen sich zum Beispiel Prinzipien wie Sorge, Vergemeinschaftung oder Commoning umsetzen? Egal, wo sich jemand engagiert, können diese Leitlinien eingebracht werden.

Für all diese Veränderungsprozesse braucht es Zeit, und die gibt es bei der aktuellen Strukturierung der Erwerbstätigkeit und der Care-Arbeit oft viel zu wenig. Auch angesichts der cost of living crisis, die immer mehr Menschen betrifft, ist es schwierig, sich politisch zu engagieren. Darum braucht es politische Maßnahmen, die uns diese Zeit für Veränderungsprozesse verschaffen, zum Beispiel durch eine Reduktion der Erwerbsarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich. Wir brauchen dringend mehr Zeit für Care-Arbeit einerseits, aber auch zum Nachdenken, Lesen, Diskutieren, und um uns als Individuen auf die notwendigen Veränderungsprozesse einzurichten. Und wir brauchen eine Ökonomie, die nicht mehr vom Außen abstrahiert.

Ina Praetorius: Ich danke dir für das Gespräch! Ich habe dein Buch zweimal gelesen und mir dabei gedacht, dass jetzt vielleicht auch wieder eine Zeit des gemeinsamen gründlichen Lesens beginnt. Es gibt vieles, das wir noch nicht verstanden haben. Wir müssen einerseits Care-Arbeit in Ruhe tun können, andererseits aber auch Zeit haben, uns wieder einmal in Ruhe die Welt als Ganze anzuschauen. Dein Buch ist für mich ein Schlüssel, um wichtige Zusammenhänge neu zu erkennen, um dann auch genauer zu wissen, was zu tun ist.

Autorin: Ina Praetorius
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 27.06.2023
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