beziehungsweise – weiterdenken

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Rubrik denken

Würmer, Kröten, Teufel. Nachdenken über „Gott“ und „noch größere Dinge“

Von Anne Newball Duke

Foto: Anne Newball Duke

Der folgende Text entstand aus einem monatelangen Nachdenken nach dem Text Corona. Care. Gott. von Anne Claire Mulder und dem Austausch im Kommentarbereich. Da ich nicht recht weiterkam, habe ich Luisa Muraros Der Gott der Frauen hinzugezogen. Es brauchte dann noch ein bisschen Zeit um zu wissen, was ich eigentlich will, und ob das, was sich an Gedanken in mir aufgetan hat, sinnvoll ist oder doch nur irgendwie banal. Ganz sicher bin ich mir bis heute nicht…

Es ist ein explorativer Text; d.h. ich weiß zwar, worüber ich schreiben will und wohin ich ungefähr möchte, aber den Weg dahin schlage ich mir jetzt auch erstmal frei. Ein paar Gedanken- und Wortpfade gibt es natürlich schon, und denen folge ich. Und ich glaube, gerade im zweiten Teil möchte ich versuchen, einige Pfade und Pfadbegegnungen, die andere Menschen bereits angelegt und/oder (wieder-)gefunden haben und gegangen sind, (nochmal) sichtbar zu machen. Teils habe ich sie selbst erst während der Arbeit an diesem Text gefunden – wie durch den The Emerald-Podcast von Joshua Michael Schrei, den mir meine Freundin Eva right in time „geschenkt“ hat, und die zudem an vielen der folgenden Gedanken mitgewoben hat in den letzten Tagen.

Der Text hat einige Metamorphosen durchgemacht, noch bevor er das Licht der Welt erblickt hat. Er ist nun weniger eine explorative Beweisführung geworden als ursprünglich gedacht, sondern gerade im zweiten Teil vielmehr der Versuch, die Gemeinsamkeiten zweier Wissensschulen oder auch Philosophien ein bisschen herauszuarbeiten, die – wie ich finde – einfach wichtig sind, wenn wir sinnstiftend weiterdenken wollen, und wenn – in einen größeren Rahmen gestellt – wir Menschen weiter Erdenbewohner*innen bleiben wollen.

Erster Teil

Was ist mir „Gott“

Ein wieder etwas intensiveres Nachdenken über „Gott“ begann eigentlich schon vor etwa vier Jahren. Als ich merkte, dass ich anscheinend eine meiner denkerischen Heimaten in der Philosophie der italienischen Philosophinnengruppe aus Verona – Diotima – und der Libreria delle donne die Milano (einige sind oder waren in beiden Gruppen aktiv) finde. Ich fand sie über dieses Forum, und über das Forum fand ich zur Denkumenta 2019, und so fand ich zu den Redakteurinnen von bzw-weiterdenken. Für mich war es zunächst einmal mysteriös, warum viele dieser Frauen und drumherum Theologinnen waren oder Pfarrerstöchter und/oder… naja jedenfalls dem christlichen Glauben sehr verbunden. Wie passte ich da rein, die nie auch nur einen Gedanken oder ein Gefühl mit was auch immer sie „Gott“ nannten, verband? Und dann ist es auch so, dass immer, wenn die Sprache auf Gott kommt, ich mich merkwürdig rauskatapultiert fühle, sprachlos werde, mich leere von hundert auf null ins Vakuum. Ich fühle mich dumm, habe keinen Anschlussfaden, mir wird zu wenig in die Hand gegeben; es gibt eine stille Voraussetzungslogik, die ich nicht vermittelt bekommen habe. Dazu gehört auch, dass ich oft nicht weiß, wie ich Fragen zu „Gott“ stellen soll. Ich denke dann, ich müsste mal eben nach der Erklärung und der Entstehungsgeschichte eines ganzen Universums fragen, äh hallo, ich kann meine Wissens- und Kontextlosigkeit keiner Person zumuten, also keine weiteren Fragen.

„Gott“ – und ich setze das Wort in Anführungsstriche, um damit auszudrücken, dass ich von mir ausgehend vom Wort und Konzept spreche – wurde mir als Kind nicht in die Wiege gelegt. Es ist kein Netz in mir angelegt, in das dieses Wort eingebunden war, oder in das es bei diesem oder jenen Gedanken oder Gefühl hätte fallen und vibrieren können. Ich habe kein Ritual, kein Gebet, ich wende mich nicht an „Gott“, weder wenn ich traurig noch verzweifelt noch sonst irgendetwas bin. „Gott“ ist nicht für mich da, ich sehe „Gott“ nicht. In einem der Kommentare schriebst du, Antje, „‘Gott‘ gibt uns alles, was wir brauchen“: ich verstehe wirklich diese Worte nicht, ich weiß nicht, was du damit meinst, ich kann sie mit nichts in mir verbinden, es tut sich kein Universum auf.

Ich schrieb „Gott“ aber nicht nur nichts Sinnstiftendes zu – bis heute nicht –, sondern ich verband mit ihm auch nur negative Gefühle und Gedanken. Meine Sozialisation fand in einem sehr atheistischen Umfeld statt, und klar, ich bin in der DDR geboren und war 11 beim Mauerfall, das erklärt vielleicht auch einen Teil meiner „Gott“losigkeit. Ich hoffe, ich lande nicht bei einigen in der BRD sozialisierten Leser*innen an dieser Stelle in der „begrenzten-Denk- und Glaubens-Möglichkeitenschublade“ oder der Diktaturschublade oder einer wie auch immer gearteten Unfreiheitsschublade. Das wäre schade. Weil aus der Schublade heraus werde ich glaube auch nicht gut verstanden, auch rein akustisch nicht (kleiner Scherz). Aber ja, okay, sicherlich kommt auch hier meine Abneigung oder meine Weigerung her, dieses gewisse Erleben eines wie auch immer gearteten “Mehr-als-rationalen-Weltzugangs“ (es fällt mir schwer, dafür einen Begriff/Begriffe zu finden) „Gott“ zu nennen.

„Gott“ ist etwas, das ich mit Kirche und Macht und „Macht ausüben über“ verbinde, also als stark hierarchisiert – ganz oben Gott, wir Menschlein und Vöglein und Fischlein und Pflänzlein usw. ganz unten; und ich verbinde „Gott“ mit zutiefst patriarchalen und gewaltvollen Ursprungsgeschichten.

Aber ich versuche zu verstehen, was es in aller Tiefe für andere Frauen bedeutet, um es auch nutzen zu können. Je mehr ich mich jedoch über Lektüre und Praktiken und einfach tiefer Beschäftigung mit dem “Mehr-als-rationalen-Weltzugang“ beschäftige, desto mehr werde ich mir zwar meiner im Körper anscheinend zutiefst verankerten Spiritualität bewusst, aber ich komme nicht dahin, das „Gott“ zu nennen. Vielleicht befinde ich mich da immer noch im Prozess, wer weiß, vielleicht sind vier Jahre zu wenig. Aber es gibt in mir momentan keinen Weg zum Wort „Gott“. Viel mehr öffnen sich ganz viele andere Wege, für das Gefühl, für das, was ich spüre, wenn ich von Menschen lese, die von „Gott“ sprechen, aber auch wenn ich ganz andere Sachen lese, höre oder praktiziere usw. Es handelt sich immer nur um einen Hauch, ich kann noch nicht von Erleben sprechen, aber ich habe eine Ahnung. Und dafür gibt es andere Worte und Konzepte, die mir weitaus näher liegen , und die mehr meinem felt sense entsprechen und matchen (den Begriff felt sense entnehme ich dem Buch Dein Körper – dein Traumdeuter von Eugene T. Gendlin: es bedeutet, dass ich eine Antwort nicht rational oder intellektuell oder „kopfgesteuert“ herleite, sondern sie im Körper fühle: eine Antwort oder Erklärung macht einfach Sinn im Körper; ich spüre eine Erleichterung und eine Freisetzung von Energie… irgendetwas signalisiert mir einfach, dass die Antwort, die ich gefunden habe, richtig ist, auch wenn es absurd oder rational gesehen weit hergeholt erscheint. Für eine sinnvolle Traumdeutung ist der felt sense zum Beispiel ausschlaggebend).

Den Gott in der Bibel kenne ich eigentlich nicht wirklich, ich habe mich auch nicht intellektuell mit Gott auseinandergesetzt, ich habe weder die Bibel gelesen, noch habe ich Lust dazu, also bisher hat mich kein Zugang, keine Person dazu animieren können. Die Adam- und Eva-Geschichte reicht mir immer schon, danach fühle ich mich zutiefst erschöpft. Ich denke, ohjeh, ich müsste alle Deutungen und Lesarten und ihre Historie und besonders alle in ihr angelegten patriarchalen Lücken und Abzweigungen und Verwucherungen kennen; ich müsste mir also lebenslanges Bibelstudium aufdonnern, und ich müsste vor allem doppelt oder gar dreimal so viel feministische Bibellektüre zu mir nehmen, um die ganze Gewalt darin zu verarbeiten; eine Gewalt, die bis heute immer noch auf – ich würde sagen, alle europatriarchal (den Begriff nehme ich wieder von Minna Salami) sozialisierten – Frauen unvermindert einwirkt. Was für ein grausamer Gott in dieser Ursprungsgeschichte, die eine der wirkmächtigsten unserer europatriarchalen Kultur ist! Mein Brustkorb verengt sich, wenn ich nur daran denke, dabei weiß ich noch nicht einmal viel über die Geschichte oder Herkunft/Herkünfte der Ursprungsgeschichte. Warum haben wir keine Ursprungsgeschichten, die den Brustkorb öffnen, in denen wir frei atmen können, aus denen wir nicht erstmal jahrtausendealtes Patriarchat mühsam herausoperieren und sezieren müssen? Geht das überhaupt?

Ständig finden Theolog*innen neue Lesarten, in der Gott mehr ist als nur einer, der Eva Schmerzen bei der Geburt verordnet und ihre immerwährende Unterordnung unter das Zepter des Mannes, aus dessen Rippen sie geformt wurde, befiehlt. Und ohne viel über diese Geschichte zu wissen, frage ich mich manchmal schon: Wie beginnt Evas Leben? Wann atmet sie das erste Mal? Sie ist in der Geschichte im Alten Testament nicht geboren worden, sie ist auch kein aufgehender Samen, sie ist nicht vom Himmel gefallen, sie ist auch kein Windhauch oder vom Wind gebracht worden… sie wurde belebt und geformt durch einen monotheistischen Gott (oder kann er in dieser Geschichte anders als monotheistisch gelesen werden?) und aus der Rippe eines Mannes. Wie traurig und wurzellos und lebensfern diese Geschichte von Evas Ins-Leben-Kommen ist. Ich atme dünner und weniger tief, wenn ich nur an diese Geschichte denke, und das muss ich irgendwie oft, denn diese Geschichte scheint einfach durchgängig um mich herum in der europatriarchalen Luft zu wabern! Wie könnte ich je eine sinnstiftende, erdgebundene Beziehung herstellen zu dieser bis heute so wirkmächtigen europatriarchalen Ursprungsgeschichte, wie kann ich mich in Beziehung setzen zu dieser „ersten Frau“?

Und ich möchte nicht falsch verstanden werden: ich glaube durchaus, dass die Geschichten in der Bibel Reales in sich tragen; also Reales, das nicht nur Realität bedeutet; sondern erzählt werden aus einem tiefen Verständnis und auch der Kenntnis über die Existenz dieses Realen, das den „Mehr-als rationalen-Weltzugang“ in sich trägt, heraus. Wahrheit, sagt Luisa Muraro, „löst die Worte von ihren festgelegten Referenzen, denn die Worte können sich auf die Welt beziehen, ohne den errichteten Grenzen zwischen Innen und Außen, zwischen Traum und Realität, dem Unmöglichen und dem Realen unterliegen zu müssen.“ (71)

Aber mein Gefühl sagt mir einfach, dass die gewaltvollen patriarchalen Umformungen und Verzerrungen der Geschichten derartig massiv geschehen sind, dass ich einfach so grundsätzlich… oder sagen wir so: ich finde es für mich und von mir ausgehend nicht sinnvoll. Ich beschäftige mich lieber mit weniger verformten Geschichten. Nein, das stimmt so auch nicht. Ich beschäftige mich ja zum Beispiel auch supergern mit Märchen, die ebenfalls heftige patriarchale Last zu tragen haben. Aber diese wurden mir eben in die Wiege gelegt. Ich weiß nicht, ob das nachvollziehbar ist… aber ich komme nochmal an diesen Punkt zurück später, das fühle ich schon. [Mittlerweile ist klar: ich komme in diesem Text nicht mehr darauf zurück, einfach weil damit nochmal ein riesiges Fass aufgemacht werden würde; vielleicht ein andermal also.]

Aber dann das: Viele Texte hier im Forum und natürlich von den italienischen Philosophinnen, die haben sehr viel mit mir zu tun. Die Texte berühren mich, ihre so an die Praxis gebundene und dadurch erlebbare Philosophie haben mich schon ein gewisses Mehr erleben lassen. Ich will unbedingt daran weiterdenken, sie geben mir wichtige und gefühlt richtige Spuren, denen ich folgen möchte. Aber ach, ständig heißt hier etwas „Gott“. Nun ist das nicht mehr der Bibelgott, wird mir gesagt, so auch Anne Claire Mulder in dem Text Corona. Care. Gott. Gott zeige sich z.B. auch „als und im Wehen des Windes“. Wunderschön. Ich nehme das total an. Das Gefühl. Die Erkenntnis. Aber das Wort „Gott“ dafür…. warum müssen wir das wunderschöne poetische, so erdgebundene Gefühl oder diese Erkenntnis „Gott“ nennen? Es bleibt mir fremd. Es gab so viele Gött*innen vor dem monotheistischen Gott der Bibel, vielleicht auch schon vor dem menschlichen Bewusstsein, was wissen wir schon. Und klar, dann kommt immer die Frage: ist Gott überhaupt so monotheistisch?

Foto: Anne Newball Duke

Was ist dir „Gott“?

Aber das ist der Punkt: muss ich die Befremdung überspringen, ist das mein Job, um mitreden zu können? Und warum wissen alle anderen denn eigentlich so genau, was „Gott“ für die jeweils andere ist? Könnte es nicht auch etwas ganz anderes sein? Macht es keiner anderen Person so viele Probleme, dass wenn eine über „Gott“ spricht, damit vielleicht der Gott aus der Bibel gemeint ist, oder der Gott des Vatikans usw., oder dann auch wieder der Gott als den „Mehr-als-rationalen-Weltzugang“, der Liebe und Freiheit? Allein der letzte Gott ist ja schon ein Universum für sich. Finden sich alle anderen zurecht, wo sich die jeweils anderen Gesprächspartnerinnen gerade befinden, nur ich nicht? Und können all diese Gott-Kontexte gemischt werden, so wie ich manchmal das Gefühl habe, und die anderen finden sich immer noch zurecht? Und wie könnte ich je an den Gesprächen teilhaben? Mich interessiert – wenn – dann eh nur der letztere Gott. Wie soll denn so ein „Worte-Abgleich“ aussehen, damit ich auch über den „Mehr-als-rationalen-Weltzugang“ mitsprechen kann? Wäre das überhaupt möglich? Oder gibt es so viele darin enthaltenen kulturellen Inhalte und Codes, dass ein Abgleich nicht möglich ist, so wie ich es so oft empfinde?

Mein Gefühl mit „Gott“ ist: In dem Sprachraum, in dem „Gott“ ist, ist so viel verstellt, steht so viel rum, was ich nicht weiß, was das ist und wofür es da ist. Das ist ja auch okay, ich kann den Raum verlassen, und überlasse ihn jenen, die sich auskennen und alle rumstehenden Wörter und Geschichten anwenden können. Aber dann ist es ja andererseits auch so, dass Austausch erwünscht ist, und dass ich mich eigentlich besser zurechtfinden möchte, weil dann kann ich vielleicht auch mal was so hinräumen, dass ich nicht ständig stolpere. Denn momentan stolpere ich über die Wörter und Geschichten, ich finde mich in dem Raum nicht zurecht, es ist auch plötzlich immer dunkel wie in einem David-Lynch-Film: Gerade dachte ich, ich hätte etwas erkannt, und schon habe ich wieder keine Orientierung mehr. Oftmals scheint es sich um eine Art hochspezialisierten Austausch zwischen Menschen, „die wissen“, zu handeln. Selbst Wörter, die ich sonst auch nutze, stehen im „Gott“-Raum für mich oft nicht nutzbar rum, sind mir eigenartig fremd. Das Gespräch um mich herum geht weiter, und das einzige, was ich versuche, ist Orientierung zu finden, mich irgendwo festhalten zu können und von da aus eventuell noch irgendwann teilhaben zu können, vielleicht. Als wenn es nicht schon alles schwierig genug ist, weil der „Mehr-als-rationale-Weltzugang“ anscheinend ja sowieso kaum in Worte zu fassen ist.

Nochmal, damit ich hier nicht falsch verstanden werde: Ich weiß, dass Menschen, die von „Gott“ sprechen, mich nicht ausschließen wollen. Aber ja: vor lauter mir fremden Konzepten und Worten können wir nicht mehr über das sprechen, worüber wir im Grunde gemeinsam sprechen wollen.

Ich höre Sätze wie „Gott ist für alle da“, oder „Gott sieht dich“, und ich denke nur: Nein. Und: auch nein. Es stimmt nicht für mich. Es fühlt sich nicht richtig an in mir. Und ich denke aber gleichzeitig: ‚Ich glaube, ich habe eine Ahnung davon, was damit gemeint ist, aber diese Worte sind nicht meine Worte, und ich glaube dann doch, dass unsere ‚Räume‘, also die Orte, an denen wir uns im Gespräch aufhalten… also… es ist möglich, dass ich eine Ahnung habe, es ist aber genauso möglich, dass ich mich doch total irre, und dass meine Gesprächspartner*innen doch ganz woanders sind, und ich nur annahm, dass wir uns gar nicht so weit weg voneinander bewegen.‘ Vielleicht ist das vom Gefühl her vergleichbar mit dem Schmerzempfinden. Schmerzen empfindet jede Person so individuell; und keine kann sagen, „aber hey, das kann nicht sein, dass dir das so weh tut“. Ich kann sagen, „ich weiß, welche Schmerzen Migräne machen“, aber es kann durchaus sein, dass andere noch viel schlimmere Schmerzen bei einem Migräneanfall erleiden, obwohl wir gleich stark leiden, stöhnen, kotzen, was auch immer. Ich werde es nie wissen können. Oder die Schmerzen bei der Geburt eines Kindes. Es ist so komisch, Schmerzgrade zu vergleichen; wie sollen auch die Schmerzempfindungen zweier Personen abgleichbar sein? Ich habe das Gefühl, dass es mit dem Wort „Gott“ auch in bisschen so ist. Ist es eine Erfahrung, die ich auch kenne, oder die ich auch erahnen kann, oder ist sie doch ganz anders? Vielleicht verstumme ich oft, weil ich das nicht weiß.

Als letzte Schleife in das Nichtverstehen wollte ich Menschen, die mit „Gott“ leben, mal eine vielleicht merkwürdig anmutende Frage stellen: Wenn es Gott nicht gäbe, was wäre dann an Gottes Stelle? Wie fühlt sich das an, welche Worte finden sich dafür? Geht das überhaupt? Und ist es nachvollziehbar, dass das Wort „Gott“ für andere pures Nichts sein kann, also nichts zum Klingen bringt, nichts Sinnstiftendes in sich trägt? Und bleibt dann da ein Fragezeichen, was stattdessen an der Stelle bei den Personen stehen könnte? Und ist an der Stelle nicht eigentlich schon klar, dass hier Verstehensprobleme entstehen können, in Gesprächen über Gott? Ich weiß mittlerweile, dass mir das Wort niemals das geben wird, was es anderen Menschen gibt, die das Wort in sich tragen und auf so viele Weisen etwas damit verbinden; für die das Wort anschließbar ist an so viele Kontexte, an so viel Erleben.

Aber da gibt es halt mein Begehren. Es gibt etwas, was an all dem Erleben vom „Mehr-als-rationalen-Weltzugang“ geteilt werden kann, das weiß ich einfach rein intuitiv. Da muss noch etwas erkundschaftet werden, da gibt es Dinge, die ich kennenlernen möchte und muss, einfach weil ich das Begehren habe, weil ich genau hier weiterdenken will. Also wäre es hinsichtlich dieses Begehrens einfach nicht zielführend, nicht über die Dinge zu sprechen, die meiner Intuition nach gar nicht weit voneinander entfernt liegen, nur dass bestimmte Worte für die einen, die an genau dem Gespräch auch interessiert sind, den Zugang eröffnen, und für andere – also z.B. mir – dieselben Worte den Zugang verschließen. Wie aber kommen wir zu einem gemeinsamen Gespräch, wenn das Wort „Gott“ mir den Zugang verschließt? Muss ich mir abverlangen, das Wort zu benutzen, um „aufgenommen“ zu werden, um teilnehmen zu können an dem Gespräch? Muss ich davor zum Beispiel meditativ alle mir vermittelten und in mir einfach existierenden Konnotationen des Wortes abschütteln, um offen zu sein für andere Bedeutungen von „Gott“? Auch für viele Frauen musste ja erst der patriarchale Gott passé werden und sie mussten sich frei von der Erinnerung an ihn machen, damit sich Gott als ein Knäuel erweisen konnte, das einige in den Händen hielten (Luisa Muraro in Der Gott der Frauen, vgl. S. 45; im Folgenden werde ich nur die Seitenzahl in Klammern setzen, wenn ich aus diesem Buch zitiere), „den Gott der Tradition“ schmelzen lassen, damit er „beginnt zu sein“ (58). Warum kann oder will ich das nicht?

Vor ein paar Wochen hatte ich tiefe und schöne Gespräche mit Maria Coors. Ich erinnere mich an eines, in dem ich dir, Maria, erzählte, dass ich neue Zugänge zur Welt als rationale suche, dass ich glaube, dass dieser rationale, intellektuelle Weg für mich erschöpft ist, mich erschöpft, dass ich zudem oft das Gefühl habe, mit diesem genauen Blick auf die Realität mich zu entfernen von… von dem, was ich wichtig finde zu denken und zu fühlen. Ich merke es an meiner Körperenergie. Ich brauche einen anderen Zugang, und meine Intuition sagt mir, dass es da multiple Möglichkeiten gibt, die ich noch nie in Betracht gezogen habe, außer dass ich schon mein Leben lang bereits aus ihnen schöpfe, aber eben… intuitiv, was auch immer das erstmal heißen mag. Ich erzählte dir auch über ein merkwürdiges, aber sich irgendwie richtig anfühlendes Connecten mit der Welt, mit dem Kosmos, wenn ich mich mit meinem Geburtshoroskop beschäftige. Darf man ja in gewissen Kreisen eigentlich auch nicht so laut sagen, denn die Reaktion ist schnell: „Oha, Horoskop, sie driftet ab, voll Esoterikerin oder was, nicht, dass sie unsere materielle, rationale, vernunftbegabte Welt verlässt.“ Du hast mir aufmerksam zugehört, und deine Antwort war dann: „Auch du möchtest von Gott gesehen werden.“ Der Satz haute mich komplett aus dem Konzept. Ich konnte darauf – wie immer, wenn Gott ins Spiel kommt – nichts antworten. Und frage mich seitdem ständig: Was meinst du nur damit? Zunächst einmal fühlte ich mich nicht verstanden. Ein fremdes Gewand wurde über mich geschmissen, ich fand in dem Moment nicht, wo die Arme durchkommen, oder der Kopf… warte… warte… ich muss es einmal drehen, ich glaube, vorne ist gerade hinten… hä ist jetzt innen auch noch außen?… warte… oaa shiiiit…

Und es geht hier sicher einfach ums Wording. Ich sage: Ich möchte die Welt besser erkennen können. Mein Blick geht von mir aus, aus mir heraus, mein Blickwinkel, mein Körper möchte sehen, möchte anders sehen lernen. Und du sagst mir, du willst von Gott gesehen werden. Okay. Mein Blick sucht sodann mein Innen und Außen ab nach „Gott“, und ich versuche mich in einem abstrakten Perspektivwechsel… ich gehe aus mir heraus… warte… schwierig gerade, ich war so ganz in mir gerade… warte… und überlege, ob ich gesehen werden will… warte… okay… Von wo nochmal genau? Wo ist „Gott“ gerade? Welchen meinst du, was meinst du? Was meinst du? Sicher meinst du nicht das Bedürfnis nach Sichtbarkeit, nach Relevanz, nach Bedeutung, nach Geltungsbedürfnis. Oder? Weil dann hättest du mich nicht verstanden. Ganz ehrlich: I am really lost. Aber… verstehst du, was ich meine? Versteht ihr, was ich meine? Warum muss ich in das für mich sehr unbequeme, unpassende Gottesgewand schlüpfen? Die Erschöpfung entsteht, weil das Muster, in das ich falle, ist, dass ich annehme, dass ich jetzt erstmal eine Ladung godsplaining brauche, um weiter am Gespräch teilhaben zu können. Aber dann weiß ich auch, dass hier kein „Mehr“ im Sinne von „Wachsen am Mehr anderer Frauen“ entstehen wird. Oder?

Das ist meine Frage: Ist es Menschen, die mit „Gott“ leben, verständlich oder nachvollziehbar, dass mir dieser obige Satz nichts gibt, dass so ein Satz das Gespräch für mich nicht öffnet, sondern schließt? Ich glaube, hier enden viele Gespräche zwischen Menschen mit und ohne „Gott“. Komisch, denn es ist eine der interessantesten Stellen. Wie kann es sein, dass wir hier aufhören zu sprechen, hier aufhören, gemeinsam weiterzudenken?

Genau hier muss der Raum einmal ganz wortleer geräumt werden. Damit niemand stolpert und sich unwohl fühlt. Der Raum ist der Raum für alle. Niemand war schon vorher im Raum. Nicht die mit „Gott“ und nicht die ohne. Es gibt keine „vorherigen“ Worte, Konstrukte, Konzepte im Raum. Wir richten nun den Raum gemeinsam ein. Können wir den Raum so einrichten, sodass wir alle in ihm frei atmen können, ohne uns von den Wörtern des anderen vereinnahmt, erdrückt, eingeengt zu fühlen? Wie kann das gehen? Wir kommen ja alle mit unserem Wortgepäck in den Raum.

Wenn ich jetzt von „Gott“ innerhalb des Differenzfeminismus ausgehe, dann habe ich zumindest das Gefühl, dass es hier ein geteiltes Begehren gibt. Und es schlicht die Anerkennung einer wie auch immer gearteten Existenz eines Mehr gibt. Und „Gott gibt uns alles, was wir brauchen“, sagst du, Antje. Hmmm. Bevor ich wieder verstumme ;), komme ich nun zum zweiten Teil, zu einem Zugang, der mir viel eingängiger ist, im wahrsten Sinne des Wortes.

Zweiter Teil

Foto: Anne Newball Duke

In der Welt zwischen den Dingen

Und ich bitte noch einmal zu entschuldigen, wenn ich Dinge sage, die längst klar sind für die ein oder andere und nur mir neu erscheinen. Nochmal: Es ist ein sehr selbst-explorativer Text, er enthält viele unfertige und dadurch riskante Gedanken, aber ja… no risk, no fun.

Ich beginne mit einem Satz, der erst einmal wie eine Provokation klingen mag in einigen Ohren, aber mit irgendetwas muss ich beginnen, und das ist der erste Satz, der mir dazu einfällt:

Ich bin mir sicher, dass es einen Grund gibt dafür, dass jede Person ein Mehr, den „Mehr-als-rationalen-Weltzugang“ erleben, also einen spirituellen Zugang zur Welt haben und so „in die Welt zwischen den Dingen“ (Luisa Muraro) gelangen kann.

In meinem ersten Artikel hier auf Beziehungsweise wollte ich mich noch in die Adorno‘sche Dialektik einarbeiten. Ich wollte das, nicht um die Dialektik intellektuell zu begreifen und klug darüber schwadronieren zu können, sondern um einen Weg zu finden, auf welchem ich die Kluft überwinden kann zwischen Worten und Dingen; abstrakten wie materiellen. Ich dachte, das Problem sei, dass die Worte nicht genau das sind und sein können, was sie bezeichnen. Und dass wir Europatriarch*innen deswegen auf die tödlichen Pfade geraten sind, weil wir immer öfter Worte und „unnatürliche“ Kontexte für die Dinge gefunden haben, die die Dinge immer weniger in ihrem „wahren Sein“ erfassen, aber sie so mehr in unserem europatriarchalen Sinne existieren. Wir verwandeln beispielsweise so viele Lebewesen aus falschen Motiven in tote Dinge; z.B., damit wir es bequemer haben, zur einer Arbeit zu kommen, in der wir im Büro oder beim Metallschmelzen oder beim Waffenbedienen noch mehr lebende Wesen in tote Dinge umwandeln, usw. usf.

Entfremdung, ja. Entfremdung, die möglich wird dadurch, dass wir nicht genau hinschauen und die Dinge einfach nicht sehen in ihrem Sein, und weil wir sie nur so sehen wollen, wie sie uns gefallen und uns im Europatriarchat von Wert sind. Wir reißen die Dinge aus ihren Zusammenhängen, untersuchen sie einzeln auf irgendeines unserer europatriarchalen anthropozentrischen Ziele hin, wo eigentlich ein ganzes Lebensgeflecht zu untersuchen wäre, das das Mehr immer in sich trägt, zwischen sich trägt, usw. usf., und das für diese Ausbeutungsformen überhaupt nicht gemacht und gedacht ist. Sodass also alles in allem die Worte für die Dinge immer mehr vom „wahren Sein“ der Dinge abweichen und neue – oftmals tödliche – Verbindungen zwischen den Dingen hergestellt werden.

Meine Hoffnung vom Sinn der Dialektik war also, dass ich durch sie in eine Hin- und Herbewegung, eine Art intellektuelles Pendeln zwischen Ding und Wort gebracht werde und auf diese Weise immer so nah wie möglich am Sein des Dings dranbleiben und es so nicht verlieren kann. Philosophischer gesprochen, dass ich so den Bezug zur Welt nicht verlieren kann, oder ihn mir beibringen kann o.ä. Das mag auch meinetwegen immer noch eines der Probleme sein, dass wir Europatriarch*innen zu wenig intellektuell pendeln. Aber mit einer reinen Kopf-Dialektik kommen wir dem Ganzen nicht bei; denn wir müssen zugeben, dass das Pendeln auch den klügsten und zu höchsten intellektuellen Anstrengungen fähigen Kopf ganz schummerig macht, und dass wir ihn vielleicht beim Pendeln auch mal ausschalten können, weil wir uns darauf verlassen können, dass er uns auch in anderen Bewusstseinszuständen nicht verlässt, wir werden ja nicht plötzlich blöd, nur weil wir pendeln oder meditieren oder uns in Trance befinden oder singen oder tanzen, sondern er wird dann halt einfach mal nur ein Teil des Ganzen, auch über den Körper Hinausgehenden, ohne Vormachtstellung usw. Schwer für den Kopf, I know.

Luisa Muraro schreibt – und da holte sie mich direkt vom Bahnhof der Dialektik ab: „Wir drücken die Welt mit Worten aus, die auf einer bestimmten Ebene des Seins – die der lebendigen Körper – die Dinge selbst sind. Und wir bewegen uns in der Welt zwischen Dingen, denen es auf eine bestimmte mysteriöse Weise gelingt, ihren Namen zu ähneln.“ (28)

Was hält uns nun davon ab, uns „in der Welt zwischen den Dingen“ zu bewegen? Klar, keine großartig neue Erkenntnis, wenn ich sage, dass uns der europatriarchale Denk- und Fühlrahmen nicht die Möglichkeit unserer Fähigkeit zu einem Fühlen und Denken eines solchen Mehr lässt. Wenn, dann nur in den Nischen. Und aus den Nischen kommst du bitte ganz schnell wieder hervor, wenn es darum geht, das BIP zu steigern. Oha, ich werde giftig. Und ich höre hier und da Proteste. Na gut. Ich setze noch einmal neu an, in der Hoffnung, dass sich die Flussarme wieder finden werden, ich bleibe ganz nah an Luisa Muraros Der Gott der Frauen.

Gleich auf einer der ersten Seiten des Buches finde ich diese Frage, die meinen Brustkorb extrem öffnet und ich ganz aufgeregt werde, weil der Buchtitel mir zwar gar nichts sagt, aber sie hier anscheinend denselben Fragen hinterherspürt wie ich: „Wie weit haben wir uns von dem entfernt, was uns am Leben hält?“ (12) Es geht um die „inkommensurable Distanz“, „eine nicht messbare Entfernung“, die Luisa Muraro auch die „Immanenz von Anderem“ nennt. Sie schaut in die Texte der mystischen Schriftstellerinnen, die von ihrer eigenen Erfahrung ausgehen und daran arbeiten, diese Erfahrungen freizulegen und Übergänge zu eröffnen: „Sie lösen die Welt auf, ohne die aufgelöste Welt durch Produkte des Denkens zu ersetzen“ (17). Ich könnte noch viele ähnliche Formulierungen finden… jede einzelne Formulierung habe ich aufgesaugt, um besser zu verstehen. Zugegebenermaßen gerate ich immer dann ins Schlittern, wenn der Abstraktheitsgrad zu heftig wird. Der Brennpunkt der weiblichen Offenbarung Gottes war „die Tatsache, die Tür offen halten zu wollen für Sein eventuelles Vorbeikommen, hier und jetzt dazusein in Gegenwart und Anderem – das Andere nicht als verschieden von diesem oder jenem verstanden, sondern anders als alles, das Andere in absolutem Sinn, mit nichts und niemandem dazwischen“ (20). Es geht um „Liebe ohne Objekt“, es geht um eine Form der Freiheit, „die in der Beziehung zu Gott erworben wurde und wesensgleich mit Liebe war, Freiheit vor allem und von allem, die also nichts und niemand garantieren kann“ (21). Es geht um das Wissen dieser Frauen; ihre Sprache wusste „um die menschliche Conditio und elementaren Erfahrungen: Geburt, Tod (Vollendung des Übergangs in Anderes), Verliebtheit: eine Conditio der Abhängigkeit, der Ungewissheit, der Willkür des anderen ausgesetzt, aber glücklich. Aus den Texten spricht ein Wissen, das offen ist für Anderes, bereit, sich zu verändern, ein Wissen ohne Fundamente, aber wahr – und gerade deshalb glückliche Conditio und wahres Wissen.“ (22f) Und Luisa Muraro schreibt: „Ich behaupte nun, wenn jene Sprache sich in die zahlreichen Richtungen hätte entwickeln können, die sich der menschlichen Realität durch immer neue Kontexte bieten, hätte sie die Sprache der Philosophie, der Wissenschaften, der Politik werden können.“ (23)

Ich musste an dieser Stelle stark an Evelyn Fox Kellers Liebe, Macht und Erkenntnis denken, wenn sie beschreibt, dass es im England des ausgehenden 17. Jahrhunderts noch verschiedene Wissenschaftskonzeptionen „im Angebot“ gab, sich dann aber die „moderne Wissenschaft“ Bacon’scher Formung mit und durch ihre Institutionalisierung in der Royal Society u.a. gegen die Alchimie bzw. alchimistische Wissensformen durchsetzte. Evelyn Fox Keller schreibt auch, dass die Alchimisten keinesfalls als Feministen anzusehen sind, aber der Unterschied zur positivistischen, mechanistischen Wissenschaftskonzeption, mit welcher sich die Natur von da an „wissenschaftlich fundiert“ untertan gemacht werden wird, wird vor allem in diesem Zitat von Thomas Vaughan deutlich: „Seien Sie vorsichtig, dass Sie mich nicht missverstehen. Ich spreche an dieser Stelle nicht von dem Göttlichen Geist, sondern ich spreche von einer bestimmten Kunst, durch die ein besonderer Geist sich mit dem Universellen vereinigt, wodurch die Natur folglich merkwürdig erhoben und vervielfältigt wird… Ich möchte Sie anspornen, auf die magische Kraft des Satzes der Magie zu hören: HÖRE MIT DEM VERSTAND DES HERZENS.“ (hier in Evelyn Fox Keller, S.59, Hervorh.i.O.)

Was ist Margareta Porete – eine der Mystikerinnen, über die Luisa Muraro schreibt – „Gott“? Was genau fließt durch sie hindurch, lässt sie Liebe, Glück und Freiheit empfinden? Was spürt sie? Spürt sie eine Verbundenheit mit dem Leben, mit dem Sein, nimmt sie Kontakt auf zu Verstorbenen? Vereinigt sich ein „besonderer Geist mit dem Universellen“? Aus was genau besteht „Gott“? Aus was besteht das vielumschriebene „Mehr“, das so genannte oder das ja anscheinend nicht in Worte fassbare Unverfügbare, was offenbart es genau? Was genau passiert, wenn wir versuchen würden, mit Worten über „Liebe“ und „Freiheit“ hinauszugehen und darauf achten würden, eine Richtung oder eine Gerichtetheit zu erkennen? Worauf richtet sich die Liebe, was ist Inhalt der Liebe, des Glücksgefühls? Ich habe in Luisa Muraros Buch viele kleine Versuche gesehen, genau dem hinterherzuspüren, ob die Mystikerinnen nicht doch konkretere Worte und Beschreibungen für das finden, was sie erleben. Was ist „das Andere“, dem Platz gemacht werden soll? „Und ich fand als Antwort, dass dieses ‚Andere‘ das Unmögliche ist: Die Theologie der Muttersprache lehrt praktisch (und innerhalb gewisser Grenzen auch in der Theorie), mit der Gewissheit in der Welt zu sein, dass in ihr auch das Unmögliche Raum hat oder ihn finden kann. Viele Worte übersetzen es, die wichtigsten lauten: Liebe, die nicht endet, Vergebung, Tod und Sieg über den Tod, Glück. Oder gemäß dieser Formulierung: Es gibt in dieser Welt ein Reales, das nicht gänzlich von dieser Welt ist.“ (81) Die Liebe zu „Gott“ kann sich zeigen, sofern sie den „Sinn für einen Mangel im Reinzustand“ (20) bewahrt. Für die Liebe findet Luisa Muraro viele Beschreibungen, z.B. beschreibt sie sie als „Liebe ohne Objekt, oder Liebe, die bereit ist, es zu verlieren und niemals sicher sein kann, es zu besitzen, die jedoch real und vermögend ist“ (21).

Ich versuche mich festzuhalten an den Worten, sie greifen zu können. Aber die flutschen mir durch die Finger wie ein Stück Seife, bitte mehr Beispiele, es ist mir alles immer noch viel zu abstrakt: Liebe! Freiheit! Glück! So viele Ideen von Gefühlen zu diesen Worten fallen mir da ein! Aber das hier – das Erlebte von den beginischen Schriftstellerinnen – muss ganz anders sein. Und vielleicht ist es auch nur für mich schwer, weil ich so ein Erleben nur erahnen kann, weil ich es selbst noch nicht erlebt habe.

Gibt es so etwas wie ein „kosmisches Bewusstsein“, das jeder Person zugänglich ist?

Ich finde aber ihre sprachlichen Näherungsversuche zugänglicher als „Gott gibt uns alles“, oder ich finde sie anschlussfähiger, suche aber weiter nach Verknüpfungen, nach Worten, die … wie soll ich sagen… vielleicht habe ich eine Vorstellung, eine Ahnung, dass es doch einen sehr tiefen Sinn hinter diesem Erleben gibt. Dass der Sinn also eine Art von Gerichtetheit hat. Und dass diese Gerichtetheit sich je nach Vorprägung unterschiedlich ausrichten kann. So schreibt Luisa Muraro, dass die beginischen Schriftstellerinnen alle durch die Heilige Schrift zutiefst beeinflusst waren. Was sie an Liebe erleben, ist also auf in irgendeiner Weise auf den dort vorkommenden Gott gerichtet, Gott spornt sie an, das Schreiben zu lernen: „noch vor dem fortschrittlichen Bürgertum war es also Gott, der es übernahm, die Frauen (…) zu alphabetisieren.“ (20) Das Erleben ist also auf das Erkennen von Gott gerichtet, und – und das ist jetzt eigentlich nur eine Vermutung von mir – Gott hat somit bereits eine Form… ich finde momentan noch kein anderes Wort… aber ich meine damit, dass die Heilige Schrift eine Idee von dem gibt, was erkannt wird in dem Erleben eines „Mehr-als-rationalen-Weltzugangs“ (ich verwende diesen Begriff jetzt auch im weiteren Textverlauf, aber ganz glücklich bin ich noch nicht; und sicher gibt es schon bessere). Die empfundene Liebe nannten die Mystikerinnen „Gott“; Liebe ist zudem durch Gotteserleben möglich geworden, usw. usf. Luisa Muraro schreibt: „Je mehr wir das Bedürfnis haben, um so mehr wird Gott existieren, je mehr wir dazu imstande sind, um so mehr Gott werden wir haben.“ (30)

Umso mehr wird Gott existieren.

Umso mehr werden wir Gott haben.

Hmmm.

Manchmal habe ich das Gefühl, alle Worte, alle Gefühle usw. sollen auf ein Wort, auf „Gott“ gebracht werden. „Gott“ öffnet morgens die Fenster und lässt die Sonne oder den Regen rein, und „Gott“ macht abends als letzter die Tür zu; „Gott“ ist da, wo Gedankenschleifen beginnen und wieder enden. Warum? Was ist der Sinn dahinter? Und ich bin schon wieder leicht erschöpft, die Wörter eiern rum, ich werde unaufmerksam. Nichts hier bindet mich an die Erde, es klingt nicht. „Gott“ wirkt wie eine Metapher, eine abstrahierte Idee, losgebunden von der Welt, von mir. Wie kann das sein?

Ich nähere mich langsam dem , worauf ich hinauswill: ich suche verzweifelt danach, mich verbinden zu können. Und dann frage ich mich: Was wäre, wäre eine andere Schrift, ein anderes Wissen vom „Mehr-als-rationalen-Weltzugang“ in Umlauf gewesen? Würde dann „das gleiche Erleben“ eine andere Form bekommen, gäbe es dann vielleicht eine Verbindung, die nicht nur Sinn macht, weil sie Liebe bringt und glücklich macht, sondern weil sie notwendig für das Verwurzeltsein und das Fühlen eines Zentrums der Menschen ist; für das Fühlen der Erdgebundenheit der Menschen, und für die Kenntnis davon, dass wir Menschen zutiefst in mehr als nur rationales Sein eingewoben sind, in ein Netz, das über das bekannte Leben, also über Menschen, Tiere, Pflanzen, Biome, Eukaryoten usw. hinausgeht? Das aber eben nicht nur mir persönlich als Erlebende Liebe und Freiheit bringt, sondern wodurch sich in mir ein ausgedehntes Verständnis dafür entwickelt, dass das Wirken und der Grund dafür ebenso über das bekannte Leben hinausgeht, weit über meinen Körper hinaus, und dass es doch eine tiefere Bewandtnis mit diesem Erleben hat, das jeder Person möglich ist?

Und jetzt komme ich endlich zum Punkt: Ich will darauf hinaus, dass ich mir vorstellen kann, dass das Erleben der Mystikerinnen dem Erleben von Schaman*innen beispielsweise, oder Menschen einfach, die diese Art von Visionen haben, die diese Reisen antreten, sich sehr ähneln kann. Schaman*innen aber erleben andere Dinge, und finden andere Worte für das Erleben, und sie finden teils sehr konkrete Beschreibungen, wie Joshua Michael Schrei in seinem Podcast The Emerald, dem ich gerade völlig verfallen bin, ausführt. Jetzt kommt ein langes Zitat (zur besseren Erkennbarkeit setze ich es kursiv), und übersetze es gleich ins Deutsche (und ich kann leider nicht ausschließen, dass sich hier eventuell der ein oder andere Verstehens- und Übersetzungsfehler eingeschlichen hat…):

„Sehen alle Menschen dasselbe in diesen Zuständen? Sehen Christ*innen die tantrische Bilderwelt, wenn sie sterben? Nein, natürlich nicht. Der Anthropologe David Lewis-Williams sagt: ‚Die mentale Bilderwelt, die wir in anderen Zuständen erleben, ist von der Erinnerung (memory) gespeist und deswegen kulturell spezifisch. Die Visionen einer Inuit Person, die in den kanadischen Schneefeldern lebt, sind andere als die eindringlichen Andeutungen, von denen Hildegard von Bingen glaubte, Gott rücke sie ins Zentrum. Die Inuit Person sieht eher Polarbären und Robben, die zu ihr sprechen; Hildegard von Bingen hingegen sah Engel und merkwürdige Kreaturen, die ihr von der Schrift (Scripture) vorgeschlagen wurden, und teuflische Wandgemälde (evil wall paintings) und Erleuchtungen, die ihr nicht fremd waren. Das Spektrum des Bewusstseins [Anmerkung: Ich denke, er bezieht sich hier auf ein Bewusstsein, das über das individuelle hinausgeht, eine Art „Weltbewusstsein“ oder „kosmisches Bewusstsein“] ist verknüpft, aber der Inhalt ist meistens kulturell. Ein visuelles Bild, das das Gehirn erreicht, wird dekodiert, indem es abgeglichen wird innerhalb der eigenen Erfahrungen.‘

Die genauen Ausformungen sind also kulturell determiniert. Aber hier ist der Schlüssel: ‚kulturell determiniert‘ bedeutet nicht: unwichtig. Oder, dass hier ein tiefer Unterschied vorliegt. Durch alle Kulturen hindurch ist da eine bestimmte Geografie, ein Gemeinsames/Geteiltes von Orientierungspunkten und Konfigurationen bezüglich der mystischen Erfahrungen; eine Serie von Texturen, ein verbreitetes Mandala von Punkten, Achsen und Spiralen, ein Rad der beseelten/belebten Kräfte […]. Es gibt eine Vorlage oder ein Entwurf, könnte man sagen; ein geplante Geografie zur mystischen Erfahrung. Und es gibt Kartograf*innen, die diese Geografie auf-/eingezeichnet haben seit tausenden von Jahren. Sie haben sie eingeschrieben in Geschichten und in Kunst, in ritualisierte Praktiken; es ist eingezeichnet worden in Mandalas und Felder und Gitter und Höhlenwände; in Bilder oder Muster, die uns helfen, auf einem tieferen Ebene Beziehungen zu artikulieren zwischen Kopf und Körper (mind and body), Land und Gemeinschaft und Kosmos. Die Reisende betritt den Raum, zeichnet ihn in ihrer Karte ein, und dann wird die Kunst zu einer Karte für andere, um die Reise an denselben Ort unternehmen zu können. Wir profitieren von der Kartografie von jenen, die den mystischen Raum betreten haben, und zwar seit zehntausenden von Jahren. Und der Schlüssel zu dieser Kartografie ist eine mythische Struktur. Eine mythische Struktur, die aus Kunst und Geschichte und Ritual und Lied gebaut wird, mit welcher man die Erfahrungen der Kräfte der Natur und des Bewusstseins erkennen und erleben kann. Es liegt ein tiefer Wert darin, eine definierte Mythologie zu haben, wenn man den mystischen Raum betritt. Denn mit einer definierten Mythologie kann man die mystische Erfahrung in ein größeres kulturelles Mandala einpassen, und auch in eine Welt der natürlichen und gemeinschaftlichen Dynamiken. Ohne diese kulturellen Landschaften ist es möglich, dass die mystische Mythik (the mystic mythic) unbeschreibbar bleibt, und dann verpassen wir eine Menge von tiefen persönlichen und kulturellen Verwendungsmöglichkeiten. Ohne einen Mythos, der in Kunst, einem Lied oder einem Ritual verankert ist, können mystische Erfahrungen an den Rändern der Gesellschaft vergessen werden, wo es unverankert hin- und herdriftet, lose und abgetrennt. Diese Karten der mystischen Räume, die tausende Generationen von Künstler*innen, Reisenden, Trommler*innen, Sänger*innen uns hinterlassen haben, sind potent: Wir könnten eine harmonischere Beziehung mit dem Land/der Umwelt/der Natur (the land) und miteinander haben, und das Wissen könnte im Kontext verankert werden.“ (Joshua Schrei in der Folge „Mapping the Mystic: Geographies of Ecstasy in Consciousness and Culture“)

Bevor ich das hörte, – und da schrieb ich schon an diesem Text – dachte ich, ich stelle eine gewagte These auf, wenn ich behaupte, dass Margareta Porete und eine brasilianische Schamanin durch Meditation oder Trance denselben Bewusstseinszustand erreichen, und ihre dortigen Erlebnisse dann nur kulturell anders mit Bedeutungen und Worten ausfüllen. Danke, Joshua Schrei, dass sich meine noch vor einigen Tagen sehr aufregend angefühlte These nun in Luft auflöst, denn anscheinend ist das schon common old stuff in manchen Kreisen.

Finde ich Anzeichen von solchen Geografien in Der Gott der Frauen? Luisa Muraro zum Beispiel sagt, dass beim Rezitieren von Märchen, Litaneien, Kinderreimen, Liedern, Texten eine „alte Oralität“ erklingt, und es sei nicht verwunderlich, „wenn man berücksichtigt, dass die Stimme Körper ist, atmet und schwingt und in die lebendige Materie eingeht, die sich mit der Generation überträgt. Auch die Worte gehen von einer Generation in die andere über. […] Sie wandern durch Generationen von Sprechern, frei, sich zu kombinieren und wieder neu zu kombinieren, ihrer immanenten Ordnung nach, […].“ (121) Ich weiß nicht, aber diese Worte ähneln sehr jenen von Joshua Schrei. Und hier verstehe ich körperlich jedes Wort.

Oralität ist in so vielen indigenen Kulturen der Welt so wichtig, weil Texte so veränderbar und lebendig bleiben; sie können jederzeit verbessert werden; Geschichten können jederzeit „wahrer“ erzählt werden; eine Träumer*in oder eine Reisende* kann die Geschichte dem Realen oder „dem Weltbewusstsein“ noch näher rücken. Oder Visionen dieser und jener Person können einen wichtigen Punkt oder eine ganze weitere Geschichte hinzufügen, sodass die Geschichte/n insgesamt wahrer, komplexer, kaleidoskopartiger wird/werden. Geschriebenen Texten hingegen ist schon eine Statik eingeschrieben, sie sind längst nicht so dynamisch; es besteht viel eher die Gefahr, dass durch ihre Sang- und Klanglosigkeit und den nicht ausgelebten Rhythmus Sinn verloren gehen kann. Und klar: der Text kann von Schreibenden oder Um-Schreibenden manipuliert werden und so von der Wahrheit abkommen. Ich bezweifle wirklich nicht, dass in den Geschichten in der Bibel genau solches wahres Wissen und Bewusstsein vorkommt. Aber sind sie noch real, im Sinne von: ganz wahr? Oder enthalten sie nur punktuell hier und da Wahrheit?

Ich liebe Texte schwarz auf weiß. Ich bin Literaturwissenschaftlerin, hallo. Denn sie dienen mir als Vorlage, überhaupt in die Erfahrung gehen zu können, an Erfahrung anknüpfen zu können, was ich sonst nie könnte. Wie arm wären wir Menschen kulturell und erinnerungstechnisch, wenn wir diese Geschichten nicht auch schwarz auf weiß oder Kreide auf Stein oder wie auch immer geschenkt bekommen hätten. Es gibt Phasen in der Menschheitsgeschichte, in der bestimmte Traditionen abreißen. Durch diese aufgeschriebenen oder anders verewigten Geschichten können auch nach langen Phasen der Stille zumindest einige Fäden hin zu dieser Geschichte oder zum Bewusstsein wieder aufgenommen werden.

Aber ja, ich frage mich gleichzeitig schon – und ich finde, es kann als Paradox oder Dilemma ruhig so beieinander stehenbleiben –, ob Geschichten nicht viel dynamischer und somit anpassungsfähiger, näher an unser Eingeflochtensein in das Ökosystem gebunden bleiben müssen, einfach damit sie ihre sinnvolle und sinnstiftende Wirkmächtigkeit nicht verlieren? Ich meine… Ursprungsgeschichten, die nicht mehr an unsere Lebensrealität gebunden und zudem patriarchal überformt, verkrustet sind, mäandern in unserem kulturellen Gedächtnis und unseren tagtäglichen Praktiken hin und her, unverbunden, aber immer noch total wirkmächtig. Und ist es dann nicht total klar, dass auch unser auf diesen Geschichten aufbauendes Handeln und Wirken in gewissem Sinne „unwahr“ wird, im Sinne dessen, dass wir uns mit den Geschichten vom Ökosystem wegbewegt und auf tödliche Pfade begeben haben?

Wenn es denn so ist, wie Joshua Schrei sagt, dass die Visionen sich nicht so sehr voneinander unterscheiden, dass seit zehntausenden von Jahren immer wieder ähnliche oder gleiche Geschichten aus Visionen überall auf der Welt erzählt werden, dann könnte es möglich sein, dass es so etwas wie ein „Weltbewusstsein“ gibt. Und das war auch eine anfängliche „gewagte These“ von mir, aber Joshua Schrei macht auch mit dieser Gewagtheit Schluss. Und ich baue darauf auf, wenn ich sage, dass es dann wahrscheinlich eine Notwendigkeit für dieses Erleben gibt. Obwohl ich noch nie eine solche Reise gemacht oder einen solchen Zustand erreicht habe, ist dieses Gefühl, dass ich es könnte, so tief in mir angelegt. Aber es auszusprechen, fühlt sich in unserer europatriarchalen Umgebung so weird an. Aber ja, ich spreche es jetzt aus, und Leute wie Joshua Schrei oder Tyson Yunkaporta, Bayo Akomolafe oder William Blake oder Sophie Strand scheinen ja schon zu wissen, was ich nur annehme: Ja, es muss erlebt werden, das Erleben von Visionen z.B. in ekstatischen Zuständen müsste eigentlich integraler Bestandteil einer jeden kulturellen Praxis sein. Denn es zeigt uns Menschen, wie wir verbunden sind mit Anderem, wie wir zum „Mehr-als-rationalen-Weltzugang“ finden, es zeigt uns, dass wir Teil des Kosmos‘ sind, eingespannt in so viele Beziehungsweisen völlig unbekannter Formen, von denen wir Europatriarch*innen bis zu unserem Lebensende keine Ahnung haben, wenn wir es nicht in unser Leben lassen. Ohne das Wissen um unsere Verbundenheit und unser menschliches Eingeflochtensein in einer Welt und einen Kosmos, das weit über das menschliche und auch pflanzliche und tierische Leben hinausgeht, sind wir eben fähig, diese Welt zu zerstören. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt. Ich denke, also bin ich. Alles tödliche Pfade. Und so so tief in unserer europatriarchalen Kultur verankert. Die meisten unserer europatriarchalen kulturellen Praktiken sind nicht erdgebunden.

Wenn Luisa Muraro schreibt, dass „Gott immer da war, und wir lebten so dürftig, weil wir ihn nicht zu gebrauchen wussten“, dann spüre ich, dass es im Grunde bedeutet, dass wir Europatriarch*innen zum einen viel Empfinden verpassen ohne – wie sie es nennt – „Gott“ im Leben, aber ich höre hier auch heraus, dass das verarmte Leben, das Leben, das nicht in voller Pracht ausgelebt werden kann und darf, eben derartig entstellt ist, dass wir auf tödliche Pfade geraten können.

Ist das von den beginischen Schriftstellerinnen Erlebte nun wirklich „unverfügbar“, wie Luisa Muraro es deutet? Oder ist es vielmehr so, dass nicht genug Vorwissen da ist und die jahrtausendealte Erfahrungsweitergabe fehlt, weil intergenerationaler Erfahrungsaustausch durch was auch immer – Kriege, Hexenverbrennungen – unterbrochen wurde? Fühlten sich die Mystikerinnen allein? Dachten sie, sie wären speziell? Deuteten sie deshalb „Gott“ nur für sich selber aus? Ich habe mir nun einige Bücher der Mystikerinnen bestellt, um das herauszufinden, aber auch Luisa Muraro zitiert ja zum Beispiel aus Angela de Folignos Buch Il libro dell‘esperienza: „dass sie dort, wo sie von der dritten Liebe erfasst wird, von nichts sprechen hören will, weder vom Evangelium noch von Gott, es erscheint ihr alles wie eine Einmischung und unzureichend, denn das, was sie sah, betrifft noch größere Dinge. Und dann fügt sie überraschend hinzu, dass, wenn diese Liebe sich zurückzieht, sie trotzdem glücklich und zufrieden bleibt und in dieser glücklichen Zufriedenheit jeden und alles liebt (und um davon eine Vorstellung zu geben, nennt sie Würmer, Kröten, Teufel), […].“ (99f)

Also für mich höre ich hier heraus, dass sie zum „Weltbewusstsein“ oder „kosmischen Bewusstsein“ aufschließt, wie ich es bei Joshua Schrei verstanden habe. Aus ihren Visions-Erfahrungen erwächst eine tiefe erdgebundene Liebe zu anderen Lebewesen und „mehr-als-Lebewesen“, die weit über Gott hinausgeht, eben „größere Dinge“ betrifft. Und ich frage mich: Warum kann sie die „größeren Dinge“ nicht in ihr Gott-Konzept integrieren? Was genau ist es, was als Rest übrigbleibt und warum? Und hier sind wir wieder bei der kulturellen Determiniertheit von Erfahrungseinordnungen: Gott hat für Angela de Foligno bereits eine Form, bevor sie das „Noch-Mehr als das (göttliche) Mehr“ erlebt.

Und jede Person hört für sich eben aus solchen Erfahrungen – je nachdem, mit welchem intergenerationalem, kulturellen usw. Wissen sie diese Erfahrungen macht – andere „Aufgaben“ oder Verantwortungen heraus, welche von den jeweiligen Personen auch wieder je spezifisch kulturell eingebunden werden.

Die Moral von der Geschicht‘

Ich muss mich noch kurz über die Moral auslassen, denn hier gibt es einen Anschluss an den ersten Teil dieses Textes, und hieraus erwachsen eben verschiedene Verständnislücken bei mir. Seit einigen Jahren schon stehe ich der Moral kritisch gegenüber, ja ich habe regelrecht eine Aversion entwickelt. Erst wieder intuitiv, und dann hörte ich immer genauer hin, wenn es um sie ging. Vielleicht, weil rassistische Inhalte oft ganz subversiv in moralischem Gewande erscheinen, weil Besserwisserei und Mehrwisserei sich moralisch absichert usw. usf. Seit Ewigkeiten möchte ich einen Artikel nur zur Moral schreiben, aber es ist zu groß, und ich entscheide mich jetzt, es häppchenweise zu machen, denn hier passt es gerade so gut.

Hört man Angela Foligno zu, so ist irgendwie sofort klar, dass in ihr kein Ort ist, wo Moral wachsen und gedeihen kann. Aber in Institutionen wie der Kirche wächst und gedeiht die Moral. Hier erwächst Verantwortung für die Welt nicht aus dem im eigenen Körper gemachten Erfahrungen (und– im Sinne von Theresa von Avilas Aussage ‚Ich lebe schon außer mir‘ – auch nicht aus Erfahrungen außerhalb des eigenen Körpers), sondern Verantwortung wird unter einer „du sollst nicht-‚Moral‘“ verkrüppelt und unter Gewaltanwendung in eine patriarchale Ordnung gebracht. Maria Zambrano formuliert es so: „Die Liebe fördert nicht die Verringerung, sondern eine Auflösung des Schwerpunkts, der, wenn sie nicht existiert, den Boden für die Moral bildet.“ (125)

Im Schimmern und Gleißen, im Abtauchen in das und das Wahrnehmen und Fühlen des Anderen, wird die Verantwortung als natürlich aufgezeigt; keine noch so intellektualisierte und patriarchal-philosophisch hergeleitete und aufoktroyierte Moral nötigt hier abstrakte, nicht im Körper gefühlte, tödlich erkaltete Verantwortung auf. „Du sollst nicht töten.“ Wenn der Satz von Angela de Foligno käme, würde ich hier die Liebe zum Lebendigen heraushören. Und ich höre dann aus dem Satz auch nicht, dass man gar nicht töten soll, denn das ginge ja eh gar nicht; Leben nährt sich von anderem Leben. Sondern damit wäre bei ihr das sinnlose, nicht erdgebundene Töten gemeint.

Ist der Satz hingegen moralisch unterfüttert, dann höre ich Hierarchie heraus, ich höre… ich höre heraus, dass einfach die Verbindung zur Welt gekappt wurde. Warum sonst müsste er gesagt werden? Es kommt mir oft so vor, als wenn die Moral Menschen einen Grund dafür gibt, sich nicht tief und innig mit der Welt auseinanderzusetzen, weil „Lösungen des Miteinanderseins“ über Moral als Ersatz herhalten, weil wir keinen Bock auf tiefe Verbindungen mit der Welt haben. Und den Rest, den Müll, den Abfall, das, was nicht in die Moral passt und herausquillt, was nicht abgedeckt ist vom dünnen Deckchen der anerzogenen zivilisatorischen Moral, das haben wir aus unseren Körper*innen outgesourct in Gerichte und Gefängnisse und all die anderen Institutionen, die für Recht und Sicherheit sorgen.

Margareta Porete selbst erfindet den „Tod des Geistes“, sie sagt: „um eine tatsächliche Erfahrung zu erzählen, beendet die Anstrengungen des menschlichen Willens, das Gute zu tun und das Wahre zu erkennen; […].“ (87) Denn es sei vielmehr „der Triumph der liebenden Seele, der diesem Tod folgt, nackt dem Sein ausgesetzt zu sein und bereit, es zu empfangen“ (87). Die Liebe stellt Verbindungen her, knüpft Beziehungen, webt Netze zwischen allen Formen des Lebens, auch zu dem „Mehr-als-Lebendem“, auch zu dem Leben, das schon vorbei ist, das bereits in eine andere Form des Seins übergegangen ist, das moderne Verständnis von Zeit löst sich auf usw. usf., „Das Unhaltbare eines Gegenstands des Wissens, des Glaubens, der Liebe, des Besitzes, der Aneignung, Tröstung Illusion, Hoffnung (Gott inbegriffen) macht den Horizont zum Unendlichen frei: der gute Wille stirbt, die Perspektive, Gutes zu tun, schwindet, jede ethische Ordnung und jede Gerechtigkeit verschwinden. Verlust seiner selbst und ein Schiffbruch der Welt. Verlust und Schiffbruch, die in die bedingungslose Disponibilität des Selbst münden, in eine Erfahrung des Seins und einer Freiheit, die die Welt nicht zerstört, sondern öffnet und hier das Absolute eintreten lässt.“ (90)

Eine Freiheit, die die Welt nicht zerstört.

Interessanterweise hat Luisa Muraro dann Fragen an die Mystikerinnen zu Dingen, die sie nicht versteht. Eine davon ist die: „Und wie kommt es, dass sie, von da ausgehend, sich aktiv der Welt widmen?“ Ich finde es immer interessant, welche Fragen sich anderen Menschen eröffnen, wenn ich in der Frage beispielsweise eher eine langersehnte Antwort finde. Denn das ist ja meine These: Menschen, die dieses Erleben zugelassen haben und einordnen können in Weltzusammenhänge, die können ihr Leben danach einfach nur noch „aktiv der Welt widmen“. Und ich glaube dann auch nicht, dass – wie Luisa Muraro schreibt – „in der Finsternis zu sehen“ wirklich bedeutet, dass sie „ohne Spiegel“, „ohne Erkenntnisgewinn“ sind (oder ich habe es falsch verstanden, was bei diesem Abstraktionsgrad leicht möglich ist). Ich glaube vielmehr, das Reale fasst auch hier ein Erkennen der Welt in einer anderen Dimension mit ein, und diese Dimensionen sind/wären auch beschreibbar, wenn es Zugriff auf das „kosmische Bewusstsein“ gibt, wie in dem Zitat weiter oben von Joshua Schrei ausgeführt.

Und von daher würde ich sagen, liebe Antje – und ich hoffe, der Gedankensprung hin zu einem deiner Kommentare gelingt mir jetzt – meine ich, dass es eben nicht nur „irdische“, also materielle Dinge sind, wenn ich von „Welt“ oder „Kosmos“ spreche. So wie das Reale auch das einbegreift, was nicht gänzlich von dieser Welt ist.

Auch „Kosmos“ ist ein Wort, das ich erst seit einem knappen Jahr in meinem Wortschatz habe, oder zumindest seitdem versuche, mit Sinn für mich zu füllen. Und wenn ich Luisa Muraro lese, und sie davon spricht, dass die Liebe ein Mittler zwischen Himmel und Erde ist, ein Bote, der kommt und geht und Geschenke und Botschaften überbringt, dann wäre das meinem Verständnis von kosmischer Wissensvermittlung sehr nahe. Das Gute ist, dass bei „Kosmos“ für mich der Raum noch nicht so vollgestellt ist wie bei „Gott“, und er zudem sehr viel größer erscheint. Welche Erscheinungen der Natur kann ich „einfach so“ sehen, mit meinen Augen, mit meinem Forscherinnenblick, mit meinen Ohren, mit meinem Wissen, das ich mir angeeignet habe? Und welche Erscheinungen kann ich nicht sehen, wenn ich mich nicht in Trance versetze, um z.B. eine schamanische Reise anzutreten? Dieser Punkt ist mir wichtig. „Welt“ ist für mich nichts, was nur rational zugänglich ist, sondern vielmehr „real“ im Sinne von Luisa Muraro, oder auch „wahr“. In dem Begriff „Welt“ stecken für mich viele Beziehungen und Verknüpfungen, von denen ich absolut noch keine Ahnung und keine Begriffe habe. Ich sage „Welt“ und es klingt und singt in mir. Vielleicht ist das bei anderen der Fall, wenn sie „Gott“ sagen? Keine Ahnung.

Foto: Anne Newball Duke

Das ist mir zu esoterisch!

Ich stelle noch eine wilde Behauptung auf. Ich glaube, dass auch „Esoteriker*innen“ eventuell ähnliche Erfahrungen des Unverfügbaren machen wie Margareta Porete oder Hadewijch oder Mechthild von Magdeburg oder Theresa von Avila oder Hildegard von Bingen oder Angela de Foligno. Die Worte, die für das Erleben gefunden werden, sind aber vielleicht nicht „Gott“ oder irgendein anderes Vokabular, das ihnen aus der Heiligen Schrift in den Körper gelegt wurde, um es für das Erleben zu nutzen, um sich mitteilen zu können, um von diesem Erlebnis überhaupt etwas berichten zu können.

Ich weiß wenig über Esoterik. Ich habe beim Schreiben jetzt auch nur einen klitzekleinen Ausschnitt im Kopf, und zwar rund um das Thema Demeter-Landwirtschaft. Das ist so aktuell, weil ich die Dokumentation von Katrin Back zur Demeter-Landwirtschaft (hier in der ARD-Mediathek) gesehen habe. Von da aus hatte ich einfach viele Anschlussgedanken hin zum Text Gott. Corona. Care. und zu dem Austausch darunter im Kommentarbereich.

Ich denke, viele der Rituale in der Demeter-Landwirtschaft rühren von einem Wissen her, das auch einmal aus Erfahrungen mit dem „Mehr-als-rationalen-Weltzugang“ entstanden ist. Ich spreche also den Gurus wie Rudolf Steiner, deren Rituale bis heute in der Landwirtschaft ausgeführt werden, nicht ab, solche Erfahrungen gemacht zu haben. Unter anderem ist es aber sicher ein Problem, wenn Rituale einfach übernommen werden. Vertrauen in eine Autorität ist gut (aber vielleicht auch nur in eine weibliche Autorität ;), aber um nah am Wahren zu bleiben, müssen die Rituale und Erlebnisse weiterhin aktiv mit den Dingen der Welt verknüpft werden. Denn wenn irgendwann die tiefere Verbindung verloren geht, und es kaum noch Menschen gibt, die diese Erfahrungen und Reisen hin zum Anderen machen, dann werden diese Rituale „seelenlos“; sie sind nicht mehr verankert in der kulturellen Matrix, würde Joshua Schrei jetzt vielleicht sagen.

Ich hatte bei allen Bäuer*innen in der Folge das Gefühl, dass sie immer noch darum wissen, dass den Ritualen etwas Wahres anhaftet, und dass sie das Wahre im Praktizieren der Rituale immer wieder auch spüren. Aber haben alle Demeter-Bäuer*innen das spezifische kulturelle Wissen, warum ein bestimmtes Ritual wichtig und richtig ist? Und dann wieder… wenn das Praktizieren bestimmter Rituale einfach Sinn macht im Körper, ist es dann nicht wahr? Und vielleicht führen einige sogar ihre ganz eigenen Rituale durch, aber hey, ich würde als Bäuerin in der europatriarchalen Kultur, in der solches Wissen verpöhnt und verlacht ist, auch nicht gern in der Öffentlichkeit darüber sprechen.

Oder, was auch möglich ist: ein Ritual könnte viel wirksamer und sinnvoller gestaltet werden, aber es ist das Wissen verlorengegangen, wie das Ritual verbessert werden kann. Weil nur einer Autorität vertraut wird. Beim Ausführen steht man dadurch immer leicht neben Erfahrungen aus „Mehr-als-rationalen-Weltzugängen“, und auch so können Erklärungen oder lose flatternde, nicht ans „Weltbewusstsein“ angeschlossene Worte „unwahr“ klingen. Wenn eine Philosophie ihren Körper verliert, dann kann jede Person mit irgendwelchen merkwürdigen versponnenen Aggregaten kommen und sagen, es gehöre dazu. Dann kann es auch gefährlich werden.

Ich glaube, viele Menschen, die ich bisher mit dem Adjektiv „esoterisch“ versehen habe, haben eine wie auch immer geartete Verbindung zum „Mehr-als-rationalen-Weltzugang“, zu einer je eigenen spirituellen Weltwahrnehmung. Weil sie „naturnah“ sind, weil sie fühlen, dass auch Pflanzen eine Seele haben usw. usf. Einige Schlussfolgerungen sind vielleicht „ver-rückt“, oder gewisse Rituale nicht mehr nachvollziehbar. Aber das Gefühl in der Person ist, dass etwas Wahres in dem Ritual steckt. Vielleicht bringt das Ritual die Person auf unbeschreibliche Weise dem „Mehr-als-rationalen-Weltzugang“ näher. Die Intuition sagt, „mach weiter mit dem Ritual“. Welches Recht haben wir, das eine Erleben als „Liebe“ und „Freiheit“ und „Gott“ zu deuten, und das andere als „ver-rückt“, nur weil es vielleicht nicht tief genug geht, aber so genau wissen wir das eigentlich nicht? Wer hat denn im Europatriarchat eine Ahnung, wo und wie und wem sich wann der „Mehr-als-rationale-Weltzugang“ auftut? Und wer hat das Recht zu bewerten? Hier sind wir doch eigentlich wieder bei der Unmöglichkeit der Vergleichbarkeit wie beim Schmerzempfinden.

Mir ist diese Form der Esoterik – ich spreche jetzt wirklich nicht von all den teils sehr abstrusen Ausformungen auch während der Corona-Zeit – mit ihrer wie auch immer gearteten „Weltbezogenheit“ viel verständlicher als die Beziehung zu einem abstrahierten, transzendierten Gott im Himmel. Sie hat immerhin irgendwie mit der Welt zu tun, sie feiert das Lebendige. Der Himmelsgott hingegen ist vielleicht noch im Wind zu spüren, aber er scheint nichts mit den dreckigen, sumpfigen, dunklen, wilden, tentakulären, sich rekelnden, schleimigen lebendigen Dingen dieser Welt zu tun haben zu wollen.

Ich denke mittlerweile, dass das Erkennen von Kräften, Mächten, Beziehungen, Strukturen, Energien usw. unabdingbar ist, um zu begreifen, was die Welt im Inneren zusammenhält, und was uns Menschen in dieser Welt hält, um es mal pathetisch auszudrücken. Wenn wir uns selbst nicht ermöglichen, den „Mehr-als-rationalen-Weltzugang“ in unser Leben aufzunehmen, einzubeziehen, einzugedenken, ja ich gehe noch weiter: Wenn wir nicht in Betracht ziehen, unser Sein eventuell sogar darauf aufzubauen und abzuleiten, es also tief einflechten in einen dann sehr anders ausgerichteten Alltag, es also nicht nur präsent halten in irgendeiner europatriarchalen Zeitnische irgendwo am Rande des Alltags, werden wir die tödlichen Pfade nicht verlassen. Egal, wie viele Solaranlagen wir auf Dächer und Wiesen und sonst wohin pflanzen.

Indigenes Leben und Kultur, indigene Rituale round about Pachamama in Peru zum Beispiel sind nie nur auf das „materiell Irdische“ bezogen, hier wird all das Wissen vom „Mehr-als-rationalen-Weltzugang“, vom animistischen Erleben mit einbezogen und auf das eigene Leben, das eigene Sein in der Welt bezogen. (Wunderschön und poetisch in Szene gesetzt wurde dies zum Beispiel in dem Film Die Augen des Weges von Rodrigo Otero und Maja Tillmann, der kürzlich bei ARTE zu sehen war.) Diesen Weltzugang zu erleben ist nicht nur ein nice to have, sondern aus ihm heraus und in ihm und mit ihm werden Verbindungen auf der Welt gesehen und eingegangen. Ich würde behaupten, dass all diese Arten von Verbindungen sich immer innerhalb der planetaren Grenzen abspielen, dass das menschliche Leben in einem solchen Eingedenken niemals auf die tödlichen Pfade gerät.

Die Wissenschaften allein holen uns nicht zurück auf die Pfade innerhalb der planetaren Grenzen, das ist ein weiterer moderner europatriarchaler Irrglaube. Es sei denn, wir formen die Wissenschaften um und lassen andere Wissensformen wie die, von denen in diesem Text die Rede ist, radikal Einzug halten. Und wir hören auf, in unserer europatriarchal rationalen Sicht der Welt indigene Menschen als „das Andere“ zu sehen, als jene, die irgendwie einen weirden, „unfortschrittlichen“ Zugang zur Welt haben. Und welche – wenn wir genau hinschauen – eigentlich größtenteils schon immer das Andere in ihrem Leben integriert hatten, und sich damit nie auf tödliche Pfade begaben. Wie „unfortschrittlich“, oder? Die Welt nicht schon im Mai aufgebraucht zu haben. Drei Erden im Jahr auszunehmen wie Weihnachtsgänse und diese dazu noch mit tödlichen Dingen vollzustopfen. Auch dieses Othering als „Hüter*innen des Amazonas“ usw. usf. hilft hier gar nix. Wir alle müssen Hüter*innen des Amazonas sein, und zwar nicht, indem wir nun unbedingt in den Amazonas ziehen und unser Leben riskieren – jede Woche sterben etwa vier solcher „Hüter*innen“ weltweit gewaltvoll, Tendenz rapide steigend – , sondern indem wir die anderen Wissensformen anerkennen und mutig unseren Denkmittelpunkt ver-rücken, uns ver-rücken lassen, so ver-rückt werden, dass wir sie unseren europatriarchalen Wissensformen voranstellen. Denn diese anderen Wissensformen bringen uns von den tödlichen Pfaden ab.

Auch in Der Gott der Frauen lese ich das, wenn Luisa Muraro schreibt: „Kurz gesagt, ich verlange von euch, nicht zu glauben, dass es eine Sprache der Kunst und Mystik gibt, die von der gewöhnlichen und wissenschaftlichen getrennt ist, und dass ihr zumindest die Tür für den Gedanken offen haltet, dass die Wahrheit nicht mehrere voneinander getrennt, untereinander nicht kommunizierende Wahrheiten sind, auch wenn wir sie nicht kennen: im Gegenteil, gerade deswegen.“ (82) Und die Mystikerinnen interpretierten die eigenen Erfahrung frei, und dabei trennten sie weder die menschliche Natur von der göttlichen, noch den Körper von der Seele, sie setzten den Unterschied zwischen menschlicher und göttlicher Natur auf null (vgl. 105). Und sie überfliegen die Schranken, „die den Himmel von der Erde trennen, das Göttliche vom Menschlichen trennen, den Menschen von der Natur, die Seele vom Körper, die Fähigkeit zu erkennen von der Fähigkeit zu lieben“. (105f.) und das Leben der Worte und das Leben der Körper sind miteinander verwoben, unterstützen sich gegenseitig, um wachsen zu können, „und sie können es nicht ohne Liebe, die auf mysteriöse Weise die Dinge und die Worte in Übereinstimmung bringt, […]“. (119)

Luisa Muraro schreibt bezüglich des Todes von Sibilla und Pierina 1390 auf dem Scheiterhaufen: „Das war der Verlust der Weitsicht, die den lebendigen Sinn der Allegorie ausmacht und die allein verhindert zu verabsolutieren, was sich damit zeigt; nicht aus Relativismus, nicht, weil wir auf nichts und niemanden vertrauen könnten, sondern im Bewusstsein, dass es anderes gibt, Anderes, das zu erkennen uns nicht gegeben ist, das zu bestimmen uns nicht zusteht. Was geschieht dann ohne dieses Bewusstsein? Wir nehmen die konstruierte Realität mit ihren geltenden Vermittlungen ernst, wir halten sie sogar für die einzig mögliche Realität, ohne mehr die Konventionalität der verwendeten Sprache zu ermessen, ohne die Einstellungen, das Willkürliche, die Anmaßung zu sehen. Oder wir sehen das alles, aber mit der Kurzsichtigkeit dessen, der das Ganze für gegeben hält und verzweifelt.“ (73)

Ich frage mich zwar, was genau wem hier nicht zusteht, aber ja: Wir haben noch so viel zu lernen und zu verlernen, um ein gutes Leben auf dieser Welt haben zu können, das es meines Erachtens nur innerhalb der planetaren Grenzen gibt, zum Beispiel den Sinn der Worte und die Bedeutung der Dinge, um sodann das Reale zu erlernen; das Reale, das ein anders ist als das der Realisten. Wir sollten jetzt nicht müde und erschöpft werden von all den uns bevorstehenden Aufgaben und Veränderungen; wir sollten munter und lebendig werden, denn immerhin ist die Aufgabe genau das: aufmerksamer, lebendiger, einfach „mehr“ zu werden, „mehr“ zu sehen, „mehr“ zuzulassen, sich für das Erleben des „Mehr“ Zeit zu nehmen, und zwar viel mehr, als uns der europatriarchale Rahmen erlaubt. Entlastung. Raus aus dem tödlichen Leistungsdenken, runter von den tödlichen Pfaden, wir entspannen uns mal, schenken uns allen gegenseitig schamanische Reisen oder ähnliches, binden das Erlebte in bereits jahrtausendealte kulturelle Matrizen ein und schauen einfach mal, was dann passiert. Ich würde gerne reisen. Es erlernen. Aber das ist doch zu ver-rückt, oder? Woher Zeit und Geld nehmen? Wer nimmt mich dann noch ernst? Im europatriarchalen Rahmen macht das überhaupt gar keinen Sinn, ist nicht zielführend, ist Zeitverschwendung, werde ich zur weirden Outsiderin, „Esoterikerin“ im von außen negativ zugeschriebenen Wortsinne, die von anderen immer etwas ängstlich und fragend angeschaut wird wie eine Corona-Leugnerin. ‚Wir wissen nicht, was du tust. Haben wir dich verloren? Sind wir im Begriff dich zu verlieren?“ Ganz ehrlich, verlieren wir uns doch alle, um uns alle neu zu finden und neu zu verbinden, in lebendigen und beseelenden Beziehungsweisen. Why not. Wir haben so viel zu verlieren, wenn wir uns nicht verlieren.

Foto: Anne Newball Duke

Schmelzen lassen

Wenn Luisa Muraro davon spricht, „Gott bis in die Zerbrechlichkeit der Anfänge“ (56) zu bringen, wie es die beginischen Schriftstellerinnen des 13. Jahrhunderts taten, das sagt mir dann doch wieder viel, und das ist verbindend, aber nur mit dem Weltkontext im Hintergrund. Ich denke dann an die Erdgebundenheit der einstigen Götter, die sich dreckig gemacht haben, wie Sophie Strand sagt: „Zu glauben, dass irgendeine Geschichte ein individuelles Ereignis ist, lässt eine sterile Fiktion entstehen, die nicht passt in unsere eigentlich doch sehr wilde und chaotische, sehr verwobene Erfahrung des Am-Leben-Seins im Körper, in Beziehungen mit anderen Körpern.“ (Hier im Gespräch mit Joshua Schrei im Podcast The Emerald, in der Folge „Becoming a Ruin: Decomposing and Regrowing the Mythic with Sophie Strand“). Sie führt weiter aus: „Die Bewegung von starken Gött*innen hin zu Himmelsgöttern ist die Bewegung weg von einer Gött*in, die aus Sandstürmen, aus Seidenstoffen, aus Pilzsporen gemacht ist, und die sich ununterbrochen austauscht mit und bewegt zwischen der Unterwelt, dem Himmel, dem Atem, dem Körper, dem Tod, dem Am-Leben-Sein. Der abstrakte Himmelsgott kommt niemals herunter zum Boden, er muss nie partizipieren an der Flamme (?), über die er angeblich herrscht.“

Und ja, vielleicht ist es genau das, was ich nie weiß, worüber wir reden, wenn wir von „Gott“ sprechen: denkt mein Gegenüber an den von der Welt abgetrennten monotheistischen Himmelsgott, oder sprechen wir von einem im Körper gefühlten erdgebundenen Gott? Und dann habe ich noch eine Fragen: kann ein solcher im Körper gefühlter Gott ein monotheistischer Himmelsgott sein?

Sophie Strand fragt: „Wie kann der monotheistische Himmelsgott das Dreckige beherrschen, das Pilzige (fungi), die funky und sexy Realität des verkörperlichten Lebens, wenn er immer darüber hinwegschwebt? Wie kann er die Millionen an unterschiedlichen Geschichten verstehen, die ein Ökosystem ausmachen, wenn er darauf besteht, dass es nur eine Geschichte und einen Gott gibt? Wir sind erdgebundene Wesen, die Himmelsgeschichten verehren, die aber nicht wirklich zu unserer relationalen Existenz passen, die verwurzelt ist in ganz spezifischen Landschaften. Sporen-bezogene Sturmgött*innen sind wie wir erdgebunden, und deswegen verstehen sie unsere erdensatte, regensüße Existenz. Sie bringen uns Weisheit von der Unterwelt, und sie bringen diese hoch in die Luft, nur um es dann wieder zurückzuwerfen in die Blätter und Gräser der Täler und um sich wieder hineinzubegeben, einzuweichen im Schmutz, aus dem sie einst entstanden. Himmelsgötter lehren uns lineares Denken; Sporen-Gött*innen hingegen lehren uns, dass alles zyklisch ist. Und ja, manchmal müssen wir uns in die Lüfte erheben wie Sporen im Wind, aber es ist genauso wichtig, wieder herunterzukommen in unsere Körper und zurück zur Erde.“

Als ich das hörte, musste ich an die Versuche gerade von Ina Praetorius (z.B. im ABC des guten Lebens; hier eine Rezension von Chiara Zamboni) denken, die Scheiße als „unvermeidbaren Lebensvollzug“ wieder in der Sprache und der Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Es gibt hier so viele Bezüge; ich springe ständig zwischen den beiden Philosophien hin und her.

Sophie Strand sagt, dass ekstatische Zustände nicht davon handeln, den Körper zu verlassen, sondern dass sie uns eigentlich dazu bringen, dass wir wirklich tief in den eigenen Körper gehen und uns verwurzeln und verwurzelt fühlen, und in dem Moment können wir den Sturm erleben und die Blitze sehen, und die Nackenhaare stellen sich auf. Der Sturmgott ist also etwas, das wir fühlen und körperlich erleben können. Im Körper.

Sophie Strand sagt, wir müssen zu einer Ruine werden, zu riesigen Haufen von Blättern, die zu Erde zersetzt werden. „Lass Samen in mich fliegen und im Boden meines Körpers wurzeln. Lass die Birken das Dach meiner begrenzten Geschichten über Individualität abschieben. Lass mich ein Fenster werden, ein Rahmen für die grüne Welt.“ (aus dem Essay: Becoming a Ruin) Und ich finde, das klingt sehr nahe an dem, was die beginischen Schriftstellerinnen weitergeben, nur dass bei ihnen nicht ganz so dreckig und erdgebunden klingt. „Das Sein wird zu Nichts, um einen Übergang zu schaffen, das Nichts ruft das Sein auf, sich zu geben ohne Ende.“ (131)

Und auch Sophie Strand und Joshua Schrei sprechen von den Gefahren von Metaphernbildungen (hier tut es Antje Schrupp), die nicht mehr in der Erde verwurzelt sind. Erde, Luft, Wasser und Flamme erinnert sie daran, dass wir uns nicht andere Kulturen und Landschaften aneignen können. Das „Öko“ in „Ökosystem“ zeigt ihr, dass kein Charakter, keine Geschichte und kein Gedicht jemals in Abstraktion verdampfen dürfen. Jede Philosophie hat eine Landschaft und eine Gemeinschaft. Das bedeutet, sagt Sophie Strand: Wenn eine Person einen Vogel erwähnt, dann frage sie, von welcher Art Vogel sie spricht. Wir müssen immer die Textur unseres Ökosystems eingedenken und ehren.

Wenn jemand aber vom Königreich des Gottesgeistes spricht, dann ist das schwer zu wiegen, schwer zu probieren, zu schmecken und schwer, sich bildlich vorzustellen im Kopf. Aber wenn man sagt, das Königreich Gottes ist wie ein Senfkorn, könne man sich etwas darunter vorstellen. Und Sophie Strand erinnert daran, dass es immer etwas hinter der Abstraktion, hinter dem Schwarz und Weiß gibt. Da gibt es oft sehr spezifische Information über das Leben in einer sehr spezifischen Landschaft. Und sie  erinnert u.a. daran, dass die Lehre von Jesus pflanzenbasiert war, sie war nicht abstrakt; weil er auch nur so – nur mit ganz konkretem, spezifischem und poetischem Landschaftswissen – von den Menschen verstanden werden konnte.

Ich habe weitere Anknüpfungspunkte gefunden zwischen dem „Gott der Frauen“ der beginischen Schriftstellerinnen, mit deren Werken sich Luisa Muraro befasst, und den Beschreibungen dessen, was Schaman*innen oder andere Reisende hin zum Anderen sehen, spüren und erleben, und worüber Joshua Schrei in seinem Podcast The Emerald erzählt. Sophie Strand schlägt in einem kurzen Text auf ihrer Webseite vor, das Divine Feminine – das Heilige Weibliche? – verschmelzen zu lassen in eine Divine Animacy – die Übersetzung fällt mir schwer… in Heilige Beseelung/Belebung/Verlebendigung oder auch Belebtheit durch das Wiederbeleben animistischer Traditionen, Rituale usw. usf. Ich würde meinen, das weibliche Begehren geht damit nicht verloren. Denn über das eigene weibliche Begehren ist der Zugang nicht weit, und eventuell weitet und dehnt sich die Welt aus, wird die Welt überhaupt wieder ernst- und wahrgenommen; nicht nur als Metapher; wird also das je eigene Ökosystem inner- und außerhalb der je eigenen Körper*innen viel bewusster in das Denken und Fühlen aufgenommen. Wie schön wäre es, wenn sich z.B. Angela de Foligno und Sophie Strand über ihre Erfahrungen und ihr Erleben vom Anderen austauschen könnten. Das wäre ein interessantes Gespräch, ein interessanter Podcast!

Ein Gespräch, in dem bereits von dem grundsätzlichen Verstehen davon ausgegangen wird, dass wir über das Erleben des Anderen die je spezifischen Landschaften hier und dort einbetten und verbinden können in eine lange Geschichte solcher Erfahrungen. Und wir in solchen Reisen noch relativ unerfahrenen Europatriarch*innen können mehr erfahren über unser menschliches, eingeflochtenes Sein auf der Welt.

Foto: Anne Newball Duke

Kommentare zu diesem Beitrag

  • Gabriele Medam sagt:

    Hallo Anne,
    ganz erstaunlich Dein Text, Deine Gedanken und die Fragen. Mehrere Gedanken an die ich anknüpfen kann. Mir wurde dabei klar, dass in meiner Sozialisation (geboren 1954 im kath. Rheinland) immer auch ein weibliches Wesen die religiöse Formen begleitete und mich vor der Überfrachtung von männlichen Personen in Bibel und Kirche schützte. Maria, als dargestellte weibliche Figur, junge Mutter, Königin, mitfühlende Frau, und – seltener zwar- aber doch auch als junge Frau, auch ohne Kind und Krone, konnte ich neben all den anderen religiösen Figuren und Symbolen entdecken und schätzen.
    Das war wichtig und schuf für mich eine Verbindung zu und in den Glauben- Überbau. Auch in der Bibel, die ich tatsächlich mit 10 / 11/ 12 Jahren gelesen habe, fand ich viele Frauengestalten. (Sara, Ruth, u.a.) Da hat die kath. Kirche mit der Marienverehrung ein wichtiges Bindeglied für die weiblichen Kirchgängerinnen angeboten.

  • Claudia von der Tauber sagt:

    Ein wunderbarer Text. Auch wenn ich nicht alles verstehe auf Anhieb, kommt es meinem Körperverständnis zu Verortung in der Welt nah.
    Mit Gott konnte ich noch nie was anfangen, trotz allem Bemühens. Alles zu abstrakt und dann sollte ich es auch noch glauben.
    Böse war ich, wenn Gott jetzt auch noch den Wind und die Erde in Besitz nahm. Alles von den immerwährenden Kräften der Natur/ Frau Holle abgeguckt.

  • Danke für den lange erwarteten Text! Das wird Wochen dauern, da alles Wichtige und Interessante zu besprechen. Mich interessiert spontan, warum du überhaupt das Wort „Gott“ für dich erschließen willst. Ich würde das gar nicht für notwendig halten, ich habe es auch immer so gesehen, dass es ein unnötiger Umweg ist für diejenigen, die nicht mit dem Wort sozialisiert sind. Meine Maxime ist es eigentlich, dass ich das Wort nicht verwende, wenn ich mit nicht-religiösen Menschen spreche, sondern versuche, im konkreten Fall eine Umschreibung zu finden. Dass das in der bzw-Redaktion oder anderswo in dem Dunstkreis dann doch oft passiert, ist eben der Tatsache geschuldet, dass wir so viele Theolog*innen sind, aber es ist letztlich eigentlich unhöflich von uns. Letztlich ist es ein bisschen analog wie bei einer Sprache: Nehmen wir an, du bist als einzige Engländerin in einer Gruppe von Deutschen, die aber auch halbwegs Englisch können. Aber dann wechseln sie im Eifer des Gesprächs doch immer wieder ins Deutsche, und du verstehst dann nur Bahnhof. Außerdem lässt sich manches, wofür es im Deutschen eine Wendung gibt, auf Englisch nicht so gut ausdrücken (andersrum natürlich auch). Und dann kommt vielleicht noch dazu, dass du von Deutschland kaum was weißt, außer dass da Hitler war, du denkst, wenn du Deutsch hörst, immer unweigerlich an Nazis, natürlich weißt du, dass das nicht alles an Deutschland ist, aber du kennst halt nichts anderes. Ich glaube tatsächlich, dass die Frage, ob man über „Gott“ redet oder nicht ziemlich analog dazu ist. Das nur mal so für den Anfang.

  • Johanna Helen Schier sagt:

    Warum will manche Frau oder mancher Mann den Begriff Gott sich unbedingt erschließen, ihn begreifen? Vielleicht weil religiöse Gottgläubige sich besonders gehalten fühlen und sie dies beeindruckt?
    “Teneo quia teneor” . Ich halte fest, weil ich gehalten bin. In der NS – Zeit wurde diese
    lateinische Wendung zum Leitwort von evangelischen Gläubigen. Sie spürten innere
    Freiheit und Unabhängigkeit gegenüber dem braunen Zeitgeist und hielten am Glauben fest.

  • Jutta Pivecka sagt:

    Liebe Anne, diesen Text habe ich mit großem Interesse gelesen. Denn meine Entwicklung lief genau in die entgegengesetzte Richtung. Ich bin in einer sehr frommen, evangelischen Familie aufgewachsen. “Gott” war immer DA, dass “Gott mich sieht” wurde mir täglich gesagt, meist und zunehmend habe ich es als Drohung verstanden. Denn “Gott” sah vor allem meine Sünden. “Er/es” sah, wie ich wirklich bin, innen drin – und das war nicht gut! Denn jede Woche im Kindergottesdienst gab es recht viel zu beichten an schlechten Gedanken und bösen Gefühlen – und schon die sind ja eine schlimme Sünde, wie Jesus es in der Bergpredigt gesagt hatte: “Wer mit seinem Bruder zürnt, ist schuldig.” Ich zürnte jede Woche mit meinem Bruder, mindestens einmal. Und war deshalb überzeugt, in die Hölle zu kommen, weil ich es zwar wohl schaffen konnte, die bösen Taten zu unterlassen (meistens), nicht aber die bösen Gedanken. Das hat mir viele schlaflose Nächte beschert. Und zugleich war da auch von Anfang an etwas Rebellisches in mir. Wenn ich betete: “Mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein.”, wie ich es gelernt hatte, dann dachte ich auch: “Ich will nicht, dass der IN mir wohnt. Niemand soll drin sein in mir.” Auf meinem Blog habe ich versucht, einiges in einer Kurzgeschichte zu verarbeiten: https://gleisbauarbeiten.blogspot.com/2010/03/der-feind-ist-in-der-burg-1971.html

    Gleichzeitig gilt auch für mich wie für Dorothee, die das so schön in ihrem Buch “Lebenslänglich besser” (https://gleisbauarbeiten.blogspot.com/2013/09/doppelgesichtigkeit-unser-verdrangtes.html ) beschrieben hat , dass die fromme Erziehung nicht nur Narben hinterlassen hat, sondern auch Heimat gegeben, Trost, Halt und Sicherheit. Ich spüre das heute noch, wenn ich die schlichten evangelischen Kirchenbauten betrete oder eines “unserer” Lieder singen höre.
    Aber – ich bin “Gott” los geworden. Das hat mich mehr als vierzig Jahre gekostet und noch einmal ein Zweitstudium der vergleichenden Religionswissenschaft. Meinen Weg sehe ich als Befreiung. “Gott” brauche ich nicht. Ich verstehe auch nicht (mehr), warum nur eine mystische oder religiöse Haltung Einsicht in die Unverfügbarkeit gewährleisten soll. Denn in der Welt/im Universum ist die ungeheure Ausdehnung unseres Nichtwissens ja nur zu offensichtlich. Religion, denke ich heute, stiftet Trost, weil sie das menschliche Verlangen nach Gerechtigkeit, das der “Natur” nicht innewohnt, beruhigt. Die Gerechtigkeit wird jenseitig hergestellt und vor einer jenseitigen Instanz begründet. Diesen Trost habe ich aufgegeben und ich weiß daher darum, dass dies schmerzlich sein kann. Dennoch ist es für mich leichter, mit dem Gedanken (meinetwegen auch: dem Glauben) zu leben, dass die Sehnsucht nach Gerechtigkeit nur ein menschlicher Affekt ist, einer allerdings, der sehr sinnvoll ist für eine kulturelle Evolution und sich daher in und mit dieser auch immer wieder ausdifferenziert und verändert.
    Die “Aufgabe Gottes” bedeutet in der Tat für mich, dass es nichts Gültiges und vor allem nichts “Endgültiges” gibt, auch keine endgültige Moral, keine endgültige Wahrheit. Das ist bisweilen schmerzhaft. Und auch dass es keinen Ausgleich gibt für Unrecht, das nicht einer menschlichen Rechtsprechung unterliegt. Aber meine “gottlose” Welt ist auch eine, in der das Konzept der Sünde nicht mehr gilt. Und in der das Leben, mein Leben, tatsächlich endlich ist.

    “Das hat mit der Religion selbst nichts zu tun.”, höre ich oft, wenn ich die historischen Verbrechen der verschiedenen Religionsgemeinschaften anprangere. Die Gläubigen halten das jeweils für Missbrauch ihres Glaubens. Doch nachdem ich mich mit so vielen verschiedenen Religionen beschäftigt habe, meine ich Muster zu erkennen: Die Suche nach dem Sinn, der EINEN Wahrheit, verwandelt sich immer wieder (und oft recht schnell) in Wahrheitspostulate. “Die Wahrheit” und “das Gute” werden deckungsgleich gedacht. Es entstehen Kataloge von Vorschriften, Geboten und Verboten. Da sie nicht mehr begründet werden müssen, sondern durch “Gott” beglaubigt sind, entziehen sie sich dem Diskurs.
    Ich bin “Gott” los geworden und “sündige” nun “tapfer”, wie Luther sagte, bloß ohne das Versprechen oder die Drohung, im Jenseits auf meinen Glauben geprüft zu werden und auch ohne eine Gewissheit über Gut und Böse, denn mein Urteil betrachte ich als relativ und abhängig von meiner Zeit und meinem Wissen. Seit ich Gott los bin, kann ich jedoch freier lieben und meinen Tod mit großer Ruhe erwarten, als das endgültige Ende für mich.

  • Anne Newball Duke sagt:

    So schöne Kommentare, vielen Dank. Alle regen mich zu erneuten Gedanken an, aber ich habe ja schon so viel geschrieben ;)… ich versuche mich kurz zu halten.
    Antje, ich verstehe komplett, was du meinst. Und ich denke auch, dass dein Vergleich ziemlich treffend ist.
    Also in dem Beispiel wäre dann die Frage… wenn ich als Engländerin mit einer Deutschen über… weiß ich nicht… das Thema “Kulturkontakt” sprechen möchte… brauche ich dann Vorwissen, ist es dann nur eine gegenseitige Lernsituation (Ich sage ihr, was Kulturkontakt in England oder für mich als Engländerin bedeutet, und sie mir in gleicher Weise alles über Deutschland/sich als Deutsche), weil es so viel Unwissen gibt, oder kann hier ein Mehr entstehen, also ein Mehr, dass nicht nur “mehr Wissen” bedeutet.
    Hmmm… vielleicht doch nochmal zurück zu “Gott”: Tatsächlich bin ich ja vorher nie in Versuchung geraten, mir über “Gott” tiefere Gedanken zu machen. Aber in vielen der Konzepte vom Differenzfeminismus steckt immer wieder “Gott”, und es gibt Resonanz in mir, aber gleichzeitig eben diese große Fremde und Abwehr. Und ich könnte es auch lassen, aber ich glaube eben, dass genau dieser Treffpunkt eigentlich sehr interessant ist, und ich habe dann aber oft das Gefühl, dass die Gespräche in diesem Moment an Tiefe verlieren, wo dann jede Gesprächspartner*in wieder ihrer Wege geht und ich sozusagen “nicht verstehen muss”, weil… wegen Toleranz und “jeder das Ihre” usw. Aber… ich bin dann unzufrieden. Weil ich gern weitergeredet hätte, und zwar nicht in die Breite des Verstehens hinein, sondern vielleicht in die sehr intime Tiefe von spirituellem Verlangen der jeweils anderen Person. Wo kommt sie her, was genau ist es, das Heimat, Trost, Halt und Sicherheit gibt, wie du schreibst, Jutta? Ist es ein bestimmtes Lied? Das gemeinsame Singen? Ein Geruch? Bestimmte Menschen, die beim Gottesdienst so wundervoll murmeln? Das Essen nach dem Gottesdienst, wo alle eventuell noch beieinander sitzen oder halt auch einfach nur ganz unmetaphorisch Hunger stillen? Der Moment in der tiefen eigenen Stille am Abend?
    Mich interessiert dann daran anschließend, wie wir mit diesem Mehr weitermachen, ob das Unverfügbare wirklich unverfügbar ist, ob es ein “Überbau” ist, wie Gabriele im ersten Kommentar sagt, oder ob es nicht wirklich etwas ist, was in uns ist, also… im Sinne von… das Universum ist in uns, und gerade nicht der von der Kirche nahegelegte patriarchale Gott, der dir, Jutta, zu Recht Rebellion eingeflößt hat. Und dann frage ich halt… ist Spiritualität etwas, was in der Nische neben unserem “rationalen Sein” in der Welt so dahinexistiert – besonders in der Arbeitswelt – sozusagen als “Ausgleich” und Beruhigung – so wie z.B. auch die liberal und europatriarchal ausgelegten Konzepte von Yoga oder Achtsamkeit (nur dafür da, den Körper funktionsfähig für das europatriarchale Funktionieren zu halten), oder sollte Spiritualität nicht eigentlich ganzheitlich angelegt sein in uns, immer da sein dürfen, so wie Yoga und Achtsamkeit nicht darauf gelenkt sein sollten, uns funktionsfähig zu halten, sondern uns befähigen sollten, in Beziehung oder ja… eben Resonanz mit der Welt zu treten? Und ich habe manchmal den Eindruck, dass für manche “Gott” schon nahe an diesem Verständnis ist? Oder nicht? Das sind so weiterführende Fragen in diesem “Kulturkontakt” ;), die eben über das “Erlernen des Anderen” hinausgehen, denke ich. Aber ich halte da auch das Fragezeichen für möglich unter gewissen Ansichtspunkten.
    Und ja, in diesem letzteren Verständnis von “Gott” oder meiner irgendwie angestrebten Form von Spiritualität würde der Sinn dessen natürlich weit über das Verlangen von Gerechtigkeit hinausgehen; ich nehme sogar an, dass sich die Frage nach Gerechtigkeit dann – also utopisch gesehen – nur noch in einem Nebenzimmer abspielen könnte. Jetzt ist es vielleicht so, also eine der Aufgaben von Religion in europatriarchalen Zeiten.
    Johanna, ja genau, es geht in die Richtung. Ich finde aber dieses Gehaltensein auch bei Menschen, die wahrscheinlich nicht von sich sagen würden, dass sie vom göttlichen Glauben gehalten werden, sondern weil sie eben andere Zugänge zur Welt, zum Universum, zum Kosmos in sich entdeckt haben und pflegen und ausbauen usw., und ja, die Frage ist, wie weit könnten das eben ähnliche… ja… Entdeckungspfade sein, und wie kommen wir darüber ohne zu viel “Fremdelei” ins Gespräch… und zwar, weil ich es wichtig finde. Und naja, es gibt auch Personen, die sagen, sie seien sehr religiös usw., aber bei denen verspüre ich nichts von diesem Gehaltensein, also… da erfüllt Religion dann auch nochmal eine andere Rolle anscheinend. Oder was genau wird dann gehalten?
    Es gibt noch viele Punkte, an die ich anknüpfen könnte… Ich belasse es jetzt mal dabei.

  • Gottfried sagt:

    Ich kenne Situationen in Deutschland, in denen Menschen Chinesisch sprechen, andere Französisch, andere Spanisch, andere Brasilianisch, andere Rumänisch, und andere Englisch. In kulturellen Kontexten, oder auch für viele im Alltag, bei der Arbeit. Es gibt dann kein gemeinsames Englisch. Dann ist Deutsch als Brücke gar nicht so schlecht, und es ist für die meisten eine indirekte Brücke, um gemeinsam im Raum in der Zeit zu sein.

    Danke also für das Bemühen, den Raum nicht nur zu verlassen, sondern mit einigem Zeit- und Energieaufwand gemeinsame Sprache zu suchen.

    Zum Beispiel Weisheiten der Mechthild oder der Hildegard, von vor vielen Jahrhunderten, da kommt eben das schwierige Wort vor, oder in Indien oder Indonesien oder Tansania, immer wieder anders, was auch immer es jeweils wohl bezeichnen mag.

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