Forum für Philosophie und Politik
Von Antje Schrupp
Das Jubiläumsjahr zum 150. Geburtstag der Religionsphilosophin und Differenzdenkerin Margarete Susman geht zu Ende, und aus diesem Anlass habe ich grade ein wenig Bilanz gezogen und Links dazu zusammengestellt.
Da heute Heiligabend ist, kam mir eine Episode in den Sinn, die Susman in ihrer Autobiografie schildert, von einem Weihnachten, das sie selbst ungefähr im Alter von zehn Jahren, also etwa 1882, erlebte. Es war das Weihnachten, in dem sie auf brutale Weise erfuhr, dass es ihr Schicksal ist, Jüdin zu sein. Sie schildert eindrücklich die Erfahrung des “Othering”, also des zum Anderen gemacht werden, eine Erfahrung, die ihr späteres Differenzdenken maßgeblich prägt. Und es wird deutlich, wie Weihnachten als Fest der Ausgrenzung inszeniert wurde.
Aus: Margarete Susman: Ich habe viele Leben gelebt, DVA Stuttgart 1964, S. 17f.
Es war dunkel um uns; nur die große hellgedeckte Platte des Tisches war durch die Lampe über ihr aus dem Dunkel herausgeschnitten. Wir hatten eben mit unseren Eltern, wie immer nach deutschem Brauch, Weihnachten gefeiert, und nun saßen wir vor dem Abendessen mit dem Kinderfräulein, an dessen große dunkle Augen ich mich heute noch erinnere – ich weiß auch noch, dass sie Amanda hieß – an diesem Tisch, wo sie uns Geschichten erzählte. In meinem Herzen brannte noch der hohe Christbaum mit seinen vielen hellen Lichtern, die den großen Saal durchstrahlten. Was uns das Mädchen damals erzählte, weiß ich nicht mehr, es muss eine Geschichte von Juden und Christen gewesen sein. Und da mir das Wort Christ so viel schöner erschien als das Wort Jude und mit dem ganzen Glanz dieses Abends verwoben war, rief ich leidenschaftlich aus: „Ich will nicht ein Jude sein, ich will ein Christ sein.“ Und niemals habe ich die Antwort vergessen, die mir das Mädchen entgegenwarf: „Das ist unmöglich. Wir sind Christen, ihr seid Juden.“ Fest, wie gemeißelt, sind diese wenigen Worte in meiner Erinnerung stehen geblieben. Ich fühlte, wie an ihnen etwas in meinem Herzen zerbrach. Und ich glaube auch jetzt noch genau zu wissen, was mich an ihnen so furchtbar traf. Es war einmal das jähe Ausgestoßensein aus jener strahlenden Welt des Christbaums, die noch eben die meine gewesen war. Denn es hatte mir damals noch niemand den glänzenden Kern gezeigt, den die dunkle Schale des Wortes Jude birgt. Ich kannte es nur aus Kindergeschichten und vor allem aus dem Gedicht von Rückert „Von Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt“, in dem der Jude als ein dunkler, hässlicher, böser Mann mit einem Sack auf dem krummen Rücken durch den Wald läuft und den Bäumlein die goldenen Blätter stiehlt. Und die ganze Schwere des unbegriffenen Wortes Jude fiel auf mein Kinderherz herab.
Aber es war zugleich noch ein anderer Grund, der mich in den Worten des Mädchens verstörte, und vielleicht ist dieser der noch tiefere gewesen. Man hat mich immer gelehrt, und ich hatte es vielleicht fast zu früh begriffen, dass jedes Verschulden Strafe fordert, und ich hatte mich, wenn es auch nicht immer gelang, bemüht, ein gehorsames, braves Kind zu sein. Nun erfuhr ich plötzlich die schwerste Strafe für eine Schuld, die ich nie begangen hatte. Mein Dasein, meine bescheidene Weltordnung selbst war mit diesem Geschehen auf den Kopf gestellt. Ich erfuhr plötzlich, dass unser Menschenleben von vornherein festgelegt ist und durch das reinste Wollen, das beste Tun nicht mehr verändert werden kann. Man kann sich die trostlose Einsamkeit kaum denken, die mit dieser Gewissheit in mich einzog, und ich konnte und wollte ja den Erwachsenen nicht sagen, dass sie mich eine falsche Ordnung gelehrt hatten.
Freilich erinnere ich mich auch deutlich eines Augenblicks, der vor diesem Geschehen lag, wo ich hinter dem Kinderfräulein, das mir fortwährend Vorschriften machte, etwas verbot oder tadelte, plötzlich mit dem Gedanken stehenblieb: „Wie müsste es sein, wenn ich auf der Welt allein wäre und niemand mehr etwas zu sagen hätte?“ Aber diese jähe kleine Revolution hatte mit dem Geschehen dieser Weihnacht und dem, was ihm folgte, nichts zu tun, denn ich glaubte ja im Grunde fest an die Ordnung, die meine Eltern mich gelehrt hatten.
Das ist eine Weihnachtsgeschichte, die mich wirklich berührt, im Gegensatz zu all dem Kitsch, der sonst so angeboten wird.