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WALCHENSEE FOREVER- Mütter und Töchter, Hippies und Tabus

Von Jutta Pivecka

In ihrem Dokumentarfilm „Walchensee forever“ geht Janna Ji Wonders ihrer eigenen matrilinearen Familiengeschichte nach und zeigt das Leben von vier Frauengenerationen.

1924 zog die Familie Bucherer an den Walchensee. Norma Bucherer, die Großmutter der Regisseurin, erzählt im Film, dass der Umzug auf den Tod ihrer kleinen Schwester folgte, der es ihrer trauernden Mutter unmöglich gemacht habe, am Schliersee zu bleiben, wo die Familien ein Hotel besaß. Eine schöne, junge Frau sehen wir auf den Fotos, mit einem dicken schwarzen Zopf, der wie eine Krone um den Kopf geschlungen ist. Ihre Enkelin liest aus einem Brief vor, den das Kind Norma an seine Mutter aus dem Internat schrieb und indem es ihr versichert, dass es immer „brav“ sein wolle. „Warum wollte die Oma ´brav´ sein?“, fragt die Regisseurin in ihrem Film die eigene Mutter und die antwortet, es habe sich der Schmerz der Mutter über den Verlust der einen Tochter so tief in die andere Tochter eingebrannt, dass es der zum Lebensziel geworden sei, alles zu tun, damit die Mutter nicht noch einmal leiden müsse. 

Das zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichten von Müttern und Töchtern, die Janna Ji Wonders erzählt: Die Schmerzen der Mütter und die Schuldgefühle der Töchter, die versuchen, diesen Schmerz zu kompensieren. Auch Norma Bucherer wird ein Kind verlieren. Frauke, ihre jüngere Tochter, wird in einer Silvesternacht mit dem Auto gegen einen Baum prallen. Und viel spricht dafür, dass es kein Unfall, sondern Selbstmord gewesen ist. Antje/Anna, die ältere Tochter, die Mutter der Regisseurin, kehrt Jahre später aus den USA, wo sie eine eigene Familie gegründet hatte, mit ihrer kleinen Tochter an den Walchensee zurück, wo so viel Unaufgearbeitetes liegen geblieben sei, dass sie nicht habe wegbleiben können. Am Walchensee hilft sie ihrer Mutter im Café, das die Familie seit jenem Umzug 1924 direkt am See betreibt. 

In den ersten Szenen des Films wird auf Super8 ein Film gezeigt, in dem die kleine Janna Ji von ihrer Mutter befragt wird: über den dunklen Wald und das Schaudern und über Frauke, die tote Tante, die das Kind nie kennengelernt hat. Der Schmerz ist da, aber auch die Fröhlichkeit des Kindes, das den Spieß umdreht, hinter die Kamera schlüpft und die Mutter befragt. Schon das kleine Mädchen weiß um die andauernde Traurigkeit der Mutter wegen des Todes von Frauke, aber es strahlt schon jene stoische Ruhe aus, die dann den Dokumentarfilm auszeichnet, den die erwachsene Frau drehen wird. 

Am Ende des Filmes, nach Norma Bucheres Tod, steht eine Reise: Die nun auch Oma gewordene Anna reist mit ihrer Tochter und ihrer Enkelin nach Kalifornien, um ihren Ex, den Vater ihrer Tochter und Großvater dieser Enkelin zu besuchen. Annas Tochter Janna wächst zwischen den Welten auf, ist zuhause auf beiden Seiten des Atlantiks: auf der Farm ihres Vaters und am Walchensee. Die Oma und ihr Café am Walchensee aber hätten ihr in ihrer Kindheit, so sagt Janna Ji Wonders, die Tochter der Hippies Anna und Jason, im Film, Geborgenheit gegeben. 

Ganz anders hat Antje/Anna das Café aus ihrer Kindheit in Erinnerung. Es sei immer hektisch gewesen, nie habe die Mutter Zeit für die Kinder gehabt, sie seien immer nur „nebenher“ gelaufen. Eine Gaststätte sei eben kein Ort der Geborgenheit. Auch Annas Kindheit wird von einer Zerrissenheit geprägt. Das Märchen, als das der Vater von Anna die Liebesgeschichte mit Norma aufgeschrieben hat, war in der Nachkriegsrealität reine Fiktion. Die schöne bayrische Wirtstochter, in die sich der friesische Künstler verliebt hatte, blieb ihm innerlich fremd. Als er nach dem Krieg versehrt nach Bayern zurückkehrte, war in der Wirtsfamilie kein Platz für ihn vorgesehen.  

Seinen Töchtern gab er die Namen Antje und Frauke, damit sie in dem fremden Bayern, als seine, des Friesen Töchter, kenntlich wurden. Anna, die Überlebende, hat den friesischen Namen offensichtlich abgelegt. Warum, das kann sich die Betrachterin nur denken. Es wird nicht gefragt. Die Frauen, die die Regisseurin befragt, ihre Mutter Anna Werner, die sterbende Freundin der Mutter Jutta Winkelmann, ihre Oma Norma Bucherer und der eine, der “prominente” Mann, Kommunarde und Harems-„Vorstand“ Rainer Langhans, wirken offen, doch vieles bleibt offensichtlich ungesagt. Unauffällig wirkende Schnitte beenden Gespräche bisweilen. Wenn deutlich wird, dass ein „Tabu“ angesprochen wurde, dann hakt die Fragende nicht nach. Sie fragt nur scheinbar unbefangen und „naiv“, respektiert und wahrt aber die unausgesprochenen Grenzen der Befragten. Mutter Anna kommen noch als alter Frau die Tränen, wenn sie über die Trennung von Vater und Mutter spricht. Dass der Vater, den sie lieben wollte, gewalttätig war gegen die Mutter – es wird nur angedeutet. 

Dass es „Tabus“ gibt und dass sie nicht inquisitorisch erfragt und enthüllt werden, dass ist im Kontext dieses Dokumentarfilms von besonderer Bedeutung. Denn die Protagonistin der mittleren Generation, die im Krieg geborene Anna – zunächst gemeinsam mit ihrer früh verstorbenen Schwester Frauke – verkörpert geradezu idealtypisch die Irrungen und Wirrungen der Hippie-Bewegung, die aufbrach, um „Tabus“ zu brechen, um die verschwiegenen (sexuellen und anderen) Begehren und Verbrechen der Vorgänger-Generation aufzudecken und sich in und durch diese radikale Entblößung selbst zu finden. Mit Frauke reiste Anna als Mittzwanzigerin mit Hackbrett und Gitarre als jodelndes Schwestern-Duo durch Mexiko, erlebte den „Summer of Love“ in San Francisco. Zurück in München lernte sie Rainer Langhans kennen, mit dem sie nackt in einer Höhle in Griechenland einen Sommer lang lebte, später reiste sie auf den Spuren eines Gurus nach Indien. Noch später schloss sie sich dem berühmt gewordenen „Harem“ an. Und immer wieder zurück zum Walchensee. Zur Mutter. Forever.  

Die Männer in dieser Familiengeschichte bleiben Randgestalten. Idealisierte Versager. Der Künstler-Vater, der sich nicht einfügen kann und die Unterwerfung von Frau und Kindern fordert. Der jagende Adelige, den sich Frauke als Groschenroman-Prinzen imaginiert. Langhans, den die Oma sofort als Schmarotzer erkennt, um dessen Narzissmus herum die Kommune-Frauen sich zum neuen Familienformat gruppieren. Diese Männer sind bloß blinde Spiegel, in denen die Frauen sich vergeblich zu finden suchen. 

Über die Tabus in den traditionellen Familienverhältnissen sagt die sterbende Winkelmann einmal: „Jederzeit konnte irgendwo etwas explodieren. Bei uns ist dauernd was explodiert.“ Endlose Meditationen, permanente Selbstbespiegelungen und scheinbar schonungslose Offenheit, wie sie die Protagonisten der 68er-Generation von sich und anderen forderten, führten weder zur Befreiung noch stifteten sie Geborgenheit. Die nachgeborene Regisseurin Janna Ji Wonders, das Kind der Hippies, lässt die Tabus ihrer Eltern-Generation jedoch stehen, entblößt deren Lebenslügen allenfalls mittelbar. 

Nur einmal werden die Konflikte nicht umschrieben, sondern Mutter Norma und Tochter Anna im Streit gezeigt. Es geht um das Café, das die über 80jährige nicht mehr führen kann. Der Tochter spricht sie die Fähigkeit ab, es zu übernehmen. „Du kannst es net.“, sagt sie. Und Anna ruft wütend: „Es geht nicht darum, ob ich es kann. Sondern ob ich es will.“ Der ganze Generationenkonflikt in einem kurzen Dialog eingefangen. Zwanzig Jahre später ist Anna immer noch da. Am Walchensee. Die 104jährige Norma stirbt. Liebevoll gepflegt von der unverstandenen Tochter. „Danke für alles.“, sagt die Sterbende ihr am Abend, als diese sie ins Bett bringt.

Der Blick aus dem Fenster des Sterbezimmers auf den Walchensee. Es ist ein mystischer See. In der Sonne. Im Regen. Im Nebel. Verschneit. Wetterleuchtend. 

Drei Frauengenerationen am See auf einer Bank zeigt das Kinoplakat zum Film. 

Man kann nicht über alles reden. Vieles bleibt ungesagt. Und muss es auch bleiben. Das gute Ende ist, dass es kein Ende ist. Walchensee forever. 

Was für ein großartiger Dokumentarfilm. 

Zur Zeit in der ARD-Mediathek:

https://www.ardmediathek.de/video/dox-der-dokumentarfilm-im-br/walchensee-forever/br-fernsehen/Y3JpZDovL2JyLmRlL3ZpZGVvLzBiMGYzYjlhLTU2NmYtNDNiOS05YWQ4LWZiM2VhZGEyMmQyMA

und auf Amazon.PrimeVideo anzuschauen.

https://walchenseeforever.de

Autorin: Jutta Pivecka
Redakteurin: Jutta Pivečka
Eingestellt am: 05.12.2022
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Anne Lehnert sagt:

    Vielen Dank für den Filmtipp. Es ist ein wunderbarer Film, der mich noch sehr beschäftigt, und du beschreibst sehr gut den behutsamen Umgang der Regisseurin mit ihren Protagonistinnen.

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