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Otium fürs Volk!

Von Caroline Krüger

Bei einem Treffen der Initiative «Wirtschaft ist Care» im Oktober in Zürich gab Caroline Krüger einen Input zum Thema Muße/Musse, der auch für die Leserinnen dieses Forums interessant sein könnte. Sie hat ihn uns freundlicherweise für die Veröffentlichung zur Verfügung gestellt. (Hinweis für unsere deutschen Leserinnen: Da Caroline in der Schweiz lebt, benutzt sie die dortige Schreibweise “Musse” statt das deutsche “Muße”)

Zitat aus Vergil, fotografiert in einem Park in Cascais, Portugal: „Deus nobis haec otia fecit“ („Ein Gott hat uns dieses otium /diesen Frieden geschenkt“. In diesem Fall kann man otium ganz treffend mit „Friede“ übersetzen, was den Frieden des Landlebens, aber auch die Abwesenheit von Krieg meint. Otium steht in Verbindung mit einem Friedensideal, das eine Form heiterer und glücklicher Aktivität voraussetzt. Foto: Caroline Krüger

Wenn wir über Erwerbsarbeit und Care diskutieren, stellen wir uns Fragen wie: Was ist eigentlich Arbeit? Ist beispielsweise die Kinderbetreuung nur Arbeit, wenn sie nicht von den Eltern durchgeführt wird? Darf Arbeit Spass machen? Welche Arbeit ist notwendig? Ist das Notwendige alles Care? Ist alles Notwendige ohnehin vorhanden und wenn nicht, wer ist dafür zuständig? Weshalb sind so genannt systemrelevante Tätigkeiten schlecht bezahlt? Welches System?

Wir stellen uns kaum Fragen wie: Was bedeutet Musse? Wann bin ich kreativ? Wo und wann ist Zeit zum Nachdenken? Was ist wichtig für mich und was ist wichtig für die Gemeinschaft oder Gesellschaft – oder gar die Welt? Die Notwendigkeit von Musse wird eher nicht thematisiert, und Musse wird nicht oder kaum von Faulheit abgegrenzt.

Das ist mir aufgefallen und hat mich bewegt, einmal zu schauen, was Musse in der Antike bedeutet hat und inwiefern das für uns heute interessant sein kann. Es gibt sehr viele Quellen, in denen die Musse thematisiert wird, denn in der Antike (breit gedacht, zum Beispiel bei Aristoteles so 384 v.u.Z, über Vergil 70 v.u.Z-19 u.Z. zu Seneca, 1-65 u.Z.) ist das otium, die Musse, etwas sehr Wichtiges. Bei unserer zeitgenössischen Aufarbeitung der Antike fällt sie meist weg – übrig bleibt:

Einerseits das neg-otium, eigentlich die Nicht-Musse, die nicht einmal einen eigenen originellen Namen hat und dennoch so dominant geworden ist: die Arbeit, die Erwerbsarbeit sowie als Antipode dazu die Care-Arbeit, die damals gar nicht thematisiert wurde, weil sie von Sklav:innen, Frauen und Nicht-Bürgern im Hintergrund erledigt wurde.

Der einheimische Bürger Athens hatte einen Care-Hintergrund, der ihm ermöglichte, sich dem otium hinzugeben, zu philosophieren. Die notwendige Care-Arbeit wurde von anderen (unsichtbar) gemacht, das negotium, das Geschäftemachen, war eher als lästig angesehen, das otium war das Wichtigste, Erstrebenswerte, ein Zeichen von Freiheit.

Wenn wir heute Bezüge zur Antike herstellen, sehen wir zunächst unsere Leben: die Erwerbsarbeit, die wir fürs finanzielle Überleben brauchen, und die Care-Arbeit, die wir fürs ganz konkrete Überleben brauchen – das erstere nehmen wir für gegeben, die negative Konnotation, die es damals hatte, lassen wir grosszügig beiseite. Dafür bemerken wir, dass die Care-Arbeit nicht thematisiert war, und betonen die Bedeutung der Sichtbarmachung. Das ist wichtig. Auch wichtig finde ich die Frage: Wo ist das otium hin?

Ich möchte einen kurzen Blick in die Begriffsgeschichte werfen, ein Plädoyer halten für die Musse, die nicht Faulheit oder Nichtstun ist und nicht Erwerb und nicht Care.

Den Begriff negotium kennen wir alle bestens in der englischen Version: negotiate, Geschäfte machen, verhandeln. Kaum jemand denkt dabei an die Wortherkunft. Neg-otium ist wie erwähnt das Nicht-otium, die Nicht-Musse. Wir verbringen einen sehr grossen Teil unserer Leben in Nicht-Musse, was wir positiv bewerten. In der Antike war es nicht so, vielmehr war das otium, die Musse das Wichtige. Dies bezogen auf die Personen, die sich dazu äussern konnten und die diese Unterscheidung überhaupt betraf, also die männlichen Bürger und Philosophen. Dennoch ist das auch für uns heute interessant.

Seneca hat sein Buch: «Von der Kürze des Lebens» um das Jahr 49 unserer Zeitrechnung geschrieben. Das Geschäftemachen trägt für ihn nicht zu einem guten Leben bei. Die Care-Arbeit kommt bei ihm gar nicht in den Blick. Denn diese wird (unsichtbar) ausgelagert an Sklav:innen, Frauen im Allgemeinen, an alle, die nicht freie Bürger sind. Dies beschreibt bzw. verschweigt auch Aristoteles, während auch er über die Kürze des Lebens klagt. Care-Arbeit ist so für ein gutes Leben zwar notwendig – aber Seneca macht sich dies nicht bewusst.

Während dies kritikwürdig ist, ist seine Einstellung zur Musse aktuell. Wichtig für ein gutes Leben ist nach Seneca die Musse und ein guter Gebrauch derselben, dann werde das Leben auch nicht mehr als zu kurz empfunden. Was versteht er unter einem guten Gebrauch und weshalb ist es für uns heute wichtig?

Seneca beschreibt, was er alles NICHT sinnvoll findet – neben dem negotium, dem Geschäftemachen, ist dies das Streben nach Macht, nach Ämtern, nach Ruhm – eigentlich nach von aussen verliehener Autorität. Auf der anderen Seite sind für ihn auch die Beschäftigung mit zerstreuenden Dingen (Sport, Sammeln, Spiel) und das Feiern (Orgien) keine Musse, sondern eher eine Verschwendung der Zeit, die bewirkt, dass diese sich kurz anfühlt. So meint er: «Die Geschäftigen wollen bisweilen sterben, weil sie die ereignislose Zeit zwischen ihren Beschäftigungen und Vergnügungen langweilt. Ihre oberflächlichen Freuden geniessen sie furchtsam, da deren Dauer unsicher ist.»

Was ist also Musse?

Für Seneca ist Musse vor allem die Beschäftigung mit der Weisheit, das Philosophieren (das damals einen anderen Stellenwert hatte als heute, einen hohen). Musse ist für ihn sehr wichtig, so wichtig wie das Leben selbst: «Allein von allen sind die der Musse hingegeben, die für Philosophie Zeit haben; sie allein leben.» (Soli omnium otiosi sunt qui sapientiae vacant, soli vivunt.) Seneca, De brevitate vitae, XIV, 1. Das ist etwas sehr ausschliessend formuliert, aber es gefällt mir als Gegenpol zum ständigen «Leistung bringen» sehr gut. Musse, nicht Leistung im «Geschäft», ist für ihn der Massstab für das gute Leben.

Ein weiterer Aspekt, den ich interessant finde, ist, dass zur Musse, zum otium, auch Bereiche gehören, die wir heute manchmal als self-care bezeichnen. Vielleicht ist es sinnvoll, hier (wieder) mit dem Begriff der Musse zu denken und auch zu überlegen, wie die Verbindung gelingen kann zwischen der Musse als self-care und der Musse, die auch für die Gemeinschaft nützlich ist.

Eine Auswahl von Begriffen, die zur Musse gehören:
secum morari (bei sich weilen),
suum fieri (seines werden),
in se recedere (zu sich kommen)

Alles dies braucht es, um eine vacatio (Freisein) zu erreichen, eine Freiheit für sich selbst. In De brevitate vitae VII, 5 heisst es: «Glaube mir, es braucht einen grossen und über die menschlichen Irrtümer sich erhebenden Mann, sich von seiner Zeit nichts nehmen zu lassen, und sein Leben ist deswegen ein langes, weil er, wie lange auch immer es dauerte, ganz für sich da war». (Magni, mihi crede, et supra humanos errores eminentis viri est nihil ex suo tempore delibari sinere, et ideo eius vita longissima est, quia, quantumcumque patuit, totum ipsi vacavit)

«Weil er ganz für sich da war» – das lohnt sich, noch einmal zu lesen. Wer kann das heute von sich sagen? Weder die Männer, die damals Adressaten waren, noch alle anderen, die heute Adressat*innen sind, denke ich. Wir sind für andere da, oft in dem Bereich, den wir mit Care bezeichnen. Wir sind für andere da, indem wir den Lebensunterhalt verdienen. Davon dürfen wir uns erholen, denn wir müssen ja die Arbeitsfähigkeit aufrechterhalten.

Aber wo ist das otium? Einmal in Ruhe duschen ist es nicht!

Ein in Musse, in otium, gelebtes Leben, ist für Seneca ein gutes Leben, egal, wie lang die zeitliche Dauer tatsächlich ist. Wo können wir für uns da sein, philosophieren, den Raum für das Otium offen halten? Wie können wir dieses gute Leben auch wirklich leben?

Was könnte für uns heute daran wichtig sein?

Wenn wir den Begriff otium wieder zurück ins Bewusstsein holen, haben wir einen weiteren Ankerpunkt: Es braucht immer noch Zeit fürs Faulsein, für die Erholung, für das Nichtstun – aber otium ist nicht diese Zeit! Das otium ist ein Bereich, der nicht Erwerbsarbeit und nicht Care-Arbeit bezeichnet. Einerseits gehört dazu die Möglichkeit, etwas für sich selbst zu tun in verschiedener Hinsicht. Zeit haben, in Ruhe nachdenken, vielleicht auch spazierend. Und auch, dieses mit anderen gemeinsam zu tun. Das Eigene einbringen in Gespräche und gemeinsam denken.

So ist die Musse für sich selbst nicht egoistisch, vielmehr ist sie auch Voraussetzung für das Gespräch mit anderen. Um etwas Eigenes einbringen zu können, brauche ich Zeit für das Eigene. Daher mein Appell: Otium fürs Volk! Für alle, nicht nur für einige wenige Privilegierte. Erweitern wir den Bereich des Lebens gedanklich und auch ganz praktisch – es braucht Zeit für negotium, für Care und für das otium auch!

Otium ist wichtig, denn es ist die Zeit, in der das Leben wirklich gelebt wird. Die Zeit, die das Leben lang genug macht. Die Zeit zum Nachdenken. Auch über den Paradigmenwechsel.

Autorin: Caroline Krüger
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 22.10.2022
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Ina Praetorius sagt:

    Zu erfinden wäre das nichtelitäre Otium, das nicht Sklav*innenarbeit voraussetzt, sondern eventuell mit Care verwoben ist? Genau: Otium im, vom und fürs Volk! Eine wunderbare Denk- und Handlungsaufgabe! Vielleicht könnten die Kinder die Lehrer*innen sein?

  • Antje Schrupp sagt:

    Ich finde das sehr anregend. Mir kamen gestern noch weitergehende Fragen: Gibt es einen Unterschied/Verwandtschaft zwischen Otium und Sabbatgebot? Die Unterscheidung zwischen “Heiligem” und “Profanem”?

    Dann dachte ich noch über den Unterschied/Verwandtschaft zwischen Neg-Otium und “Business” nach, ist “busy sein” vielleicht das, was dem otium entgegensteht?

    Und dritter Aspekt: Wie hängt Otium mit unserem Stichwort “Tätigsein” aus dem ABC zusammen? Ist Otium vielleicht auch gar nicht nur eine Tätigkeit, sondern ein Attribut? Denn man kann ja eben mit Muße nicht nur Nichtstun, sondern auch Tätig sein. Vielleicht wäre auch Otium ein Kriterium?

  • Ina Praetorius sagt:

    Zusätzlich zu Sabbat- und Sonntagsruhe ist mir noch das Gebet als verwandter Begriff eingefallen. Und das „ora et labora“ als mögliche synthetisierende Lebensform?

  • Ingrid Paur sagt:

    “Otium” ist aber doch genau KEIN Gebot, sondern freie Musse ohne Pflicht und Verbote.

  • Ingrid Paur sagt:

    Nach längerem Nachdenken möchte ich noch meine laienhafte Ansicht äussern, dass, wenn ich mich recht erinnere, ” ora et labora” doch eher in den calvinistischen Wertekanon gehört und somit in den Vereinigten Staaten – neben anderen Einflüssen – den hemmungslosen Kapitalismus als gottgefällig befeuert hat?

  • Kathleen Oehlke sagt:

    Bei mir hat der Beitrag auch etwas angesprochen und zum Klingen gebracht. Vielen Dank für die Anregungen.
    Wenn ich schaue, welche Tätigkeiten aus meinem Leben ich der Muße zuschreiben würde, fällt mir auf, dass sie eines gemeinsam haben. Nämlich schaffen sie eine Verbindung zwischen mir und der Welt, vielleicht auch auf den ersten Blick erstmal einzelnen Bereichen der Welt: Im Austausch mit anderen – mich verbinden mit anderen Menschen; beim Handarbeiten – mich verbinden mit dem Stofflichen; beim Meditieren und vielleicht auch beim Musizieren – mich verbinden, mit mir selbst und gleichzeitig etwas Größerem. Vielleicht ähnlich wie beim Gebet, wie du, Ina, geschrieben hast.

    Antje, auf deinen Gedanken, ob Otium vielleicht auch ein Attribut sein könnte, fällt mir das ein, was wir heutzutage als Achtsamkeit bezeichnen. Könnte es da vielleicht Parallelen geben? Oder könnte das achtsame Tun eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende, Bedingung dafür sein, dass etwas dem Otium zuzuordnen ist? Mit dieser Lesart könnte es sich vielleicht wirklich mit Care verweben lassen.

  • Ina Praetorius sagt:

    Die Frage, wie otium mit Geboten zusammenhängt (oder nicht), ist interessant.
    Das Muße-Konzept der griechischen und römischen Welt beruhte ja, wie Caroline schreibt, auf alltäglicher Versorgung (Care) durch Sklav*innenarbeit und auf dem neg-otium (business) der Handwerker*innen und Händler*innen. Dass Versklavte und Businessleute Arbeitsgeboten unterlagen, war dem Philosophen nicht der Rede wert, denn Muße war selbstredend nur für die Herren (und ihre Damen?) vorgesehen, als elitäres “Zeichen der Freiheit”.
    Insofern bedeutet z.B. ein Sabbatgebot, das laut der hebräischen Bibel ausdrücklich für alle, auch für Sklav*innen und sogar für Haustiere galt, eine Art verordnete Demokratisierung des otium. Wie das dann genau umgesetzt wurde und wird, muss man erforschen. Jedenfalls ist es kein Zufall, dass es heute gewerkschaftliche Kämpfe um den freien Sonntag gibt. Sie lassen sich als Kämpfe um “otium fürs Volk!” interpretieren, wobei die Gewerkschaften im allgemeinen nur die Lohnarbeit im Blick haben, nicht die unbezahlten Care-Arbeit, von der es ja am Sonntag oft mehr gibt als am Werktag.
    Was Caroline, meine ich, anregt, ist ein Nachdenken darüber, wie das otium als Qualität erhalten, aber aus dem Eingebundensein in Herrschaft befreit werden kann. Wahrscheinlich stimmt es, dass otium als Praxis letztlich nicht geboten werden kann. Aber um zweckfreies Dasein für alle zu ermöglichen, braucht es wohl doch strukturelle Vorgaben wie die allgemeine Feiertagsruhe, Beschränkungen der Arbeitszeit oder ein bedingungsloses Grundeinkommen.

  • Elfriede Harth sagt:

    Als ich diesen spannenden Beitrag las, musste ich unwillkürlich an das spanische Sprichwort denken: “El OCIO es la madre de todos los vicios” (Otium – ich will bewusst kein deutsches Wort verwenden – ist die Mutter aller Laster).

    Von welchem Zeitalter dieses Sprichwort stammt, ist mir nicht bekannt. Aber ich habe es zu hören bekommen, wenn die Rede war von Menschen, die ihre Zeit mit Dingen “TOTSCHLUGEN”, die negativ besetzt waren, oder auf Gedanken kamen, die man “anrüchig” fand (z.B. Drogenkonsum)

    Dass man seine Zeit “totschlagen” kann, sagt viel aus über die Bedeutung von “Zeit”. (z.B. “Zeit ist Geld”, hat also eine wirtschaftlichen, einen “Marktwert”). Es bedeutet, dass es eine Hierarchie gibt, von Dingen, mit denen jemand die Zeit ausfüllt, verbrät oder eben vergeudet. Es ist auch die Vorstellung, dass wir nur eine bestimmte Menge an (Lebens)Zeit zugeteilt bekommen, die wir möglichst “gut”, “vernünftig”, “gewinnbringend”, “sinnvoll” verbringen sollen. Es ist eben eine “nicht erneuerbare Ressource”.

    Wie verhält sich “Otium” zu “Langweile”?

    Warum leiden Menschen, und besonders Kinder, an Langweile, wenn sie gerade “nichts zu tun” haben? (Meistens keinen “Zeitvertreib” zu “konsumieren” haben….) Wieso gibt es Menschen, die nie Langweile verspüren?

  • Fidi Bogdahn sagt:

    Vielleicht ist es noch viel einfacher -sagt es in mir ohne Worte,
    vielleicht gibt es/sich dieses otium nur ganz ohne Zeit?
    …ist einfach da…
    also immer und in allem, sogar überall.
    (-bei so viel leicht lacht es in mir vor Freude)

  • Ina Praetorius sagt:

    Was mich an diesem Thema “Otium fürs Volk” so freut, ist, dass wir wieder mal darüber nachdenken, wie wir das Leben verbringen wollen. Ich habe Lust, eine Word-Cloud zu machen und mich da reinzulegen: Otium, Gebet, Achtsamkeit, Meditation, Nachdenklichkeit, Sorgfalt, Sinn, Gottesdienst, Lange Weile, Muße, Sabbat, Weisheit, Philosophieren, Ruhe, Self-Care, Sonntäglichkeit, ora (et labora), skolé, leisure, Segen, Freiheit, loisir, Gespräch, Stille, Unterbrechung, Andacht …

  • @Elfriede: Das von dir zitierte spanische Sprichwort gibt’s auch auf Deutsch. Allerdings heißt es da interessanterweise nicht “Muße”, sondern: “Müßiggang ist aller Laster Anfang.” Was ist der Unterschied zwischen Muße und Müßiggang?

  • Mehr Wörter für die Word-Cloud: Müßiggang, Zeitvertreib, Kontemplation.

  • Cornelia Roth sagt:

    Liebe Carolin, mir kommt bei Deinen Gedanken zur Muße die bekannte Geschichte vom Touristen und dem Fischer von Heinrich Böll in den Sinn.
    Muße braucht die Haltung des “Genug”.

    Hier nochmal die Geschichte:
    In einem sonnigen Fischerdorf legt ein Fischer mit seinem kleinen Boot am Pier an. Er hat einen großen Thunfisch gefangen. Ein Tourist beobachtet den Fischer bereits seit einigen Tagen. Er gratuliert ihm zum heutigen Fang und fragt: „Wie lange warst Du auf See, um diesen Fisch zu fangen?“

    Der Fischer antwortet: „Nur ein paar Stündchen.“

    Daraufhin fragt der Tourist: „Warum bleibst Du nicht länger auf See, um mehr Fische zu fangen?“

    Der Fischer erwidert: „Dieser Fang reicht mir, um meine Familie für ein paar Tage zu versorgen.“

    Der Tourist ist verwundert: „Was tust Du denn mit dem Rest des Tages?“

    Der Fischer erklärt: „Ich fahre nach Hause. Nach dem Mittagessen gehe ich mit meiner Frau spazieren und mache eine Siesta. Dann spiele ich mit meinen Kindern. Abends kommen Freunde, wir genießen den Fisch, trinken Wein und philosophieren über Gott und die Welt. Wie Du siehst, habe ich einen gut ausgefüllten Tag.

    Der Tourist sagt: “Wenn Du den ganzen Tag fischen gehst, fängst Du mehr Fische. Dann kannst Du die übrigen Fische verkaufen. Von dem Erlös kannst Du bald ein größeres Boot kaufen. Für dieses Boot heuerst Du zwei, drei Fischer an. Ihr werdet so viel fischen, dass Du schon bald mehrere Boote kaufen und eine eigene Flotte aufbauen kannst. Statt an einen Händler verkaufst Du die Fische direkt an eine Fischfabrik. Bald wirst Du soviel verdienen, dass Du eine eigene Fischverarbeitungsfabrik eröffnen kannst. So sparst Du Geld und kannst die Produktion und den Vertrieb selbst kontrollieren.”

    Der Fischer erwidert unbeeindruckt: „Und wie lange wird das dauern?“

    „So etwa 15 bis 20 Jahre“, erklärt der Tourist.

    „Und was ist dann?“, fragt der Fischer.

    „Dann kommt das Allerbeste“, antwortet der Berater: „Wenn die Zeit reif ist, verkaufst Du Dein Unternehmen und kannst aufhören zu arbeiten. Du kannst morgens ausschlafen, zum Spaß noch ein wenig fischen gehen und den restlichen Tag mit Deiner Familie und Deinen Freunden genießen.“

    „Aber genau das tue ich doch jetzt schon“, sagt der Fischer.

  • Caroline sagt:

    Liebe alle, vielen Dank für die vielfältigen Assoziationen und Gedanken zum Artikel. Ich kann nicht auf alles eingehen, bin auch nicht sicher, ob ich alles verstehe, aber werde beim weiteren Nachdenken gern darauf zurückkommen…über Müssiggang und Musse nachzudenken finde ich gerade besonders interessant….Müssiggang ist negativ konnotiert, Musse nicht…musste die Musse (haha, ja, ok, ich sehe das Problem mit dem Doppel-s, aber in der Schweiz ist es halt so…) abgewertet werden, damit sie weniger attraktiv scheint?

  • Anne Newball Duke sagt:

    Ich denke seit einigen Wochen über das Nichtstun nach. Über die Nutzlosigkeit. “Du verbringst deine Zeit nutzlos.” Nutzlos für wen oder was? Und: Wie ist die Todsünde “Trägheit” überhaupt in den Todsündenkatalog der katholischen Kirche gekommen? Es gab eben ein riesiges Interesse daran, dass Nutzlosigkeit zur Sünde und zum Laster wurde. Nicht erst der Kapitalismus hat die Nutzlosigkeit zum Status non grata erklärt und ihn weitestgehend ausgerottet. Wie schlecht wir uns fühlen, wenn wir nichts tun! Die Nachbar*in könnte uns dabei zusehen!
    Es gibt einen Unterschied zwischen Otium und all den negativ konnotierten Begriffen wie Faulheit – später, als du es nicht mehr so negativ verwendest, wechselst du übrigens zum “Faulsein”, Caroline, was ich auch sehr interessant finde – nutzloses Zeitverbringen, Trägheit usw. Aber ich arbeite daran, dass auch diese Begriffe ihre negative Bewertung verlieren, bzw. dass wir schauen, was sie an Positivem bringen, wie wir sie aus der non-grata-Ecke holen können. Gestern habe ich irgendwo gelesen, dass viele Philosophen (waren ja nur Männer damals, jedenfalls die Bekannten) bei all dem im Otium-Zeitverbringen und mit rationalem-Verstand-an-Dingen-rumdenken, doch immer wieder in spirituelle Realitäten abgedriftet sind. Und einiges an Denken dann aus diesen Erfahrungen in das rationale Denken irgendwie eingebunden haben. Das interessiert mich sehr! Diese Übergänge und was womit wie getan wurde an Denken. Ich glaube, früher gab es diese Trennung von rationalem und anderem – auch spirituellem – Denken in der Philosophie noch nicht so. Oder?
    Jedenfalls beschäftige ich mich damit auch gerade im Rahmen einer von uns Parents for Future selbst erdachten Kunst-Performance Ende September in Esslingen: Wir stellen drei Betten in der Stadt auf, um das Thema “Zeitwohlstand” zu erkunden: Das Mindestlohnbett (Lege dich eine Stunde in das Bett und erhalte 12,50!), das Burnoutbett (beim Burnout ist der Körper in einem Zustand, wo er noch nicht heilt usw… kein Gedanke ist zu fassen) und das Traumbett (In Performance und in Begleitung mit Obertongesang erkunden wir andere Bewusstseinsformen, und philosophieren, was sie an ungewöhnlichen, neuen (die ja oft nur alte sind) Ideen bringen können für ein gutes Leben für alle innerhalb der planetaren Grenzen). Ich bin so gespannt! Ich schreibe dann darüber einen kleinen Artikel! und denke dann deine Gedanken, Caroline, und die Kommentargedanken nochmal mit!

  • Fidi Bogdahn sagt:

    Anne, ist nachdenken über nichts tun nicht ein Widerspruch und somit nutzlos?

  • Anne Newball Duke sagt:

    Liebe Fidi, na nachdenken kann man ja zunächst einmal über alles. Ich kann auch darüber nachdenken, wie ich nicht mehr nachdenken kann. In der Meditation geht es am Anfang und eigentlich auch immer darum, es zu schaffen, Gedanken wegzuschieben. Ich finde, das ist eine hohe Kunst. Mir fällt es sehr schwer, auch nur wenige Sekunden nichts zu denken.
    Und dann… was ist Nichtstun eigentlich? In dieser ganzen Vorbereitung der Performance (siehe oberer Kommentar) merke ich, dass jede* etwas anderes darunter versteht. Bedeutet Nichtstun nicht nachdenken? Was ist nachdenken? Ist (Nach-)Denken immer etwas super-Intensives, Rationales, Intellektuelles? Oder können wir beispielsweise auch in anderen Bewusstseinsformen denken? Ich finde es wichtig oder zumindest interessant, darüber nachzudenken, was Nichtstun ist oder sein könnte. Denn Nichtstun ist hochpolitisch. Würden wir alle nichts tun, bräche der Kapitalismus zusammen. Nichtstun trägt also rebellisches und revolutionäres Pulver in sich. Wenn wir nicht darüber nachdenken, profitiert vor allem der Kapitalismus. Ich weiß, viele sehnen noch nicht sein Ende herbei. Ich schon; ich würde mir wünschen, dass er in den nächsten Generationen ein auslaufendes Modell wird, der zum Beispiel von Menschen durch immer mehr Nichtstun boykottiert wird. :)

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