beziehungsweise – weiterdenken

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Rubrik denken, leben

Wer ist eigentlich „Ihr“?

Von Anne Newball Duke

Ostdeutsche Frauen I: Wie die ostdeutschen Mütter, so die ostdeutschen Töchter

Letztes Wochenende war ich auf meinem 25-jährigen Abi-Jahrgangstreffen. Eine mentale und emotionale Hürde in meinem Nachdenken zuvor, ob ich die lange Reise von Esslingen nach Rostock auf mich nehme, war auch die mich quälende Frage, was ich denn sage, wenn ich gefragt werde, was ich aktuell lohnarbeite. Im Osten ist die westdeutsche Hausfrau immer noch ein abschreckendes Bild; eins, das wir ostdeutschen, 1997 gerade 18-jährigen Frauen von oben herab belachten. Unsere Eltern waren zu dieser Zeit noch in existenzielle Umbrüche verwickelt und versuchten, ein neues (Berufs-)Leben auf kapitalistisch sprießendem Gesellschaftsboden aufzubauen; wir hatten alle richtig taffe und hart lohnarbeitende Mütter: also keine* sagt uns jungen Frauen, dass wir nicht hart und fleißig arbeiten können, denn so wie unsere Mütter, so auch wir! Die finanzielle Unabhängigkeit vom Mann oder wem auch immer war uns heilig; dahinter stand nie auch nur das allerkleinste Fragezeichen; sie war uns ostdeutschen Nachwendefrauen tief eingraviert – nein – mehr als das: sie wurde uns in die Wiege gelegt, und durch die Wende nochmal extra eingehämmert und intravenös verabreicht. Hausfrau! Das ist 1997 unter jungen Ostfrauen die absolute Horrorzukunftsvorstellung gewesen.

Nun – 25 Jahre später – habe ich ein Modell gewählt, in dem ich wie die kluge Bauerstochter im Märchen mich weder angezogen noch nackt fühle, und weder auf dem Weg noch neben dem Weg… ja.. was eigentlich… fahre, gefahren werde, laufe oder reite? Was sollte ich auf die Frage, „Was arbeitest du jetzt?“ – womit ja immer Lohnarbeit gemeint ist – antworten? Mir war also richtig mulmig, in so einem „Zustand“ zum Abi-Treffen zu gehen.

Ich habe die natürlich oft an jenem Abend gestellte Frage dann so beantwortet: „Ich lohnarbeite momentan nicht. Die Hälfte der Zeit, die andere Menschen am Tag lohnarbeiten, bin ich in der Klimabewegung aktiv.“ Dann haben sich die Gespräche jeweils unterschiedlich entwickelt. Für mich überraschenderweise und auch beruhigenderweise gab es kein einziges Mal Unverständnis dafür.

Nochmal Klima

In etwa einem Viertel der Gespräche ging es dann inhaltlich ums Klima. Und hier geschah, was so oft passiert, wenn ich Klimagespräche führe: ich wurde zu „ihr“: „Ihr werdet das nicht schaffen, solange ihr die soziale Frage nicht klärt/angeht.“ „Ihr seid nicht bereit, Kompromisse einzugehen; das ist in der Politik aber notwendig.“ „Ihr kommt zu sehr mit der Moralkeule, da haben viele keinen Bock drauf.“ „Eure Sprüche sind so blöd, ich fühle mich durch diese unwohl auf dem Streik und gehe deswegen nicht mehr.“ Ich spare mir die Antworten, die ich auf diese Kommentare gegeben habe. Nur so viel: Ich habe sie milde und verständnisvoll beantwortet. Das haben wir gelernt in der Klimabewegung: keine Konfrontation, wir brauchen ja mehr Mitstreiter*innen, also immer schön harmonisch bitte, wir müssen die Leute abholen, nicht abschrecken.

Nun sitze ich im Zug zurück nach Esslingen, und merke, dass ich nicht mehr so mild und verständnisvoll bin; und würden sie mich jetzt fragen, würde ich angriffslustig zurückfragen: “Wer verdammt nochmal ist eigentlich ‚ihr‘?“ Alle, die nicht in der Klimabewegung aktiv sind, sollten verstehen: keine Person, wirklich keine, möchte in der Klimabewegung tätig sein. Wirklich. Es gibt so viel optimistischere Themen, Felder, Berufe, Jobs usw. usf. als der Weltuntergang. Wirklich. Wenn ich Karriere machen will, dann suche ich mir nicht die Klimabewegung aus. Wenn ich in der Öffentlichkeit gut sprechen kann und ein gewisses Charisma habe, dann kann ich das auch in einem anderen Gebiet als der Klimabewegung ausleben. Sich in der “Freizeit”, in der Nicht-Lohnarbeitszeit mit dem Thema Klimakatastrophe, Klimanotstand, Klimawandel auseinanderzusetzen, ist kein Spaß und kein cooles Hobby. Es ist extreeeem emotional energieraubend und zeitintensiv. Denn es ist sehr komplex und riesig; ja alle menschlichen Themen müssten jetzt mit der Klimanotstandsbrille angeschaut werden.

Es ist für mich daher klar, dass sich nur Menschen mit Zeitwohlstand damit auseinandersetzen können. Denn befasse ich mich oberflächlich damit, stürze ich ein, es frisst mich auf. Ich verdränge es. Befasse ich mich tief damit, stürze ich auch ein, es frisst mich auch auf. Aber das tiefe Befassen und Erkennen führt dazu, dass ich nicht mehr nichts tun kann. Und wenn ich nicht mehr nichts tue, dann befinde ich mich eigentlich schon direkt in der Klimabewegung. Für mich ist das der entscheidende Unterschied, der mit dem „Ihr“ gebaut wird. Wenn also eine* zu mir solche „Argumente“ oder Kommentare wie die obigen anbringt, dann höre ich da raus: „Ich befasse mich ab und zu mit dem Thema Klimakatastrophe. Also ich weiß, dass das Problem existiert. Also sprich mir bitte nicht jedes Wissen ab. Aber ich weiß auch, dass die Klimabewegung viele Fehler macht. Und weil sie Fehler macht, ist es genauso sinnlos, sich hier zu engagieren. Und by the way: Diese Luisa.. dingswieheißtsienochmal… Neubauer nervt. Und das sind die Gründe für mich, dass ich mich nicht engagiere.“ Ein perfekt in sich geschlossener, auf der (nicht-)denkerischen Oberfläche schwimmender Kreis, der vielen Menschen das Leben in einer imaginären Welt ohne Klimanotstand immer noch ermöglicht.

Dabei knittert und knirscht es ja jetzt schon an allen Ecken und Enden unserer schönen alten, wohlstandsheranschaffenden kapitalistischen Gesellschaft. In den Rändern und auf der anderen Seite der Medaille sterben Menschen schon seit Jahrzehnten. Wir wissen das. Wir wissen das. Wir wissen das. Wir wissen das. Wir wissen das. Huch sorry, es hing kurz in meinem Kopf; ich schrieb das ja auch schon so oft. Aber noch hält unser Gerüst, immer noch können so viele Menschen das alles beobachten und sich Meinungen bilden mit einer mentalen und emotionalen Distanz, die mich gerade bei weißen Akademiker*innen und weißen Menschen der mittleren und oberen Mittelschicht, denen ich die Möglichkeit eines gewissen Zeitwohlstands zuspreche, immer wieder erstaunt. Wessen Aufgabe ist der Kampf gegen die Klimakatastrophe? Meiner? Deiner? Seiner? Ihrer? Unserer? Eurer? Ihrer? Gibt es „Klima-in-Ordnung-Bringer*in“ oder „Klima-Kümmerer*in“ oder „Klima-Pfleger*in“ oder „Klima-Awareness-Trainer*in“ in all ihren diversen Ausfächerungen als Berufe? Nein (oder sagen wir: selten), dann bekäme ich ja Gehalt. Gibt es „Klimapolitiker*in“? Nein. Keine einzige Partei mit politischer Verantwortung hat die planetaren Grenzen aktuell im Blick. Vielleicht einzelne Politiker*innen, das kann sein. Aber wo ist sie? Wo spricht sie? Wo handelt sie? Ist es nur in ihrem Kopf? Und denkt sie noch an Übersetzungen herum? Oder brütet sie mit starken Kopfschmerzen aufgrund der in ihrem Körper wütenden kognitiven Dissonanz an Kompromissen, die alle außerhalb der planetaren Grenzen liegen? Die Migräne ist nicht mehr aufzuhalten, verdammt, hoffentlich schafft sie es noch, das Kind nach der KiTa der Mutter einer KiTa-Freund*in des Kindes aufzudrücken, sonst wird’s wieder extrem übel, bevor sie die Vorhänge im Schlafzimmer zuziehen kann.

In der Klimabewegung aktiv zu sein; verstanden zu haben, auf welche Katastrophen wir gerade zusteuern, macht krank. Letztens schrieb ein bekannter Scientist for Future, er schaffe es nur, weiter aktiv zu sein, weil er jeden Tag zwei Stunden meditiere. (Jaaa, es braucht viel Zeitwohlstand, das sagte ich schon.) Und es ist der pure Horror, verstanden zu haben. Du schaust dein Kind nie wieder ohne Tränen in den Augen an, obwohl du gerade lachst und glücklich bist.

Wer „ihr“ sagt, hat auch noch nicht verstanden, dass der Klimastreik einer der wichtigsten Hebel ist, um die Regierenden dazu zu bringen, endlich wirksame politische Maßnahmen und Schritte für ein menschliches Leben in die planetaren Grenzen hinein einzubringen. „Ihr-Sager*innen“: das sind immer noch so viele. So viele, dass der Klimastreik nicht ausreichend als wirksamer Hebel wirkt. Und wer schimpft dann auf die Wirkungslosigkeit der Klimabewegung? „Ihr-Sager*innen“ haben auch noch nicht verstanden, dass einer der großen Tätigkeitsbereiche der Klimabewegten ist, „Ihr-Sager*innen“ zum Streiken zu bewegen, weil der Hebel ja eben nur wirksam werden kann, wenn nicht ein imaginäres „Ihr“, sondern wir ihn gemeinsam stemmen. Mein Job – in dem Falle als „Klima-Awareness-Trainer*in“ – ist es zum großen Teil zum Beispiel, „Ihr-Sager*innen“ wenigstens zweimal im Jahr für zwei Stunden in „Wir-Sager*innen“ zu verwandeln und dazu, dass sie sagen: „Scheiß für zwei Stunden auf meine Lohnarbeit“. Oder, besser: „Damit ich in 10 Jahren noch (m)eine Lohnarbeit habe, gehe ich am Freitag streiken“. Oder: „Wenn ich gerade einen Bullshitjob habe, bin ich gut damit beraten, jetzt streiken zu gehen, damit jetzt noch staatliche Gelder zur Verfügung gestellt werden für meine Umschulung oder whatever.“ Das ist der kleine persönliche Rahmen. Eigentlich ist es meines Erachtens die Pflicht jedes Menschen, wenigstens zweimal im Jahr zu streiken, und zwar schon allein aus dem Grund, Solidarität zu zeigen, denn wir wissen ja alle, dass woanders auf der Welt Menschen seit Jahrzehnten wegen des Klimanotstands sterben, ihr Zuhause, ihre Lebensgrundlagen verlieren usw. Wir wissen es ja. Wir wissen es ja. Wir wissen es ja.

Die hier vorgenommene Einteilung in „Ihr“ zeigt also für mich den Erkenntnisstand an. Wer die Klimakatastrophe in den Körper hineingelassen und wirken gelassen und also erkannt hat, sagt nicht mehr „ihr“.

Und ich frage mich natürlich: Wie lange ist das an die Klimaaktiven gerichtete „Ihr“ noch aufrechtzuerhalten? Wie lange muss ich die „Ihr-Sager*innen“ noch anbetteln und anflehen und nach Übersetzungen suchen, die endlich in die „Ihr-Sager*innen“-Körper gelangen? Soll ich Gedichte schreiben? Soll ich Tänze aufführen? Soll ich lauter schreien? Leiser? Was wollt ihr? Was braucht ihr? Was tut ihr? Ja, gut beobachtet, ich benutze auch „ihr“: Wenn es ein „Ihr“ auf der einen Seite gibt, dann gibt es auch ein „Ihr“ auf der anderen Seite. Denn wo befinde ich mich sonst? Im Zwischen-„Ihr“-Raum? Oder – revolutionäre Idee – sind wir vielleicht alle zusammen „Wir“, sitzen wir nicht alle in unterschiedlich ausgerüsteten Booten, die vielleicht nur zu unterschiedlichen Zeiten untergehen werden?

Fast alle, mit denen ich beim Abi-Treffen sprach, haben Kinder so wie ich. Wir. Wir haben Kinder. Wir wollen das Beste für unsere Kinder. Aber wenn wir jetzt nicht alle gemeinsam politisch werden und an die politisch Verantwortlichen appellieren, uns doch bitte in die planetaren Grenzen zu manövrieren, und wir bereit sind, unsere Lebenswege auch nochmal radikal zu verändern – ja, vielleicht so radikal oder noch radikaler, als unsere Eltern es im Osten gezwungen waren, nach 1989 zu tun, dann ist es gut möglich, dass unsere Kinder nicht mehr eines natürlichen Todes sterben. Dann ist bald scheißegal, in welchem „Ihr“ sich jede* von uns aktuell aufhält. Und klar: so oder so wird es schrecklich. Viele schreckliche Katastrophen sind nicht mehr aufzuhalten.

Wo beginnen? Wie wissen, wie die für dich richtige Klima-Arbeit aussieht? Das ist vielleicht eine lebenslange Suche. Ich bin seit drei Jahren dabei, und ich suche immer noch verzweifelt. Mal singe ich, dann schreie ich von der Bühne, dann streite ich mich komplett sinnentleert mit AFDler*innen oder Kubicki-Anhänger*innen auf der Straße, mal schreibe ich Theaterstücke, dann wieder Artikel oder an einem Buch, viel Zeit verbringe ich auf der Straße und biete mich für Klimagespräche an. Ich bin sogar schon einer neuen Klimapartei beigetreten und habe mich als Kandidatin für die Landtagswahl aufstellen lassen. Viele Tausende machen Ähnliches wie ich. Aber es reicht nicht. Das sich da bildende „Wir“ reicht nicht. Die „Ihr-Sager*innen“ fehlen. Was fehlt ihnen? Was ist nicht gut? Was ist doof?

Ich richte mich jetzt imaginär an einen Kumpel, der mir das mit den „blöden Sprüchen“ beim Klimastreik letzten Samstag sagte:

Wenn dir die skandierten Sprüche nicht gefallen, dann sorg für neue. Oh ja, das ist viel Arbeit. Und du wirst merken, wie viele Kompromisse du hier eingehen musst. Nicht kompromissfähig!!? Jede* in der Klimabewegung lacht sich über diese Anklage scheckig. Und wenn du dann am Ende eines langen kompromissreichen Tages die Menge deinen Spruch skandieren hörst, dann klopfst du dir auf die Schulter und bist zu Recht stolz auf dich. Obwohl du gleichzeitig beinahe resignierend denkst: ‚Wow, ich habe jetzt mindestens 100 Stunden für einen Spruch gegeben: Das ist so winzig, das tut noch nix dafür, dass die Klimakatastrophe eingedämmt wird?‘ Nein, natürlich nicht. Aber mein Lieblingsmotto im letzten Jahr war dieses: Pick Your Fights! Wähle deine Kämpfe wohlüberlegt aus! Wenn 80 Millionen ihren je ganz eigenen politischen Klimafight picken… dann kann das noch was werden. Den Spruch in die Massen bringen, das war nur der Beginn. Von da geht’s weiter, vielleicht geht’s nun ganz woanders lang, die Arbeit ist unendlich, um in die planetaren Grenzen zu kommen, aber immerhin trampelt dein politisches Ich nicht mehr ignorant und verdrängerisch mit gleichzeitig tuckerndem schlechten Gewissen außerhalb der planetaren Grenzen herum.

Ich weiß, vieles von dem, was ich hier jetzt schrieb, kommt vielleicht sogar wortwörtlich in einem anderen meiner Texte vor. Das kommt daher, dass ich ein bisschen übersetzungs- und wortsuchmüde geworden bin bei dem Thema. So ist das auch auf der Straße bei den Klimagesprächen: Wenn ich eine* nicht erreiche, sagt mir dann auch die Person, die ich gerade nicht erreiche, nicht selten: „So erreichst du die Menschen nicht!“ Okayyy, wer sind „die Menschen“? Du jetzt, oder was? Erreiche ich dich nicht, oder verstehst du mich nicht? Ich spreche deutsch, du sprichst deutsch, aber meine Worte, meine mit meinen Worten eingekleideten Inhalte erreichen dich nicht. Ja mal eine Bitte: Kannst du dich bitte auch mal anstrengen? Ich gebe mir doch auch gerade Mühe! Ich bin müde: Mir kommt einfach keine andere Formulierung in den Sinn, und ich mag auch keine mehr suchen, denn der Satz ist verständlich, wirklich. Vielleicht geht er nicht in deinen Körper, aber vielleicht kann ich auch nicht die Körperarbeit für dich tun, die DU in DEINEM Körper tun  und erstmal zulassen musst? Vielleicht ist es deine Arbeit, die richtigen Worte und Themen und Gebiete und Übersetzungen für dich zu finden? Die dich berühren? Und wenn du sie gefunden hast, dann geh damit in Gespräche, und du berührst Menschen, die ich nicht vermag zu berühren. So wird ein Schuh draus.

Jede* hat das Recht, sich den Klimanotstand auf ihre Weise anzueignen! Und jede* hat die Möglichkeit, die Klimabewegung ein kleines bisschen zu der ihren zu machen.

Ostdeutsche Frauen II: Ostdeutsche Frauen Mitte 40: Lohnarbeit oder Klimastreik? Das ist hier keine Frage

Die Zugfahrt von Rostock zurück nach Esslingen war neun Stunden lang. Dreißig Jahre meines Lebens zerknautschten in riesigen Erinnerungs-Flashbacks. Alle 43-jährigen Frauen auf dem Abi-Treffen waren taffe, lohnarbeitende Frauen, die – zumindest so weit ich Einblick gewinnen konnte – gut und auch zufrieden in der Mitte ihres Lebens stehen. Die Kinder sind größtenteils aus dem Kleinkindalter raus. Keine Frau lohnarbeitet nicht. Und keine (übrigens auch kein Mann) gab mir in irgendeiner Weise die Rückmeldung, zum Klimastreik zu gehen. 0 aus 49. Ich fragte mich, ob ich mal wieder in einer Klimanotstand-existiert-nicht-Bubble gelandet war. Ist das nur mein Jahrgang? Nur meine Schule? Nur Rostock? Nur der Osten?

Natürlich nicht, und natürlich ist es nicht nur der Osten. Für viele aus meinem Freund*innen- und Bekanntenkreis mit westdeutscher Biographie ist der Klimastreik keine Veranstaltung, die man sich in den Kalender trägt. Ist es eine Generationenfrage? Ich glaube schon. Eine Generationenfrage, für die es im Osten und im Westen vielleicht unterschiedliche Gründe für die Distanz zum Klimathema gibt.

Die Lohnarbeit – in Vollzeit – war und ist für ostdeutsche Frauen meiner Generation das wichtigste und grundsätzlichste, so sehe und fühle und empfinde ich das. Sie wird nicht in Frage gestellt, niemals und zu keiner Zeit, auch nicht für zwei Freitage im Jahr. Sie ist das Fundament, auf dem die ostdeutschen Frauen gehen; das Erbe, das uns unsere hart lohnarbeitenden Mütter und Großmütter mitgegeben haben. Wir halten die Fahnen hoch; wir treten in ihre Fußstapfen, und nichts und keine* hält uns davon ab. Ich sage „wir“, obwohl ich aktuell nicht lohnarbeite, weil ich bereits einen jahrelangen Kampf in mir selbst und mit meinen ostdeutschen Bekannten und meiner Familie führe, der mir nie Ruhe gibt. Was ich tue – also nicht lohnzuarbeiten, zumal mit meiner Ausbildung! – ist gerade im Osten einfach undenkbar. Das Schreckgespenst – das natürlich auch in mir existiert! – der finanziellen Abhängigkeit tänzelt täglich vor mir auf und ab, wird mir täglich von Externen vorgeführt und zeigt mir täglich den Abgrund, in den ich fallen kann. Auch der Feminismus watscht mir immer mal wieder eine über, zu Recht natürlich! Aus keinem Instrument kämen harmonische Töne, wenn irgendwer mein Feminismus-Konstrukt vertonen sollte.

Ostdeutsche Frauen III: was die Zukunft bringen wird

Dennoch: Ich glaube nicht, dass mich eine meiner früheren Mitschüler*innen belächelt hat letzten Samstag, so wie wir damals die “westdeutsche Hausfrau”. Ich sah in viele aufrichtig fragende und interessierte Gesichter. In diesen Gesichtern sah ich, dass ALLE es wissen. Sie wissen es. Sie wissen es. Sie wissen es. Sorry, wieder aufgehangen. Nur was tun mit diesem Wissen? Alles so groß, so breit, so tief, so beängstigend, und wir sind keine Frauen, die Angst haben! Wir haben gesehen, wie unsere Mütter mit der Existenzangst umgingen! Sie kämpften wie Löwinnen! Sie sahen uns oft nicht zwischen Arbeitsamt und Aberkennung der Lebensleistung und Umschulung und neuem Job oder neuen Jobs, aber sie kämpften für uns und eine halbwegs abgesicherte Zukunft für uns. Für welche Zukunft unserer Kinder kämpfen wir, kämpfen die Mütter meiner Generation? Welche Kämpfe sehen uns unsere Kinder aktuell kämpfen?

In 28 Jahren wird meine älteste Tochter – wenn alles gut geht – 25-jähriges Abi-Treffen haben. Wenn alles gut geht. Wenn alles gut geht. Wenn alles gut geht. Also ich meine: wenn alles gut geht. Es gibt nur leider sehr viele – zu viele – wissenschaftlich sehr erwiesene Hinweise darauf, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass es nicht gut gehen kann. Und wenn es meiner Tochter in 28 Jahren nicht gut geht, dann denkt sie vielleicht darüber nach, in was für existentiellen Krisen wir Mütter vor 28 oder 25 Jahren (vielleicht ist es ja auch in drei Jahren schon ganz anders) gesteckt haben und wie wir auf diese reagiert haben, und wie wir gekämpft haben. Weil sie, meine Tochter selbst, sie kämpft wie eine Löwin im Jahre 2050, sie beißt sich durch und sie holt das Beste raus, auch wenn die Welt um sie herum brennt. Ich wünschte nur – aus tiefstem Herzen, sie müsste nicht so kämpfen. Ich wünschte, wir Mütter würden jetzt mehr kämpfen, damit sie in 28 Jahren nicht so hart kämpfen muss. Was ist das für ein Gefühl für sie, wenn sie weiß, das es vor 28 Jahren mehr “Ihr-Sager*innen” als “Wir-Sager*innen” gab? Ich bin keine Hellseherin, aber ich kann mir vorstellen, dass sie nicht glauben kann, dass wir trotz des Wissens um den Elefanten nicht dafür gesorgt haben, dass er einigermaßen heil aus dem Porzellanladen kommt, ohne alles zu zertrümmern. Und ich frage mich: Gibt es dann nicht in ihr ein Gefühl der generationalen Einsamkeit in ihr, weil sie keine Solidarität von dieser Müttergeneration 2022 spürt? Ich heute jedenfalls verstehe meine Mutter und ihre Entscheidungen und Entscheidungskonflikte von vor 25 Jahren (und der vorherigen 7 Jahre seit der Wende); ich fühle solidarisch mit ihr. Und ja: Ich möchte, dass meine Töchter einmal das Gefühl haben, dass ich getan habe, was ich für richtig hielt, um für ihre (zukünftige) Sicherheit zu sorgen. Ich wünsche mir aus tiefstem Herzen, sie hätte es dann so smooth wie ich jetzt, also 25 Jahre zuvor, als so viele Menschen noch dachten, die Bekämpfung des Klimanotstands wäre Aufgabe bzw. läge gut in den Händen von Berufspolitiker*innen, und sie könnten ganz in Ruhe unserer Lohnarbeit nachgehen und so vor allem für die zukünftige finanzielle Sicherheit unserer Kinder sorgen, und Klima-Aktivismus sei derweil freiwillig (normales Ehrenamt halt) und/oder was für “Radikale”. Ich meine: die Zeiten sind vorbei. Aber sie sind halt noch nicht vorbei; oder sagen wir so: Die Zeiten sind genauso vorbei, wie das Patriarchat zu Ende ist.

Kommentare zu diesem Beitrag

  • Jutta-Lotte sagt:

    Vielen Dank für den Beitrag, der mich, ‘erreicht’ und nachdenklich gemacht hat. Ich selbst bin als OMA GEGEN RECHTS aktiv und habe einmal mehr gedacht, dass unsere Solidarität als OMAS mit der Generation, die so viel jünger ist als wir, doch noch viel größer werden könnte und sollte.

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