Forum für Philosophie und Politik
Von Heike Brunner
Dies ist die statistische Zahl der 2020 in Deutschland vom (Ex-) Partner ermordeten Frauen – der in Deutschland geschehenen Femizide. 139 Frauen, die vielleicht noch leben könnten, wenn …? Wenn genauer geschaut und reagiert werden würde? Wenn gewusst wird, worauf zu schauen ist? Wenn das Wissen, welches dazu vorhanden ist, verbreitet und legal genutzt werden kann?
Die Autorinnen Julia Cruschwitz und Carolin Haentjes haben genau geschaut. In zehn Hauptkapiteln sind sie den Fragen zu Femiziden nicht nur in Deutschland auf die Spur gegangen. Den Umständen, den Ursachen, den geltenden Gesetzgebungen und Möglichkeit. Auf die Frage z. B., “wie ist das Täterbild?”, um präventiv arbeiten zu können, um erkennen zu können wo die Gefahr gegeben ist, verwenden sie intensive Recherchearbeit und kommen zu wichtigen Erkenntnissen. Denn nein, es ist prozentual nicht der schon immer durch Gewalttätigkeiten aufgefallene Ehemann, es sind tatsächlich Persönlichkeitsprofile ähnlich von Amokläufern: die unauffälligen, die nicht vorbestraften, die “guten Ehemänner”, was auch immer die Gesellschaft darunter versteht, Schläfer. Und doch, es gibt Vorwarnhinweise, die nur leider immer noch viel zu wenig berücksichtigt werden, von den Opfern, von dem Umfeld der Opfer, von den Institutionen.
Mittels Studien, Fallbeispielen, sehr vielen Interviews mit den verschiedensten Institutionen und Menschen, die in diesem Bereich arbeiten und Betroffenen, sowie dem internationalen Vergleich der Gesetzgebung, schaffen die beiden ein wichtiges Grundlagenwerk zu einem Kapitel, in dem weiteres Wegsehen oder Übersehen tödlich endet. Mit umfassenden Blick, so wird auch dazu geschrieben, wie oder was mit den Tatzeug*innen passiert, also oftmals den Kindern, die hoch traumatisiert die Gewalteskalationen mit erleben mussten, nimmt das Buch die hierzulande ebenfalls bisher kaum beachteten Nebenschauplätze der brutalen Taten ins Visier. Dieses Buch lässt kaum noch Fragen offen, was zu tun ist, eher wann wird das Wissen darum konsequent umgesetzt werden. Die Dringlichkeit der politischen Handlung zum Thema wird sehr deutlich, denn Deutschland hinkt im internationalen Vergleich hierbei hinterher, leider jedoch nicht in den Fallzahlen.
Es ist eine Pflichtlektüre für alle, die in diesem Bereich beruflich involviert sind und nicht nur für diese. Es ist ein gesellschaftlich verankertes Problem und der zunehmende Frauenhass schürt das Feuer und begünstigt die Selbstverständlichkeiten der Täter, sich am Ende noch zum Opfer zu stilisieren. Es öffnet das Bewusstsein und holt schwammige Vorstellungen raus aus dem Privaten, mitten in das öffentliche Bewusstsein. Frauenmorde dürfen nicht länger gesellschaftlich durch Individualisierung der Taten mitgetragen werden. Die aktuelle Handhabung und Verdrängung ins Private, Persönliche sorgt aber genau dafür, statt zukünftige Morde zu verhindern.
Es ist ein sehr berührendes Buch und Achtung, natürlich kann es triggern. Die Fallbeschreibungen mit tödlichen Ausgängen sind kaum aushaltbar und doch zeigt sich genau dort in den einzelnen Etappen, wo Maßnahmen – gäbe es sie denn bei uns bundeseinheitlich – hätten greifen können. Hätten Leben retten können. Ein absolut wichtiges und sehr empfehlenswertes Buch, das informativ und faktenbasiert wachrüttelt und Schläfer früher erkennen lässt.
Femizide-Frauenmorde in Deutschland, Julia Cruschwitz und Carolin Haentjes, Hirzel Verlag 2022, 216 Seiten, 18.- Euro, ISBN 978-3-7776-3029-8
Danke für diese Besprechung. Wenn ich die Zahl richtig im Kopf habe, wird in Deutschland etwa jeden dritten Tag eine Frau ermordet, etwa 130 Frauen jedes Jahr. – Jedesmal, wenn an islamistische oder rechts-terroristische Anschläge oder an Amoktaten öffentlich erinnert wird (mit weniger Toten im Jahr), wie neulich wieder, muß ich daran denken: Diese Morde an Frauen gehen einfach so unter in der Politik, in den Medien, in der Öffentlichkeit, in unserem Bewußtsein. Wohl, weil es immer “nur” eine Frau, nur ein einziger Mensch ist, plus manchmal auch deren Kinder. Aber auch der Mord an diesen Kindern regt nicht groß auf, m. W. auch nicht die sogenannten Lebensschützer.
Mit den einzelnen Unfalltoten des Straßenverkehrs ist es ja genauso. Ein Flugzeugabsturz oder ein Eisenbahnunglück dagegen schlägt ein wie eine Bombe.
Wie ist das zu ändern, wie schaffen wir mehr Bewußtsein dafür? Braucht es dafür die Kommunikations-Wissenschaft?
Endlich, endlich, endlich wird der Femizid als gesellschaftliches Problem erkannt und der Massenmord auf Ratenjetzt (s.o.) sogar in Buchform dargestellt. Danke, danke, danke.
Als ich 2015 “Sonst bring ich dich um!” schrieb, fühlte ich mich mit dem Thema noch allein auf weiter Flur.