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Rubrik denken

María Zambrano: Unbewusstes Spüren und die Entwicklung der Sprache über die Natur

Von Dorothee Markert

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Die Natur spüren und schreiben

Die spanische Philosophin María Zambrano lebte von 1904 bis 1991. Sie lehrte Philosophie an der Universität Madrid. Von 1936 an musste sie bis zum Ende der Franco-Diktatur im Exil leben, in Frankreich, Mexico, Cuba, Puerto Rico, Italien und in der Schweiz (vgl. Wikipedia).

Im Denken von María Zambrano ist die Natur von zentraler Bedeutung. In einigen ihrer Bücher ist sie explizit das Thema (in Philosophie und Dichtung und andere Schriften, 1940, dt. 2004, und in De la aurora, 1984)in einigen ist sie ein Teilaspekt (Der Mensch und das Göttliche, 1953, dt. 2005). Auch in Zambranos anderen Schriften findet Chiara Zamboni immer wieder Bruchstücke, Anspielungen und Verweise auf das Thema Natur. Eine schlüssige Gesamtdarstellung strebt María Zambrano nicht an, die Natur wird je nach Text unterschiedlich dargestellt und immer wieder aus einer anderen Perspektive betrachtet. Doch in der Gesamtschau auf ihr Werk zeigt sich laut Chiara Zamboni, dass die Natur für Zambrano ebenso Voraussetzung wie auch Orientierung ist.

In Der Mensch und das Göttliche arbeitet María Zambrano heraus, auf welche Weise es den Menschen im Laufe ihrer Geschichte gelungen ist, durch das Entwerfen und Formulieren von Visionen, also mithilfe von symbolischen Formen und Sprache, in dem Eingesperrt- und Eingesponnensein in das, was sie „das Heilige“ nennt, einen eigenen Raum zu schaffen, so dass sie eine lebendige Beziehung zum Heiligen entwickeln konnten. („sacro“ bedeutet sowohl Heiliges als auch Tabu oder Unberührbares und wird hier als ungeformte, Angst machende, undurchsichtige, überwältigende Präsenz beschrieben, die alles ausfüllt, DM). Im Rahmen der so gewonnenen Beziehung war es möglich, das Heilige als schöpferische Präsenz wahrzunehmen und nicht mehr als etwas Gefährliches und alles Verschlingendes. Ohne Bilder und Symbole wäre das Heilige ein undurchdringliches, irrlichterndes Ganzes geblieben, das alles in sich einspinnt und in seinen Taumel hineinzieht. Zambrano untersucht, wie die Menschen Brücken bauen konnten zwischen dem Heiligen und der Sprache und wie sie mit dem Heiligen so umgehen konnten, dass aus ihm die symbolischen Formen hervorgingen, die es schließlich transzendierten.

„Natur“ ist als symbolischer Horizont die menschliche Antwort auf das Heilige, denn sie hat eine Form und verweist auf eine Erfahrung, die die Sprache wiedererkennen kann. Natur ist die Frucht eines Pakts der menschlichen Realität mit der bedrängenden, wahnhaften, ungeformten Realität des Heiligen. Zambrano spricht immer wieder davon, dass dies möglich wurde durch die Philosophie, die das Heilige in Göttliches verwandelte. In ihrem Buch Der Mensch und das Göttliche stellt die Autorin fest, dass das Opfer für die Götter die erste Form symbolischen Austauschs war, die es den Menschen erlaubte, einen Raum zu gewinnen, in dem sie Atem holen konnten. Und das eröffnete ihnen die Möglichkeit, eine symbolische Figur zu formulieren. Mit dem Opfer, dem symbolischen Austausch mit dem Göttlichen, und mit der Sprache konnten sich die Menschen Luft verschaffen von einer Realität, von der sie vorher verschlungen und überwältigt worden waren. Sie schufen sich einen lebendigen Raum. In diesem Raum entstand der Gedanke der Natur, der das Ergebnis des ganzen bis dahin zurückgelegten Weges ist.

María Zambrano zufolge können wir uns also nicht in die Natur hineinbegeben, als sei sie eine vorgegebene Ordnung. Denn den symbolischen Sinn einer Ordnung konnten wir nur gewinnen, indem durch einen sprachlichen Pakt in der undurchsichtigen Gesamtheit des Heiligen ein Raum geschaffen wurde. Da die Natur eine Schöpfung des Symbolischen ist, ist das Denken, das wir aus ihr gewinnen, ein konzeptioneller Prozess unter Einbeziehung von Mythos und Sprache, um das, was wir leben, in symbolische Erfahrung zu verwandeln.

Für Zambrano ist die Natur nicht das Heilige, sie hat aber mit dem Heiligen zu tun, da sie ein Ausdruck der menschlichen Berufung ist, eine symbolische Form zu finden, von der aus eine Vision des Heiligen entstehen kann. Diese Vision entsteht dadurch, dass innerhalb des Heiligen ein Atemholen möglich wird, um in der Sprache einen autonomen symbolischen Raum zu schaffen. Dabei geht es nicht darum, sich vom Heiligen loszulösen oder es zu überwinden. Auch wenn das Heilige nichts Darstellbares ist, drängt es sich doch auf, ist beharrlich und nimmt uns gefangen. Daher lässt die Art und Weise, wie in der Philosophie, der Politik, der Literatur und der Religion über Natur gesprochen wird, den einen oder anderen Aspekt der geheimnisvollen Dimension des Heiligen auftauchen, der die viszerale Wurzel der Vorstellung von der Natur repräsentiert, also ihr „Eingemachtes“, das, was aus ihren Eingeweiden hervordrängt. 

Wenn wir die Natur beispielsweise als „Landschaft“ verstehen oder als „Garten“, ist das eine Natur, die durch den Blick einer von bildender Kunst und Fotografie geprägten Kultur domestiziert wurde, wie wir sie aus unserer schulischen und medialen Bildung mitbringen. Verstehen wir Natur als „Umwelt“, wird sie als politische, historische und menschliche Frage interpretiert, wobei das Rätselhafte und Triebhafte nur als etwas betrachtet wird, das mit dem Mythos zu tun hat und daher der wissenschaftlichen Methode fremd ist. Jede geschichtliche Vorstellung von der Natur trägt auch etwas in sich, das aus der Beziehung der Natur mit dem Rätselhaften, dem Körperlichen stammt, aus dem, was unter der Oberfläche brodelt wie Magma. Auch eine Naturvorstellung, die jene Dimension gewaltsam ausschließe, sei indirekt eine kulturelle Antwort auf jenes unter der Oberfläche Brodelnde, betont Chiara Zamboni.

Während ich diesen ersten Teil von Chiara Zambonis viertem Kapitel zusammenfasste, in dem sie uns das Denken María Zambranos nahebringt, kamen mir folgende Gedanken: Zambrano schildert hier ja nur den ersten Abschnitt einer Entwicklung, in der die Menschen sich über das Symbolische einen eigenen Raum schaffen konnten, einen Abstand, ein Stück Bewegungsfreiheit. Dabei half ihnen ein symbolischer Austausch mit dem Göttlichen, das Opfer. Mir fällt dazu ein, wie einleuchtend ich es bei der Besichtigung der Ausgrabungen eines uralten Kupferbergwerks in der Arava-Senke während einer Israelreise fand, dass sich gleich neben dem Schacht ein Altar befand, auf dem einer Göttin Opfer gebracht wurden. Denn schließlich stellte das Graben in der Erde ja eine Verletzung dar, für die um Verzeihung gebeten werden musste. Ich dachte damals, dass die Erde vielleicht so lange davor geschützt wurde, rücksichtslos ausgeplündert und dabei immer mehr zerstört zu werden, wie solche Rituale für die Menschen selbstverständlich waren. 

In der weiteren Entwicklung veränderten die Menschen das Göttliche und dann die Religionen so, dass sie sich immer weiter vom Rätselhaften, Körperlichen und Triebhaften und von der Erde entfernten. Am stärksten geschah das wohl im Protestantismus. Schließlich entledigten sich die Menschen im Laufe der Aufklärung auch der Religionen und begannen, alle Bindungen und Abhängigkeiten zu leugnen und zu vergessen. 

Und heute fangen wir unter dem Schock von Klimakrise und Naturzerstörung damit an, den umgekehrten Weg zu gehen und uns unserer Bindungen und Abhängigkeiten wieder bewusst zu werden. Dabei kann uns ein tiefgreifendes Umlernen helfen, wie es uns beispielsweise in diesem Buch nahegebracht wird. Hilfreich für ein solches Umlernen kann auch das sein, was von indigenen Kulturen nach den physischen und kulturellen Genoziden der Geschichte noch übrig ist oder rekonstruiert werden konnte. In dem Buch „Geflochtenes Süßgras. Die Weisheit der Pflanzen“ von Robin Wall Kimmerer (Berlin 2021) finden sich viele konkrete Praktiken aus der Kultur ihrer indigenen, nordamerikanischen Vorfahren, die gut zu dem passen, was Chiara Zamboni in ihrem Buch über die Natur zusammengetragen hat. 

Im Laufe von Zambranos philosophischer Entwicklung nimmt das Wort „spüren“ großen Raum ein. Mithilfe des Spürens können wir den Übergang erfahren zwischen der Art und Weise, wie die Dinge vor uns aufscheinen, und der viszeralen, unbewussten Seite der Natur. Die Natur ist eine Konzeption, ein Gedanke, eine Idee, die an der Grenze zwischen einer kosmischen Ordnung und dem steht, was uns fasziniert, obwohl es keine Form hat, das uns aber gleichzeitig auch bedroht, uns umschlingt und nicht loslässt, das uns ruft: das Heilige, das wir in der Tiefe („den Eingeweiden“) wahrnehmen. 

Die Natur verliert nie vollständig jene Kraft, die aus dem beharrlichen Dableiben von etwas Rätselhaftem kommt, das uns in seinen Bann zieht. Das Wort „Natur“ verweist auf eine Realität, deren dunkle Seite vom Spüren erfasst wird. Das Spüren ist an den Körper gebunden, denn alle Sinne sind dabei einbezogen. Doch es hat auch einen Bezug zur Seele, denn diese sei ein Splitter des Kosmos im Menschen, schreibt Zambrano in Hacia un saber del alma (1934, S. 15). Mit „Seele“ meint sie nicht eine Art Verlängerung oder Vertiefung des Ich, sondern den Resonanzraum für das Schmecken, Berühren, Sehen, also für das Spüren der Natur.

Wir erfahren die Natur, wenn es eine Vermittlung zwischen der triebhaften Materie und der Sprache gibt. In anderen Worten, wenn das Heilige auf dem unendlichen Weg eines Wortes verwandelt wird, der nie abgeschlossen ist. Diese Verwandlung bedeutet mehr, als dass aus den geträumten Fantasmen und Wahnbildern der ungeformten Materie Bilder hervorgehen oder dass sich Symbole herauskristallisieren, die das Denken voranbringen. Sie umfasst auch unsere eigene Veränderung. Wenn wir es zulassen, dass die Erfahrung des irrlichternden Heiligen uns berührt, wenn es nicht ignoriert und verdrängt wird, dann erweitert sich unser Spüren so, dass sich unsere ganze Art zu leben ändert. Und das begleiten wir mit Worten, die uns persönlich ausmachen. 

Zambrano unterscheidet verschiedene Arten der Vernunft: Der vermittelnde Logos hat die Fähigkeit, das Dunkle, das Heilige zum Ausdruck zu bringen durch die nie abgeschlossenen Wege der Sprache, wenn sie die Dinge wahrnimmt und auf sie hört. Der poetische Logos nimmt die Fähigkeit, nahe bei den Dingen zu sein, wieder auf und verfeinert sie, indem er die Dinge erduldet, sie anspricht, sie liebt und mit ihnen leidet.

Die Sprache, die schon vor uns da war, die wir erlernen, wenn wir sprechen lernen, wird von einer Grammatik strukturiert, die das Ich stärkt, die erste Person. Auf das Ich bezieht sich dann das Du. Die Dinge haben in der Grammatik die Position des Es, dritte Person Singular oder Plural. Das Es ist das, von dem das Ich und das Du sprechen und auf das sie sich als Realität außerhalb von sich beziehen. Wir gehen nicht davon aus, dass Dinge darauf antworten, wenn wir uns an sie wenden. Von der Grammatik her ist es ja ausgeschlossen, dass wir uns wünschen könnten, die Dinge anzusprechen, also darüber hinauszugehen, sie nur zu benennen. Und so wünschen wir uns auch nicht, dass sie uns antworten, dass sie aus der Unbeweglichkeit heraustreten, in der sie begraben zu sein scheinen, aus ihrer besonderen Art der Stummheit, die etwas anderes ist als Stille. Es handelt sich dabei nämlich um eine Unbeweglichkeit und Stummheit, die daher kommt, dass auf ihre Ausdrucksmöglichkeiten nicht gehört wird. Die Dinge zeigen nur dann, dass sie mit uns einverstanden sind, wenn wir sie auf poetische Weise ansprechen, indem wir uns in sie verlieben (vgl. Zambrano, Los bienaventurados,1979, zit. n. Zamboni, S. 98).

Für Zambrano können die oben genannten grammatikalischen Festlegungen nicht die Entwicklung dessen blockieren, was wir leben. Wenn wir die Dinge lieben, wenn wir uns in sie verlieben, wird dadurch etwas bewirkt, das tatsächlich Veränderung bringt. Wir gewinnen eine neue Perspektive, ohne die Grammatik zu verändern. Die Dinge bleiben in der dritten Person Singular oder Plural, aber alles ändert sich. Die Revolution der Lebensweise in der Sprache ist nicht grammatikalisch, sondern existenziell. Sie gelingt durch die Faszination für den Gegenstand, durch das Vertrauen, das wir ihm entgegenbringen, durch unser Uns-in-ihn-Verlieben. Dann geschieht es, dass die Liebe, auch wenn sie sich an ein äußeres Objekt richtet, es zu etwas Lebendigem werden lässt, von dem wir eine Antwort erwarten. Wir gehorchen zwar den vorgegebenen Strukturen – ich, du, es, Subjekt, Objekt – und doch ist alles anders geworden.

Chiara Zamboni hält María Zambranos Buch De la aurora (1986; „Von der Morgenröte“) für eines ihrer wichtigsten Werke, um ihre Vorstellung von der Natur zu verstehen. Zamboni weist auf den besonderen Stil dieses Textes hin, mit dem die Autorin sich bewusst einstimmt in den Prozess des Keimens und Hervorbringens der Natur. De la aurora sei aus Bildern gewoben. María Zambrano wolle damit erreichen, dass wir hineinhören in die Öffnung, die diese bewirken. Es sei, als ob von den Bildern Resonanzwellen ausgingen, die von dem, was wir dazu sagen, noch mehr erweitert würden. Und zusammen mit unserem Kommentar zu den Bildern würde sich unser Leben ändern. Die Lektüre dieses Textes nehme uns in erster Person auf eine Weise in Anspruch, die über das Kognitive hinausgehe. Jede Figur lasse eine Form aufblühen und gleichzeitig eine der Möglichkeiten, wie die Natur sich uns hingibt: das Morgengrauen, die Morgenröte, der Horizont, die Schwelle, die Steine, das Feuer, das Wasser, der Vogelgesang und so weiter.

Wenn wir den Bildern folgen, dringen wir in die konzentrischen Kreise vor, zu denen uns die Bilder anregen. Dabei kommt beispielsweise der Stein in eine fließende Bewegung, die ja auch zu den Bedeutungen des Bildes gehört: es kann ein geschleuderter Stein sein, aber auch ein Stein, der fest sitzt und Widerstand leistet, ein Stein beim Steinschlag an einer Straße oder auch ein Stein als solides Fundament eines Hauses. So fächert sich eine Reihe von Bedeutungen auf, die nicht in eine einzige Bedeutung münden, denn die semantischen Ausstrahlungen entfalten sich ins Unendliche und brauchen unser Zuhören. 

Beim Lesen von De la aurora dürfen wir also nicht der Interpretationsmethode folgen. Die ausstrahlenden Bilder halten uns im Prozess des Bedeutunggebens fest und laden uns ein, mit diesem Rhythmus des Bedeutunggebens weiterzumachen, in Form einer philosophischen freien Assoziation. Wir begeben uns dabei in Zambranos philosophisches Spiel hinein, die uns auffordert, die von ihr vorgeschlagenen Bilder weiter zu entwickeln. Damit schiebt Zambrano uns in eine Richtung, die bewirkt, dass wir uns verlieben und durch die Bilder den Weg weitergehen, den sie begonnen hat, so dass wir der Verführungskraft der Bilder erliegen. 

Folgen wir nun also der Figur der Morgenröte, die uns durch ein ganz besonderes Denken der Natur führen wird. Sie lädt uns zu einem anderen Hören auf die Natur ein als die Vernunft der Sonne. Unter der Sonne ist die Natur etwas Beständiges, das dadurch dominiert wird, dass es vollständig beleuchtet wird. Dagegen erleben wir unter der Führung der Morgenröte das Bild einer vermittelnden Vernunft, die uns Zugang gewährt zu den helldunklen Geheimnissen der Natur und die eine lebendige, qualitative Erfahrung der Natur ermöglicht. Diese ist ganz anders als eine Natur, die als ausgedehnte Materie verstanden wird, die vollständig beleuchtet wird und wüstenhafte Züge trägt.

Mit dem Bild der Morgenröte will Zambrano auf die Geburt des inkarnierten Wortes hinweisen, eines Wortes, das in der Wahrnehmung lebt, das zusammen mit den Dingen geboren wird und daher weder von den Dingen noch von den Tieren noch von den Pflanzen zu trennen ist. Die Morgenröte ist einerseits ein unregelmäßig auftretendes Ereignis im Zusammenhang mit dem neu aufgehenden Licht, andererseits verweist sie auf die Treue eines Anfangs, der sich immer wieder erneuert. Das Auftauchen der Morgenröte verweist auf das Auftauchen eines Wortes, das wie ein Geschenk angeboten wird. Es ist ein Anfang, in dem Wort und Körper auf ununterscheidbare Weise geboren werden. 

Chiara Zamboni unterstreicht hier noch einmal, dass das Geschenk des Wortes mit dem Geschenk der Wahrnehmung zusammengehört. Das Aufscheinen von etwas Rätselhaftem zeigt sich also nicht nur im Wort, wie allgemein angenommen wird, sondern gehört zur Wahrnehmung. Es lebt im Körper. Das Wahrnehmen und Spüren mit allen Sinnen birgt ein verschleiertes Geheimnis. Wir spüren etwas Lebendiges in der Erfahrung, das mehr ist als das, was wir unmittelbar sagen können. In unserer Wahrnehmung der Natur lebt der Same eines Werdens. Dies ist der Grund für die Dankbarkeit gegenüber denjenigen, die darüber schreiben können und damit dazu beitragen, dass wir die Verbindung zwischen dem lebendigen, hervorbringenden Wort und dem Rätsel unserer Erfahrung besser verstehen können. Ob wir unserer Erfahrung treu bleiben, hängt ab von unserer Haltung gegenüber dem Wort und dem, was wir spüren. Davon, ob es uns gelingt, das Wort lebendig zu halten, indem wir ihm seinen hervorbringenden Charakter zurückgeben, der allzu oft verloren scheint und sich nur hin und wieder zeigt. 

Es gehe dabei darum, wie wir etwas sagen, also nicht um ein anderes Wort, sondern darum, wie wir uns auf das Wort beziehen, ob wir ihm den Schwung zugestehen, der Anfang einer Entwicklung zu sein und ihm damit Lebendigkeit und Intensität mitgeben. Zambrano wendet sich hier nicht gegen die allgemein übliche Sprache, sondern tritt für ihre Erneuerung von innen heraus ein. Durch eine solche Erneuerung können wir die Natur in ihrem Aufblühen und ihrem Werden erfassen, die Wort und Wahrnehmung eng aneinander binden. In De la aurora zitiert Zambrano zwar den Anfang des Johannesevangeliums „Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott  und das Wort war Gott“, doch sie versteht diesen Text ganz anders, als er üblicherweise interpretiert wird. Für Zambrano inkarniert sich der Logos nicht, wird das Wort nicht Fleisch, weil das hervorbringende Wort von Anfang an mit dem Körper verbunden ist, mit dem Spüren, mit der Wahrnehmung der Welt.

Die eigentliche Frage ist für María Zambrano also nicht, was wir über die Natur und ihre einzelnen Wesen sagen können, sondern wie wir von ihnen sprechen, welche Haltung wir dabei einnehmen. Dieses „wie“ hat mit dem Hören auf die Welt zu tun, auf ihre Töne und ihre Resonanz. Es geht also um das Verfeinern dessen, was Zambrano Hineinspüren in das Erfahren der Art und Weise nennt, in der die Natur sich zum Ausdruck bringt. Allen Wesen kommt es zu, sich auszudrücken. So gehört das Pfeifen zum Wind, der Gesang zu den Vögeln, das Rollen zu den Steinen, das Aufspringen zu den Blüten. Doch dieses Sich-zum-Ausdruck-Bringen ist nie vollständig und kommt nie zu einem Ende. Jedes Wesen wünscht sich, vom Logos begleitet zu werden. Seine Sprache ist ein Stammeln, das uns zum Sprechen anregt, damit es klarer wird und eine Form bekommt.

Wir Menschen können dazu beitragen, dass die nicht-menschlichen Wesen in ihrem stammelnden Sich-zum-Ausdruck-Bringen einen Schritt weiter kommen, indem wir ein Wort für das finden, was jene zum Ausdruck bringen wollen. Doch auch dieses Wort bleibt für alle Zeiten immer nur vorläufig. Vom Expressiven zum Expressiven könnte man sagen, obwohl die menschliche Sprache einen anderen Charakter hat als das Stammeln der Dinge. Damit jene Übertragung möglich wird, ist ein poetischer und nicht instrumenteller Bezug zur Sprache nötig. Wer poetisch schreibt, begleitet die Realität und begibt sich ins Hören auf die Stimmen der Welt, auf ihre vielfältigen Möglichkeiten, sich zu zeigen und zu klingen. Auch wenn ein Ding sich nur zeigt, ist das schon seine Art, sich auszudrücken, wie ein Berg, der jeweils ein anderes Profil zeigt, je nachdem, von wo aus wir ihn betrachten. Es geht also nicht nur um den Ton, der von etwas ausgeht, und um seine Resonanz, sondern einfach um die einzigartige Weise eines Dings, sich den Sinnen darzubieten, um seine Art, sich zu offenbaren. 

Das Erscheinen ist ein Sich-Offenbaren und Bedeutung-Annehmen. In diesem Sinne ist es schon sehr ausdrucksvoll, wenn ein Ding in einer bestimmten Weise ausgerichtet oder aufgerichtet erscheint anstatt in einer anderen. Es tritt hervor mit seiner Bedeutung. Im Erscheinen als Sich-Offenbaren, jenem Stammeln des Sich-Zeigens, bittet die Sache uns, ihr ihren einzigartigen Logos zuzusprechen. 

In Persona y democracia: Una historia sacrificial (1959) bringt Zambrano ihren Blick auf die Natur mit der Demokratie in Verbindung. Demokratie bedeute, Aufmerksamkeit für die Vielfältigkeit zu haben. Denn sie sei ein politisches System, das daraus hervorgehe, dass man mit den unterschiedlichen Zeiten der anderen zusammenleben könne, die ganz anders seien als unsere. Demokratie bedeute zudem, das Bewusstsein zu haben, dass das Gegenwärtige vielfältig, organisch und im Werden sei (vgl. Zamboni S. 109).

Chiara Zamboni, Sentire e scrivere la natura. Mimesis Edizioni (Milano – Udine) 2020, 217 S., 20 €

Link zur zweiten Hälfte des Zambrano-Kapitels

Autorin: Dorothee Markert
Redakteurin: Dorothee Markert
Eingestellt am: 07.03.2022
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