Forum für Philosophie und Politik
Von Antje Schrupp
Zum Ende der 16 Jahre dauernden Amtszeit von Angela Merkel, der ersten Bundeskanzlerin Deutschlands, hat es in fast allen Sendern Dokumentationen und Rückblicke gegeben, bei denen man fast schon den Überblick verlieren konnte. Jetzt kommt noch einer hinzu, der aber noch einmal besondere Aufmerksamkeit verdient. Denn er ist erneut von Torsten Körner gedreht, der schon mit seinem Film “Die Unbeugsamen” über die ersten Politikerinnen der Bundesrepublik positiv aufgefallen ist.
Nun also Angela Merkel. Man kann sicher sagen, dass es kein kritischer Investigativfilm ist. Angela Merkel selbst kommt darin zu Wort, und sie kommt gut weg, der Regisseur mag seine Protagonistin ganz offensichtlich. Das gilt ebenso für die Interviewpartner*innen, die über ihre Begegnungen mit und ihre Einschätzungen über Merkel sprechen: Barack Obama, Christine Lagarde, Theresa May, Ursula von der Leyen und viele mehr.
Deutlich wird noch einmal, wie viel Merkel wegstecken musste, um diese politische Karriere zu machen, und mit welcher Kombination von Selbstbewusstsein, Kompetenz, Gelassenheit und Präzision sie das erreicht hat. Körner erzählt Merkels Geschichte aber nicht aus der Perspektive ihrer Gegner, sondern entlang der Krisen, die ihre Amtszeit prägten: die Finanzkrise 2008, Fukushima 2011, die Flüchtlinge 2015, der erstarkende Rechtsextremismus ab 2016, Corona 2020.
Ich glaube, die Ära Merkel wird in den kommenden Jahren noch viel Stoff und Anlass für Interpretationen und Analysen geben, gerade auch aus feministischer Perspektive oder vielleicht besser: ausgehend von der Frage, welche Art von Veränderung und Einfluss aus dem Inneren parlamentarischer Machtstrukturen heraus möglich sind.
Unterm Strich muss man ja sagen, dass Merkel mit ihrer, sagen wir mal, angepassten, pragmatischen, fleißigen und irgendwie “braven” Art, Politik zu machen, gescheitert ist. Ihre Analyse ökonomischer Prozesse war aus meiner Sicht falsch, ihre Austeritätspolitik nach der Finanzkrise ein Desaster. Ihre Wende in der Umweltpolitik kam viel zu spät. Ihre hellsichtigen Standpunkte in der Flüchtlingskrise, gegenüber der AfD und in der Corona-Pandemie konnte sie politisch und in ihrer eigenen Partei nicht durchsetzen.
Natürlich ist es immer schwer zu entscheiden, was hätte sein können, wenn es anders gemacht worden wäre. Wäre da mehr drin gewesen? Oder hat Merkel rausgeholt, was angesichts der Strukturen und Machtverhältnisse möglich war? Was hätte sie anders machen können oder müssen? Diese Fragen sind an ihrem Beispiel deshalb so gut zu diskutieren, weil an ihren guten und lauteren Absichten kaum jemand zweifelt. Dass es ihr nicht um persönlichen Status, Rechthaberei, Machtgier oder den Wunsch, im Rampenlicht zu stehen, ging, bestreiten nicht einmal ihre Gegner*innen.
Was ist dann aber der Grund ihres Scheiterns? Und, um das gleich noch hinten dranzuhängen: Auch des Scheiterns von Obama, May und anderer Personen, die in eine ähnliche Kategorie gehören, nämlich die von Politiker*innen, die mit guter Absicht (wenn auch zuweilen falschen Positionen) versuchen, ihr Amt redlich auszufüllen und die Welt in eine bessere Richtung zu bewegen.
Merkel selbst gibt in dem Film einen Hinweis, über den ich seither nachdenke. Sie sagt an einer Stelle sinngemäß, dass die Aufgabe einer Bundeskanzlerin vor allem sei, Mehrheiten zu organisieren. Was bedeutet das? Wie geht das? Jedenfalls ist das etwas, das ich aus Merkels Scheitern mitnehme: Es reicht in der Politik (und vermutlich auch überall sonst) nicht, Recht zu haben. Man muss Mehrheiten organisieren. Aber wie?
Merkel sagt den Satz im Film, um zu rechtfertigen, warum die Corona-Politik in Deutschland so desaströs war, obwohl die Regierungschefin von Anfang an sehr genau geblickt hat, worum es ging, und auch den Wunsch hatte, entsprechend zu handeln (anders als in den vielen anderen Ländern). Trotzdem war das Ergebnis keinen Deut besser. Der Hinweis auf Mehrheiten, die sich nicht organisieren ließen, ist für mich aber kein Trost, keine Lösung. Sondern eine Herausforderung: So, wie Merkel es mit dem Regieren versucht hat, hat es nicht funktioniert. Wir müssen also andere Wege finden, und dabei kann sie nur bedingt als Vorbild dienen.
Hier könnt Ihr schon den Trailer anschauen.
Hier mehr Infos zum Film
Der Film “Angela Merkel – Im Lauf der Zeit” läuft am 22. Februar um 20.15 Uhr auf Arte und am 27. Februar um 21.45 Uhr in der ARD. Zwei Tage vor der Ausstrahlung ist er bereits in den jeweiligen Mediatheken zu finden.
Liebe Jutta, warum soll man mit Leuten, die glauben, die Erde sei eine Scheibe, nicht über Reisen diskutieren können? Es fragt sich doch, wohin die Reise gehen soll. z .B. gab es schon seit sehr langer Zeit “Pilgerreisen” (und zwar zu Fuß) von – sagen wir – Passau nach Santiago de Compostela, bis zum Kap Finisterre (den “Ende der Welt”), also zu dem am weitesten “entfernten Ort” im Westen der Halbinsel Europas. (Auch in der Bretagne gibt es ein Finisterre!) Da war Schluss. Denn da begann das Meer und da wollte man sich wahrscheinlich nicht hineinwagen, um nicht von der Scheibe hinunterzufallen, da am Horizont, wo sie augenscheinlich ihr Rand war. So ist, wenn jemand nur zu Fuß gehen will (warum nicht?), dann da Schluss. Es sei denn dieser Mensch beschließt, sich z.B. auf einen Fußreise in die andere Richtung zu machen. Da kann er (oder sie) bis zu dem Punkt gehen, der heute Wladiwostok heißt. Bis dahin hat die Person immer noch nicht den Rand der Scheibe erreicht, und ist deshalb auch nicht von der Scheibe hinunter gefallen. Bis dahin hat sich der Horizont nur immer weiter in die Ferne verschoben.
Ich glaube, es könnte ein spannendes Abenteuer sein, das vielleicht Jahre dauern würde. (Wie lange brauchte Marco Polo bis China und zurück?) Wenn jemand allerdings lieber für 14 Tage an die Karibik fliegen will, ist es natürlich was ganz anderes. Mich persönlich hat schon immer die leider nie gemachte Pilgerreise mehr ins Träumen gebracht als ein Urlaub in der Karibik. Wahrscheinlich habe ich schon als Kind zu viel über Alexander von Humboldt und seine Forschungsreisen gelesen und bin immer noch von dem Märchen fasziniert, in dem die junge Frau gesagt bekommt: “Gehe, ich weiß nicht wohin und suche ich weiß nicht was!” Und sie macht sich auf den Weg, weil sie darauf vertraut, dass sie dann, wenn sie dort angekommen ist und das gefunden, die Aufgabe ihres Lebens gelöst hat. Und so ist es dann auch.
Aber eigentlich ging es hier ja um Angela Merkel und ihre Politik.
Ob sie gescheitert ist? Wenn sie das Ziel hatte, Mehrheiten zu organisieren, so hat sie es doch teilweise ganz gut hinbekommen. Sonst hätte sie keine 16 Jahre im Kanzleramt verbringen können. Es gibt ja die institutionelle Möglichkeit des Misstrauensvotums., wenn Wahlen nicht reichen, um jemanden aus dem Amt zu drängen. Damit ein Misstrauensvotum erfolgreich ist, braucht es eine Mehrheit. Die hat es in den 16 Jahren niemand gegen sie zu organisieren vermocht, also hatte sie eine Mehrheit zumindest passiv auf ihrer Seite. (Was ja die Umfragen belegen)
Ich habe sie nie gewählt, weil ich ganz andere Dinge gut gefunden hätte, als was sie verkörperte oder versprach. Aber das waren eben nicht ihre Ziele.
@Antje: was war ihr Ziel? Wie sah sie ihre Rolle? Hat sie sich nicht eher als Moderatorin gesehen, die “den Willen des Volkes”, das sie gewaehlt hat, umzusetzen? Also die Mehrheiten organisieren? Sie war bereit, ihre eigenen Ideen zurück zu stellen, weil sie eben – anscheinend in ihrer Vorstellung – nicht gewählt wurde, um ihren eigenen, persönlichen, individuellen Willen durchzusetzen, sondern das, was ihre Wähler:innen wollten. Wenn jemand, z.B. Elon Musk, ein bestimmtes Ziel hat (auf dem Mars eine Stadt zu gründen), dann benutzt er seine Macht, um das umzusetzen. Es ist ihm egal, was andere denken. Aber wenn Merkel sich eben als Repräsentantin – als Delegierte, als im Namen ihrer Wähler:innen Handelnde sah – dann hat sei versucht das umzusetzen, was eben diese Menschen wollten. Sie hätte vielleicht keine Menschen im Mittelmeer sterben lassen wollen. Aber da die Mehrheit es wollte, hat sie es eben zugelassen. Also ist sie als “Moderatorin” nicht gescheitert….
Liebe Antje,
dass Angela Merkel gescheitert ist, darin sind wir uns einig. Weniger allerdings darin, ob und wann sie “recht hatte” (bezogen auf z.B. die Flüchtlingspolitik oder zuletzt die Coronapolitik). Deshalb finde ich Deinen Satz: “Es reicht in der Politik (und vermutlich auch überall sonst) nicht, recht zu haben. Man muss Mehrheiten organisieren. Aber wie?” sehr nachdenkenswert, aber auch sehr bedenklich. Denn er setzt ja voraus, das eine sich ganz sicher ist damit: recht zu haben. Kann man das in politischen Fragen jemals sein? Denn Politik ist ja nicht die korrekte Analyse eines Ist-Zustandes (wo man “recht haben” kann und manches einfach nur Quatsch ist oder “Fake News”, wie man Neudeutsch sagt), sondern das Ringen darum, wie und ob der Ist-Zustand geändert werden soll. Und dabei kann man einfach nie wissen, ob man “recht hat”, finde ich. Weil alle unsere Handlungen, unsere Eingriffe ins “System”, immer auch ganz viele Folgen haben, die wir nicht voraussehen können, nicht nur, aber auch, weil immer ganz viele andere auch gleichzeitig handeln, manche in bester Absicht für ein “gutes Leben für alle” und manche ganz einfach in Wahrnehmung ihrer egoistischen Eigeninteressen. Und manchmal wirken sich die Handlungen der “Guten” gerade zum Schlechten aus, im Zusammenspiel mit allen anderen Handlungen, den vorhergesehenen und den unvorhersehbaren.
Ich weiß, dass ich recht habe damit, dass die Erde nicht flach ist und dass man dieses Faktum bei Reiseplanungen berücksichtigen muss. Aber welche Reise die beste wäre für mich und andere, das ist damit längst noch nicht klar. Man kann also über Reiseziele und -wege mit Menschen nicht sinnvoll diskutieren, die die Erde für eine Scheibe halten. Aber mit allen anderen muss man schon streiten und auch offen für die Erkenntnis sein, selbst nicht recht zu haben.
Gegenwärtig scheint mir ein wesentliches politisches Problem zu sein, dass ein ernsthafter Streit über Reiseziele und -wege auf der Grundlage von Fakten stets dadurch gestört und auch zerstört wird, dass Menschen mitreden dürfen und wollen und können, die die Erde für eine Scheibe halten. Das ist fatal – und macht das Scheitern der Politik fast unausweichlich.