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Das Innen und das Außen des Kapitalismus: strukturverwandte Ausbeutungsverhältnisse

Von Ina Praetorius

Es hat sich herumgesprochen: Die unbezahlte Care-Arbeit in Privathaushalten ist der größte Wirtschaftssektor, sie kommt aber kaum in der gängigen Wirtschaftswissenschaft vor, und auch nicht in den so genannten „volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen“. 

Viele Feministinnen haben zu diesem eigenartigen Missverhältnis zwischen bezahlter und unbezahlter Wertschöpfung schon in den 1980er Jahren Texte von Rosa Luxemburg, Adelheid Biesecker, Silvia Federici oder Maria Mies gelesen, sind mit Begriffen wie „Hausfrauisierung“, „(Re)Produktivität“ oder „Landnahme“ vertraut. Spätestens in der Corona-Pandemie, als man Home-Office und Home-Schooling umstandslos zusammenlegen zu können meinte, ist aber auch vielen anderen aufgefallen, dass die gängige Propaganda der „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ der Realität nicht standhält, weil sie die Hälfte der real existierenden notwendigen Arbeit bestenfalls bagatellisiert, meistens komplett ausblendet. 

Ursachenforschung

Was ist da los? Wer genau verursacht wodurch genau die Erschöpfung der mehrfachbelasteten Haushaltsarbeiter*innen? Hängt sie etwa ursächlich mit dem Elend abgeholzter Wälder und verarmter Peripherien zusammen? Wie ist es überhaupt zum vernunftwidrigen, ideologisch vielfach vernebelten Ausschluss außermarktlicher Wertschöpfung gekommen? Wer hat ihn wann, geleitet von welchen Interessen mit welchem Instrumentarium vollzogen? Welche Wege führen vom theoretischen Externalisieren zum praktischen Ausbeuten?

Und schließlich: Wie lässt sich die Dominanz einer so genannten „Wirtschaft“ auflösen, die einen großen Teil der menschlichen Arbeit und die gesamte Natur als „unproduktiv“ wahrnimmt, während sie gleichzeitig massiv von deren Produktivität profitiert, als vermeintlich in sich geschlossener Betrieb, der sich sehr wichtig nimmt, obwohl es ihm nicht um die Befriedigung der Bedürfnisse aller im verletzlichen Lebensraum Erde, sondern um die Profite weniger geht? 

Eine Theorie der Innen-Außen-Beziehungen der kapitalistischen Produktionsweise 

Die Umweltwissenschaftlerin und Nachhaltigkeitsökonomin Anna Saave wendet sich in ihrer Dissertation „Einverleiben und Externalisieren“ solchen Fragen zu.  Sie will den „Verwertungszusammenhang der Innen-Außen-Beziehung der kapitalistischen Produktionsweise“(5) besser verstehen, indem sie unterschiedliche Erklärungen „des Hineinholens…. Trennens und Auslagerns“ zunächst referiert, dann in einer „Theorie der Innen-Außen-Beziehung der kapitalistischen Produktionsweise“ zueinander in Beziehung setzt. Der Begriff der „Innen-Außen-Beziehung“ dient dabei als „Dialogangebot“(28), denn Dialog ist notwendig, wenn Bewegungen mit verwandten, aber vorerst unverbundenen Erklärungsansätzen und Terminologien sich zugunsten einer gesteigerten Handlungsfähigkeit für „das Projekt eines guten Lebens für alle“ miteinander verständigen wollen.

Im ersten Kapitel präsentiert und erläutert Saave ihre Forschungsfrage: Auf welche Art und Weise basiert die Akkumulation von Kapital auf der Innen-Außen-Beziehung der kapitalistischen Produktionsweise? (320). Im zweiten Kapitel entwickelt sie anhand der Überlegungen zur ursprünglichen Kapitalakkumulation bei Karl Marx und Rosa Luxemburg, des Bielefelder Subsistenzansatzes und zeitgenössischer, vor allem feministischer Erklärungsansätze einen zweigliedrigen Begriff  von „formaler“ und „räuberischer Einverleibung“ des Außen.  Um die umgekehrte Bewegung, die Mechanismen der Auslagerung von Kosten in marktferne Bereiche wie „reproduktive“ Sorgetätigkeiten in Privathaushalten, den globalen Süden, migrantische Communities oder Wälder geht es im dritten Kapitel.

Im vierten bis sechsten Kapitel untersucht Saave anhand von konkreten nicht- oder teilkapitalistischen Tätigkeiten, Naturprozessen, Schichten und Gesellschaften die Strukturen, Widerstandspotentiale und möglichen Zukünfte des Außen und dessen komplexe Beziehungen zum kapitalistisch organisierten Innen. Dabei wird deutlich, dass es sich bei diesem Außen nicht (mehr) um klar abgrenzbare Zonen oder gar entfernte Regionen handelt, sondern um vielfach mit kapitalistischen Produktionsweisen verwobene Dynamiken, die sich quer durch Individuen, Gesellschaften und Ökosysteme ziehen.

Im Schlusskapitel schließlich stellt sie die Konsequenzen zur Diskussion, die ihr analytischer Fokus auf die Innen-Außen-Beziehung der kapitalistischen Produktionsweise für Wissenschaft und Politik haben muss: „Mit dieser Arbeit wollte ich … der Sichtweise entgegentreten, dass das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital immer noch das kapitalistische Produktionsverhältnis darstellt, und darlegen, dass die Inanspruchnahme des Außen ein vergessener Hauptschauplatz der Akkumulation von Kapital ist, den es nun prominent auf die Bühne der ökonomischen Forschung (und einer vieldimensionalen Politik I.P.) zu bringen gilt.“ (340).

Ein wichtiger Beitrag für den notwendigen Paradigmenwechsel in Wissenschaft und Politik

Anna Saaves Buch ist keine leichte Lektüre. Da es aber sehr einleuchtend gegliedert und dadurch übersichtlich ist, lässt es sich auch auszugsweise lesen: als eine Art Nachschlagewerk für Leute etwa, die sich zunächst oder speziell für einzelne der dargestellten theoretischen Ansätze interessieren.

Für Menschen (aller Geschlechter!) hingegen, die sich informiert in den theoretisch und begrifflich oft noch diffus-unorganisierten sozio-ökologischen Bewegungen für ein gutes globales Zusammenleben im verletzlichen Lebensraum Erde bewegen wollen, ist es ein Muss, die in diesem Buch vollzogene Anstrengung des Begriffs und der ordnenden Zusammenschau zur Kenntnis zu nehmen. Die immer noch weit verbreitete Auffassung, Sozial- und Umweltpolitik seien getrennte Bereiche, die einander allenfalls über die Organisation der „Sozialverträglichkeit“ ökologischer Transformationsprozesse berühren, wird nach der Lektüre dieses Buches niemand mehr vertreten wollen. 

Anna Saave, Einverleiben und Externalisieren. Zur Innen-Außen-Beziehung der kapitalistischen Produktionsweise, Bielefeld (transcript) 2022

Autorin: Ina Praetorius
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 09.02.2022
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Esther Gisler Fischer sagt:

    Danke Ina für deine mutmachende Rezension, die mich das Buch gleich auf die Liste für meinen Weiterbildungsurlaub setzen lässt.

  • Anne Lehnert sagt:

    Vielen Dank, liebe Ina! Das Buch und deine Erläuterung seiner Relevanz für aktuelle ökonomische und politische Debatten und ein notwendiges Zusammendenken sozialer und ökologischer Transformationsprozesse passen gerade gut zu dem Unbehagen, das ich habe, wenn bei meiner neuen Disziplin, der Sozialen Arbeit, von Klima und Nachhaltigkeit die Rede ist, oder auch von Gerechtigkeit. Ich merke mir das und hoffe, ich finde mal Zeit und Muße für diese Anstrengung des Begriffs.

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