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Rubrik denken

Von der Interpretation der Natur zum Expressiven

Von Dorothee Markert

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Im ersten Kapitel hat Chiara Zamboni gezeigt, wie die Sprache von Geschehen zu Geschehen wandert, wenn sie von den Dingen der Welt im Einklang mit der Bewegung ihres Sich-Entschleierns und Sich–Entfaltens spricht. Von der italienischen Schriftstellerin Anna Maria Ortese, die von 1914 bis 1998 lebte, übernimmt Zamboni für diese Art des Schreibens den Begriff des Expressiven. Dieser Begriff stand im Mittelpunkt von Orteses lebenslangem Nachdenken und Schreiben über die Natur.

Bevor Chiara Zamboni sich dem Denken und Schreiben Orteses zuwendet, erklärt sie vorweg einiges, das wir verstehen müssen, um mit dem Begriff des Expressiven etwas anfangen zu können:

„Wir wissen, dass Natur ein Konzept ist, das dem des Seins sehr nahe kommt, auch wenn es nicht mit ihm zusammenfällt. Die Natur ist das Sein in seinem hervorbringenden Aspekt, als natura naturans – gesehen in seinem unendlichen Sich-Entfalten – im Unterschied zur natura naturata, die als etwas Fertiges und Abgeschlossenes betrachtet wird. (Wie beispielsweise in der Vorstellung einer Schöpfung, die es zu bewahren gilt, DM). Natur ist also ein Prozess des Hervorbringens, des Werdens. […] 

Wenn wir die Natur expressiv zum Ausdruck bringen, nehmen wir teil an jenem Prozess und begleiten sie im Aufblühen ihrer vielfältigen Formen. Wir sind dann auf einem radikal anderen Weg als das interpretative Paradigma, das sich nicht bewusst macht, dass das Subjekt ein Teil des Kontextes ist, von dem es spricht. Es ist nicht nur ein Teil davon, sondern wird auch von ihm beeinflusst und übt seinerseits einen Einfluss auf ihn aus.

Um das Expressive zu verstehen, müssen wir uns klarmachen, dass unser Leben sich in einem Feld von Beziehungen vollzieht. Das gilt von Anfang an, da wir in eine grundlegende Beziehung mit der Mutter hineingeboren werden. Jenes Feld von Beziehungen ist ein großenteils unbewusstes Gewebe, das uns ausmacht und das wir wiederum beeinflussen, auch ohne es zu wollen. Wir können darüber sprechen, wissen aber, dass das, was wir darüber sagen, nicht objektiviert werden kann, einfach deshalb, weil wir ein Teil davon und nur ein einzelner Knoten des Beziehungsgeflechts sind. Und außerdem müssen wir in Betracht ziehen, dass die Beziehungen, in die wir eingewoben sind, ihrerseits ebenfalls kreativ sind und sich verändern. Deshalb haben sie unvorhergesehene Auswirkungen auf uns“ (S. 37).  

Eine Theorie des Expressiven berücksichtigt die komplexe Erfahrung, die wir mit den Dingen haben, und verändert dadurch unsere symbolische Position, wenn wir das Wort ergreifen. Das beinhaltet einen Paradigmenwechsel von einem beschreibenden Blick auf die Welt, also von der Interpretation von „Tatsachen“, zu einer Sichtweise, die das zum Ausdruck bringt, was hervorsticht, wenn wir dem nachgehen, wie die Dinge sich zeigen. Und das führt nicht nur zu einem veränderten Bewusstsein, sondern zu einer existentiellen Revolution der Lebensweise. Diese radikale Veränderung geht daraus hervor, dass wir die Welt nun in Beziehungen und von innen heraus wahrnehmen und begleiten.

Der Weg des Expressiven führt folglich zu einer neuen Praxis des Denkens: Anstatt die Zeichen der Natur zu interpretieren, werden wir jetzt die Bindungen an sie leben als etwas, das uns im Innersten angeht. Sprachlich entfernen wir uns damit von den bisher dominierenden interpretativen Konzepten.

Chiara Zamboni zeigt nun, wie Anna Maria Orteses Roman Il porto di Toledo mitten hinein führt in die existentiellen Fragen ihres Lebens als Schriftstellerin, das voller Unruhe und Ungeduld war. Sie begann als junge Frau zu schreiben, nach dem Tod ihres Lieblingsbruders, und erlebte das als Trost, nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre trauernde Mutter. Ihr Bild der Welt weitete sich in dieser Zeit zu der Vorstellung, die Realität sei ein unaufhaltsamer Fluss von Formen, die im Werden sind. Ein Geschehen folge auf das nächste. Im Laufe der Zeit werde eine lebendige Form geboren und dann sterbe sie, darauf folgten andere, die ebenso im Werden und Vergehen seien, wie Wellen, die aufeinander folgen. Nur das Schreiben könne diesen steten Fluss anhalten und als Anker dienen. In dieser ersten Phase ihres Lebens und Schreibens erlebt sie das Expressive als Rettung, als etwas, das die Menschen vor der alles mit sich reißenden Welle der Natur bewahren kann, vor ihrer Energie. Die Form und die Kontrolle der Schrift dienen als Barriere und Schutz vor einer sich ständig in Bewegung befindenden, beängstigenden Realität, die von Anna Maria Ortese in dieser Zeit ihres Lebens abgewehrt wird. Getragen von einer tiefen Liebe zu ihrer Mutter und anderen Menschen schreibt sie Texte, die immer märchenähnlicher werden, in denen sich Wind, Meer und Licht zu mythischen Figuren verfestigen, zusammen mit Prinzen und Feen. Sie sollen als Schutzschild gegenüber dem Schmerz des Lebens dienen. 

Doch dann kommt es zu einer richtiggehenden Kehrtwendung, über deren Hintergründe wir nichts wissen. Das Expressive bekommt eine andere Qualität. Es dient jetzt nicht mehr als Verteidigung gegen das Reale und steht ihm nicht mehr feindlich gegenüber, obwohl die Realität keineswegs besser ist als vorher. Doch jetzt akzeptiert Ortese, dass das Leben ein Abgrund ist und Angst macht, ohne dass sie den Blick davon abwendet. Sie hört dem Leben zu und heißt es in seinem Helldunkel willkommen. Es ist, als könne sie nun mit seinen Schreckensbildern und zweideutigen Wesenheiten leben und sie betrachten, ohne Horror zu empfinden. Geändert hat sich, dass eine demütige Liebe gegenüber dem Leben und der ganzen Erde jetzt immer mehr in ihr präsent ist. Aus dem Inneren dieser Liebe heraus wird es möglich, eine Freundin des Lebendigen zu werden und es zu beschützen. Dies verändert auch das Expressive dahingehend, dass es sich von seiner formalen Enge befreit.

Die Unendlichkeit der Dinge wird jetzt akzeptiert. Sie macht keine Angst mehr. Denn Ortese sieht die Welt nun als Himmelskörper und alle Dinge innerhalb und außerhalb der Welt als etwas, das aus himmlischer Materie besteht, „und sowohl ihre Natur als auch ihr Sinn und ihr sanftes Strahlen sind unerforschlich“ (Anna Maria Ortese, Il porto di Toledo, S. 58/59, zit. n. Chiara Zamboni, S. 43; Ü DM). 

Die Praxis des Schreibens nimmt eine neue Bedeutung an. Das Expressive bedeutet nun, jenes Licht der Dinge wiederzugeben, das aus den Dingen selbst strahlt. Dafür reichen die üblichen Namen für die Dinge, die zweifellos in ihrem allgemeinen Gebrauch in Ordnung sind, nicht aus. Denn sie genügen nicht, um jenes Strahlen wiederzugeben, das die Dinge in sich bewahren. Das führt zu einer fieberhaften Suche nach anderen Namen für die Dinge, „ohne Kampfpause“, wie Anna Maria Ortese schreibt (Ortese, Corpo celeste, S. 115, zit. n. Zamboni, S. 43). Das Expressive bedeutet, mit Hilfe der Sprache in etwas hineinhören zu wollen, das die Sprache letztlich nicht in ihrem Innersten erfassen kann. Ortese gibt die Namen der Dinge nicht zugunsten der Dinge auf, mit denen sie in Kontakt kommt. Sondern sie vervielfacht die Namen, ohne dass einer davon der endgültige wird. Die Vervielfachung der Namen für eine einzige Sache führt jedoch auch nicht dazu, dass sie das Vertrauen in die Verbindung zwischen Worten und Dingen verliert und dadurch in Relativismus und Nihilismus abgleitet. Vielmehr steht jene Vervielfachung im Einklang mit der Öffnung, die aus dem Spüren der Fremdheit der Natur und ihrem Wunderbaren kommt. Ihr himmlisches Sein ist unerforschlich, und alle Wesen haben daran Anteil, auch wir Menschen bestehen aus Sternen-Materie.

Ausgehend von diesen Gedanken erklärt Chiara Zamboni den Unterschied zwischen Realem und Realität auf neue Weise: Die Realität ist „das, was sich verifizieren und falsifizieren lässt und mit den Fakten zu tun hat. Das Reale muss dagegen in Beziehung zu jenem unerforschlichen himmlischen Körper gesehen werden, der uns und die Dinge in seine Bewegung einbezieht, in seinen Sternenwind, in seine kosmische Materie“ (Zamboni, S. 45). Das Werden der Dinge im Einklang mit der Bewegung des Himmelskörpers führt dazu, dass ein Name für eine Sache wahr ist, aber auch ein anderer, und noch einer und noch weitere, weil die Dinge sich verändern und in ihrem Werden immer wieder neue Aspekte zeigen. Die Namen verändern und vervielfachen sich zusammen mit der unendlichen und unerforschlichen Bewegung des Kosmos. Die unermüdliche Suche nach Worten ist Sauerteig für das Schreiben. 

In philosophischen Texten (von Männern DM) wird oft die Gefahr gesehen, dass die Vielfältigkeit von Impulsen in der Welt, wenn sie nicht zu einer Synthese zusammengeführt werden, zu einer Auflösung des Ich führen könnte. Hier, in diesem Kontext weiblichen Denkens, koppelt sich jene Vielfältigkeit an ein Ich an, das sich nicht als Identität versteht, als festgefügt und immer gleich. Es lässt sich von den Stürmen der Erfahrung durchqueren, die es zu einem Subjekt formen, das in seinem Spüren beweglich wird. Für Chiara Zamboni zeigt sich hier eine weibliche Differenz. Auch unter dem Ansturm des Vielfältigen kann „ich“ gesagt werden, wobei jegliche Festlegung und Repräsentation des Ich fallengelassen wird. Hier gibt es nicht mehr die eine Form, sondern unbewusste Beziehungen mit dem Kontext, mit dem Beziehungsfeld. Dabei zeigt sich eine Öffnung weiblichen Denkens gegenüber der Passivität, die wir als Bereitschaft verstehen können, sich von Impulsen durchqueren zu lassen, ohne Angst davor zu haben und ohne sie regulieren und ordnen zu müssen. Chiara Zamboni spricht hier von einem besonderen Realismus, der das Triebhafte und Fantastische als Humus der Erfahrung annimmt. Ein solcher „traumhafter Realismus“ lasse sich in vielen philosophischen und literarischen weiblichen Texten wiederfinden. 

Chiara Zamboni fragt sich nun, woher das Vertrauen kommt, dass das Expressive zu einer Brücke werden kann, um die Erfahrung der Natur zulassen zu können. Die Antwort darauf hat mit Liebe zu tun. Anna Maria Ortese erfindet die Denkfigur „amor mundi“ neu, die Liebe zur Welt, die es ermöglicht, die Welt zu spüren mit dem ganzen Selbst. Es gibt eine ganze Reihe weiblicher Denkerinnen im 20. Jahrhundert, die dieses Konzept wieder aufleben lassen, dazu gehören außer Anna Maria Ortese auch Simone Weil, Hannah Arendt und María Zambrano. Es geht um eine Liebe zur Welt in all ihren Formen, zu all ihrer Kreatur, auch zu ihrer unsichtbaren Seite. Die Welt mit dem ganzen Selbst zu lieben, ist keine objektivierbare Tatsache, sondern eine symbolische Position, die tiefgehend verändert, wie wir die Welt erfahren.

In ihrem Buch Corpo celeste schreibt Anna Maria Ortese: 

„Mit Mitgefühl und Liebe unter den anderen leben. Mit diesen anderen meinte ich die Erde selbst, die Natur, die ich grausam gequält und verletzt sah, und die eigene menschliche Natur – den Körper – ebenfalls gepeinigt und verwundet. Ich wollte, ich fühlte, dass ich da sein sollte, um zu einer Erlösung zu werden für diese beiden Arten von Natur: die der Welt und die der menschlichen Familie“ (Ortese, Corpo celeste S. 39-40, zit. n. Zamboni S. 47, Ü DM).

Chiara Zamboni unterstreicht hier, wie wichtig es ist, dass die Liebe zur Welt und allen Lebewesen zusammen mit der Liebe zu den Menschen genannt wird, „zu der Art, der anzugehören uns widerfahren ist“ (Zamboni, S.47). Das sei wichtig, da die Gefahr bestehe, dass die Liebe zur Erde und allen Lebewesen die Liebe zu den Menschen in den Hintergrund treten lasse. Ortese leidet unter den Verletzungen auf beiden Seiten, obwohl sie sich der Komplexität der menschlichen Seele durchaus bewusst ist und auch der zerstörerischen Kraft, die sie hervorbringen kann. 

Was also versteht Anna Maria Ortese unter Liebe? Sie sei nicht real im Sinne des üblichen Realitätsbegriffs, sondern „nur Schmerz und Glanz im Vorbewussten, nur ein Phänomen von majestätischen, verborgenen Gleichgewichtszuständen“ (Ortese, Corpo celeste S. 89, zit. n. Zamboni, S.48). Liebe sei weder das Gefühl eines Subjekts, das lieben könne, noch die Liebe zu einem Objekt.

Chiara Zamboni unterscheidet zwei Richtungen im Denken Orteses über die Liebe zur Natur. Sie sind miteinander verschränkt und verstärken sich gegenseitig. Die eine erinnert an die christliche Agape, doch ohne theologische Implikationen, und meint die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Körper, hier ist es der Himmelskörper. Diese Liebe ist verbunden mit einem schmerzlichen Vorgefühl für alles Existierende und ist gleichzeitig voller Verwunderung und Staunen. Ortese spricht davon, sich mit den niedrigsten und den strahlendsten Wesen geschwisterlich verbunden zu fühlen, weil wir das Leben miteinander verbringen. Wir haben alle teil an der Erde, an diesem Himmelskörper, der wiederum Teil einer Galaxie ist, die sich von anderen unendlichen Galaxien entfernt. Wenn wir die Erde als Himmelskörper spüren und uns als ihr zugehörig, führt das dazu, dass wir uns als Schwestern und Brüder aller Kreaturen fühlen. Daraus folgt eine Sensibilität für deren Leiden und für Zustände, die dazu führen, dass ihnen Unrecht geschieht. Eine solche Haltung wird nicht durch Erziehung aufgrund moralischer Werte oder anderer Ideale erworben, sondern sie bildet sich „aus der Erfahrung der Stille der Nacht und des Lichts des Herzens“ (Zamboni, S. 49). An der Stille der Welt teilzuhaben, ermöglicht eine Öffnung für die innere Stille, und jene Teilhabe wird umgekehrt auch durch diese innere Stille möglich. Sie verweisen aufeinander. Es geht um eine Art zu sein, die durch eine Erfahrung äußerer und innerer Stille bewirkt wird. Und das ist etwas ganz anderes als ethische und politische Werte.

Die zweite Richtung versteht Liebe als die Fähigkeit, in Einklang mit dem Logos zu kommen, mit der tiefen Vernunft des Kosmos, mit einer Ordnung, die der Welt eine Richtung gibt. Es ist eine unsichtbare Ordnung, die die Vernunft nur erkennen kann, wenn sie darauf verzichtet, sie in einem Faktenwissen darlegen zu wollen, wie die Intelligenz das tut. Wenn wir voller Schmerz am Glanz der Welt teilhaben, spüren wir darin ein Gesetz, eine Vernunft – María Zambrano würde es Logos nennen –, die das Gewebe der Welt und ihr Geheimnis ist. Das geschieht beispielsweise, wenn wir uns in Einklang mit dem Wind begeben und dabei spüren, dass er einen geheimen Sinn hat, der nur angedeutet ist, der also gleichzeitig präsent und unsichtbar ist. Dann zeigt es sich, dass das ganze Universum eine Ordnung hat, die nur in Andeutungen aufscheint. Nur die von der Liebe geleitete Vernunft kann uns der geheimen Ordnung des Kosmos näher bringen. 

Für Ortese ist die Ordnung der Natur eine kosmische und gleichzeitig eine existenzielle Orientierung. Spuren davon finden wir mithilfe der Vernunft und gleichzeitig spüren wir sie mit unserem ganzen Körper. Jene Orientierung gehört zum Universum und ist unerforschbar, trotzdem können wir sie erfassen, indem wir von uns selbst ausgehen. Den Kosmos zu spüren hat insofern mit dem Dasein selbst zu tun. 

Dass das Spüren des Universums für Ortese schmerzlich ist, erklärt Chiara Zamboni damit, dass es über unsere Fähigkeit intellektuellen Verstehens hinausgeht, da es sich auf eine nicht darstellbare Unendlichkeit bezieht. Vielleicht kommt der Schmerz auch daher, dass das Geheimnis des Kosmos uns zu dem Eingeständnis bringt, dass es noch anderes gibt, das für uns unerreichbar ist.

Anna Maria Ortese sieht im Traum und im Schlaf den Raum, in dem wir das Gewebe des Lebens und der Welt erkennen können. Dagegen ist das Wachsein der Raum, in dem die Wesen sich voneinander trennen, die der Intellekt als Individuen sieht. Nur der Traum kann der Vernunft helfen, die Verbindungen zwischen ihnen zu erfassen. 

Philosophisch interessant sei es, meint Chiara Zamboni, dass für Anna Maria Ortese der Mensch nicht im Zentrum des Kosmos steht, aber ebenso wenig an seiner Peripherie. Denn jede einzelne Kreatur ist ja durch Beziehungen mit den anderen verbunden und dadurch gleichzeitig Mittelpunkt und Verknüpfung mit anderen. Doch nur im traumhaften Spüren bemerken Menschen jene Gemeinsamkeit. Im Wachzustand, am Tag, sind sie allein. In der nächtlichen passiven Sensibilität sind sie viele. Es genügt, an die eigenen Träume zu denken, um zu sehen, wie die Figuren sich darin vervielfachen und uns einbeziehen in ihr Hinübergleiten von einer zur anderen. 

Hier wird klar, warum Ortese sagt, schreiben sei wie träumen. Es ist eine nicht-öffentliche Praxis, die nicht zum Tag gehört, zur völligen Sichtbarkeit. Sie gehört zur Nacht. Und es geht dabei um ein Spüren in Verbindung mit der Erde und denen, die sie bewohnen. Ein solches Spüren kann im Wachsein – im Sinne eines Identisch-Seins mit sich selbst und mit klaren Abgrenzungen zu den Dingen und den anderen Menschen – nicht gelingen. Um mit ihrem ganzen Selbst zu wissen, dass der Traum im Wachsein präsent ist, ist es für Ortese notwendig, sich von der analytischen Haltung zu entfernen und in eine Vision mit offenen Augen einzutauchen. Das Schreiben ist eine der privilegierten Praktiken, um in die Nähe solcher Visionen zu kommen. Für Ortese ist es die einzige. Und nur dann, in einem solchen Raum, befragt uns die Natur ständig. Ortese nennt die Natur hier „Tochter der Vernunft“ und meint laut Chiara Zamboni damit eine Ordnung, die es zu entdecken gilt. Wir fühlen uns in jenem Raum in Frage gestellt, etwas Wesentliches wird uns abverlangt.

Chiara Zamboni stellt eine Figur in diesen Raum, die für sie ein Symbol für das Denken Anna Maria Orteses ist: Es ist Orteses Begegnung mit der „kleinen Eidechse der Levante“, oder genauer, mit dem Blick jenes kleinen Tieres, der ihrem Blick begegnet, als sie aus dem Fenster eines Ladens schaut. Die Eidechse hebt den Kopf und schaut sie an. Anna Maria Ortese schreibt:

„Die Natur befragt uns ständig.[…] Wer noch nie in die Augen eines Sohns oder einer Tochter der Natur geschaut hat, hat noch nie etwas Väterliches oder Mütterliches gesehen; hat noch nie etwas Göttliches gesehen – im Sinne von Wohlwollen und Frieden – […]. Mir hilft die Erinnerung an die kleine Eidechse der Levante an einem kalten Dezemberabend hinter einem dunklen Schaufenster. Ja, sie schaute mich an, mich! Sie hob die Augen über jene traurige Distanz hinweg. Ich denke immer daran, dorthin zurückzukehren, das Gesicht an das dunkle Fenster zu lehnen und mit ihr zu sprechen. Dort ist meine Heimat“ (Ortese, Corpo celeste S. 157/158, zit. n. Zamboni S. 52/53, Ü DM). 

Ein letzter Punkt aus dem Denken Anna Maria Orteses ist Chiara Zamboni besonders wichtig, die Spannung zwischen ihrer Liebe zur Natur und ihrer radikalen Kritik an der Kategorie des „Natürlichen“, am „Naturalismus“, an einer sprachlosen, blinden Unmittelbarkeit, bezogen auf die Natur. Was Ortese darüber schreibt, sieht Zamboni als hilfreichen Leitgedanken „beim Nachdenken über die Verschränkungen zwischen Natur, Kultur, Naturwissenschaft, Technologie, Unterschiede der Arten und körperliche Animalität“ (S. 54/55). Schon in ihrem 1953 erschienenen Buch Il mare non bagna Napoli (deutsch: Neapel liegt nicht am Meer, Berlin 2019) übt Ortese harsche Kritik am „Natürlichen“, das für sie Symbol einer schlechten Kultur ist, die die herrschenden Klassen des Südens einsetzen, um die unteren Klassen, das „Volk“, klein zu halten. Sie erheben laut Ortese jene „nicht existierende Kategorie des Natürlichen zu einem Lebensmodell“ (Ortese ebd., zit. n. Zamboni, S. 55). Auch noch in ihren letzten Texten, in denen sich Ortese so sehr gegenüber der Natur öffnete, äußert sie die Sorge, man könne die Natur zum Ausgangspunkt für ein selbstgenügsames, unmittelbares Leben machen (eine Art Leben aus dem Bauch heraus, DM), das ohne Kontakt zur menschlichen Vernunft bleibt. 

In den vorherigen Abschnitten haben wir gesehen, wie die Liebe zur Natur zu einer Brücke werden kann, einer Vermittlerin zwischen den Dingen und ihren Namen, und wie sie indirekt auch mit der Vernunft zusammenhängt. Dagegen führt die falsche Unmittelbarkeit des Naturalismus – sich, angeblich zugunsten der Natur, von der Sprache und der Kultur zu trennen – dazu, auf den Reichtum der Namen zu verzichten. Die Folge ist eine Verarmung der Sprache, eine Verelendung der Worte. 

Dies sei ein sehr wichtiges philosophisches Thema, schreibt Chiara Zamboni. Der Naturalismus sei in gewissem Sinne eine spiegelbildliche Entsprechung zum Intellektualismus. Für Ortese ist es der menschliche Intellekt, der aus großem Neid gegenüber der Leben hervorbringenden Fähigkeit der Natur heraus selbst Gegenstände produziert und sich die Fähigkeit, Leben zu geben, aneignen will. Ein für den reinen Intellekt funktionales Leben, das manipulierbar ist und nur als objektiv-biologisch wahrgenommen wird, das möglicherweise künstlich reproduziert werden kann, indem seine Mechanismen nachgeahmt werden, kann mit einer Bindung an die Vernunft und die Kultur nichts anfangen. Im Zentrum eines solchen Denkens, in dem die Welt als erklärt gilt, also als unmittelbar sowie wissenschaftlich und objektiv bekannt, finden wir die Geschichte der Menschheit als Herrschaft über die Natur mittels der Intelligenz. Wenn die Natur aber als unerforschlich und nicht als objektive Unmittelbarkeit gedacht wird, dann beschäftigt sie uns, beunruhigt uns und befragt uns. Nur dann treten Menschen wieder in eine kosmologische Vision ein, und die Kultur mit ihrer Fähigkeit, der Vernunft Raum zu geben und auf die Fragen zu antworten, die die Natur an uns richtet, bekommt zentrale Bedeutung.

Ortese schreibt: „Auch der Mensch muss neu gedacht werden, sonst verliert er sich in der Natur und gleitet ins Irreale ab“ (Ortese, Corpo celeste, S. 100, zit. n. Zamboni, S. 57, Ü DM). Das Reale, Natur und Mensch, braucht jene mit dem Spüren verbundene Vernunft, die fähig ist, mit dem Unerforschlichen in Beziehung zu bleiben und es als solches aufrechtzuerhalten. 

Der Mensch wird irreal, wenn er sich im „Natürlichen“ selbst verleugnet, wenn die Natur als großes unpersönliches Lebendiges verstanden wird, das die subjektive Geschichte auslöscht, die wir mit ihr haben. Irreal wird der Mensch ebenfalls, wenn er sich ausschließlich auf die Intelligenz verlässt, die das Leben zu etwas Objektivem macht und dabei die Wurzeln der Verbindungen mit dem Kosmos abschneidet, dessen Unergründlichkeit wir nur ausloten können, wenn wir uns der Vernunft anvertrauen. Insofern ist der Naturalismus ­– sich unmittelbar und ausschließlich dem biologischen Leben anzuvertrauen – komplementär zur technologischen Intelligenz.

Besonders bedeutsam ist in diesem Zusammenhang Orteses Beharren darauf, dass die Liebe zur Natur eine Brücke für die geduldige Arbeit der Kultur sei, die den Kosmos mit dem menschlichen Sein verbindet. In anderen Worten heißt das: Wir müssen paradoxerweise die Sprache pflegen, wenn wir die Natur lieben. Und umgekehrt. Wenn wir von Ökologie sprechen, sollten wir also nicht nur an die Bäume und die Luft denken, sondern auch an die Worte. Eine verarmte Sprache bewirkt, dass das Gefühl für die Dinge und ihre Namen verlorengeht. Dann gleiten wir ins Irreale ab. Und deshalb steigert die Praxis des Schreibens das Gefühl für die Realität der Erde. Wenn wir es nur genießen, mit den Dingen zu sein, und eine völlig beliebige Sprache benutzen, werden die Dinge dagegen undurchsichtig und grau. 

Chiara Zamboni, Sentire e scrivere la natura. Mimesis Edizioni (Milano – Udine) 2020, 217 S., 20 €

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Autorin: Dorothee Markert
Redakteurin: Dorothee Markert
Eingestellt am: 31.01.2022
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Anne Newball Duke sagt:

    Wunderschön. Ich mag die Stelle sehr, wo sie schreibt, dass eine Sensibilität für das Leiden aller Kreaturen “nicht durch Erziehung aufgrund moralischer Werte oder anderer Ideale erworben wird”, sondern sich eben aus der Liebe zur Welt und allen Lebewesen ergibt, “aus der Erfahrung der Stille der Nacht und des Lichts des Herzens”. Ich denke ja schon lange daran rum, wie ich verdeutlichen kann, dass ich nicht an Moral appelliere, wenn ich schreibe, aber ich sehe jetzt auch hier bei Zamboni und Ortese, wieviel Arbeit dahinter steckt, das verständlich zu machen, und ich geh gerade nicht mehr so hart mit mir ins Gericht. Ich fühle mir gerade geholfen.
    Ich mag auch ihre subtile Wissenschaftskritik, wenn sie über die “spiegelbildlichen Entsprechungen” Naturalismus und Intellektualismus schreibt. Und natürlich über ihr Angebot, einen anderen Weg zu gehen, die “Tochter der Vernunft” kennenzulernen, eine neue “symbolische Position” einzunehmen, und ich mag die Idee sehr, im Kontext des weiblichen Denkens die Vielfältigkeit von Impulsen der Welt an ein Ich zu koppeln. Auch den Abschnitt zu den Träumen… Nichts ist mir komplett fremd, aber so schöne Begriffe und neue Formen des Sehens, so viel liebevolle Arbeit an der Sprache hier, dass es mich ganz erfüllt und glücklich macht. Vor allem auch die schöne, eigentlich doch gar nicht paradoxe Erkenntnis am Ende, dass wir die Sprache pflegen müssen, wenn wir die Natur lieben. Wunderwunderschön.
    Und so schön auch, Anna Maria Ortese nun kennengelernt zu haben.
    Was für ein Gewinn, danke, liebe Dorothee <3

  • Dorothee Markert sagt:

    Danke auch dir, liebe Anne, für diesen wunderschönen Kommentar. Der nimmt mir die Zweifel, die mich die letzten Tage geplagt haben, ob das, was ich da mache, wirklich sinnvoll und hilfreich ist in der gegenwärtigen Situation.

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