Forum für Philosophie und Politik
Von Dorothee Markert
Im Urlaub lernte ich eine sympathische junge Sängerin und Liedermacherin kennen (mit dem Künstlerinnennamen Phela) und hörte dann über das Internet einige ihrer Lieder. Das Lied mit dem Titel Mama hat mich besonders berührt und zum Nachdenken gebracht. Denn spontan dachte ich: „Hier geht es um weibliche Autorität“. Und ich merkte, dass ich durch dieses Lied etwas begriff, das mir helfen könnte, den Wust aus zugeschriebener und oft verklärter Mutterrolle, biologischen und kulturellen Aspekten von Schwangerschaft und Geburt, unterschiedlichen Aspekten von Mutterliebe und weiblicher Autorität etwas mehr zu entwirren.
Zu Beginn des Lieds schreibt Phela über ihre Unsicherheiten, Schwächen, Unvollkommenheiten und Ängste und darüber, dass sie oft stärker wirkt, als sie ist. Und dann kommt der Refrain, in dem sie immer wieder ihre Entscheidung bekräftigt, dass sie für ihr Kind über sich hinauswachsen möchte:
„Für dich will ich so stark sein,
Stärker als ich bin.
Und sollt’ ich scheitern
Darfst du mich dran erinnern,
Dass ich deine Mama, dass ich deine Mama bin.“
In dem Wort „Mama“ schwingt für mich das ungeheure Vertrauen mit, das ein Kind seiner Mutter entgegenbringt, (falls sie eine ausreichend gute Mutter ist, d.h., dass sie ihr Kind nicht vernachlässigt, misshandelt oder so sehr ablehnt, dass sie jegliche Nähe mit ihm vermeidet). Ein Vertrauen, das mich manchmal traurig gemacht hat, wenn ich ein kleines Kind trösten wollte, und es mich von sich stieß, weil nur seine Mama das konnte. Ein Vertrauen, das bei einigen Menschen im Sterbeprozess nochmals sichtbar wird, wenn Menschen nach ihrer Mutter rufen oder von ihr geholt werden wollen.
Dieses vorbehaltlose Vertrauen macht es möglich, dass ein Kind in der Beziehung zur Mutter all das lernen kann, was notwendig ist, damit es in die Gemeinschaft der Menschen hineinwachsen kann, vor allem die Sprache gleichzeitig mit der Entwicklung von Beziehungen zu den Dingen und zu anderen Menschen.
Doch jenes grenzenlose Vertrauen ist nur die eine Seite der mütterlichen Autorität, das Kind spricht seiner Mutter damit Autorität zu. Es bedarf einer Entscheidung auf Seiten der Mutter wie im obigen Refrain, dass sie die ihr zugeschriebene Autorität auch annehmen und selbst ausfüllen will. Und zwar auch dann, wenn sie sich eigentlich gar nicht stark genug dafür fühlt.
In den weiteren Strophen des Lieds vermittelt die Sängerin, was sie dazu befähigt, diese Herausforderung anzunehmen und sich zu entscheiden, für das Kind Autorität zu sein und sich immer wieder neu durch das ihr vom Kind entgegengebrachte Vertrauen an ihre Entscheidung erinnern zu lassen:
„Nächtelang schau ich dir heimlich zu
Pass auf, dass dir nicht kalt ist
Und du zugedeckt bist.
Stundenlang schau ich dich
Heimlich an
Und frage mich,
Wie man so schön atmen kann.“
Da ist das Staunen, die Freude an der Schönheit und Zartheit dieses kleinen Wesens, das Berührtsein von seiner Hilflosigkeit und Abhängigkeit und gleichzeitig der Wunsch, ihm nah zu sein, es zu beschützen und zu versorgen, all das sind Aspekte von Mutterliebe bzw. von Liebe überhaupt. Auf andere Aspekte weist Luisa Muraro in ihrem Buch Vom Glück, eine Frau zu sein in folgender Textpassage hin: „Wenn ich sage, (Frauen seien) ein Glück für die Menschheit, denke ich dabei weniger an die einfache Fortpflanzung, also dass wir alle von einer Frau geboren werden; […] Ich denke vielmehr an die wirklich exquisite Art und Weise, wie Frauen, die Mütter werden – abgesehen von unglücklichen Fällen – ihre Geschöpfe austragen und zur Welt bringen: mit Gedanken, Zukunftsplänen, Träumen, und dann mit Küssen, Umarmungen, Kleidchen, Mützchen, zärtlichen Worten, Wiegenliedern … Und noch mehr denke ich an den Rest, ich meine all das, was nicht Fortpflanzung ist. Und das ist so viel! (Muraro 2019, S. 13/14). Im Musikvideo zu Phelas Lied wird dies sehr schön illustriert, vor allem auch mit vielen Mutter-Tochter-Paaren, „dem kleinen Mädchen an der Hand seiner Mutter“, das ja in Muraros Buch ebenfalls eine große Rolle spielt.
Auch wenn ich kein Kind zur Welt gebracht habe, kenne ich die Erfahrung, dass mir jemand in irgendeiner Sache großes Vertrauen entgegenbringt und dass mich das so sehr berührt, dass ich über mich hinauswachse, um die Autorität zu werden, die mir von der anderen Person zugesprochen wird. Ohne Liebe zu dieser Person und zu der Sache, um die es geht, ist mir das aber nicht möglich. Die Frauen des Mailänder Frauenbuchladens haben dafür einmal den Begriff „affidamento“ gefunden, doch dieser betont nur die eine Seite, das Sich-Anvertrauen, während der Begriff „weibliche Autorität“ eher die andere Seite betont. Dass beides nicht ohne Liebe möglich ist, war für mich bisher noch nicht so klar.
Damit Frauen über sich hinauswachsen und zu einem Glück für die Menschheit werden, als Mütter oder auf irgendeine andere Weise, müssen also drei Dinge zusammenkommen: Auf der einen Seite Vertrauen, auf der anderen die Entscheidung, die zugesprochene Autorität anzunehmen und auszufüllen, und beides muss getragen sein durch die Liebe.
Doch Liebe ereignet sich, wie Hannah Arendt 1950 in ihrem Denktagebuch feststellte (Arendt 2003, S. 49). Wo sie sich nicht ereignet, können wir sie auch mit Selbstmanipulation und Schuldgefühlen nicht herbeizaubern, das ist zumindest meine Erfahrung. Und deshalb darf auch keine Frau dazu gezwungen oder genötigt werden, ein Kind auszutragen und/oder zu versorgen, wenn sie nicht (oder vielleicht noch nicht) die Liebe dafür hat. Antje Schrupp hat das in ihrem Buch „Schwangerwerdenkönnen“ sehr klar herausgearbeitet.
Wo sich Liebe aber ereignet hat, können wir viel dafür tun, sie zu stärken, wachsen zu lassen und daran zu arbeiten, dass sie uns nicht verlorengeht. Dafür müssen wir auch immer mal wieder den Müll aus Missverständnissen, Gekränktheiten und Enttäuschungen wegräumen, der sie zuzuschütten droht. Und dann kann ich vielleicht sogar meiner Mutter mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrem Tod die Fehler verzeihen, die sie in meiner Erziehung gemacht hat, und mir, anstatt an alten Kränkungen festzuhalten, Situationen vor Augen führen, in denen sie über sich hinausgewachsen ist, weil sie für mich stark sein wollte, stärker als sie war.
Danke liebe Dorothee, für die Verknüpfungen der Betrachtung, sehr spannend und sehr zart.
Freue mich, dass die Liebe einer Mutter in einem Lied besungen wird und du das entdeckt hast, Dorothee.
Ja, ohne die Liebe ist ALLES NICHTS.
Dazu fiel mir sofort dieser Text in der Bibel ein, den ich grad heute zufällig las:
“Die Liebe ist langmütig,
die Liebe ist gütig.
Sie ereifert sich nicht,
sie prahlt nicht,
sie bläht sich nicht auf.
Sie handelt nicht ungehörig,
sucht nicht ihren Vorteil,
lässt sich nicht zum Zorn reizen,
trägt das Böse nicht nach.
Sie freut sich nicht über das Unrecht,
sondern freut sich an der Wahrheit.
Sie erträgt alles,
glaubt alles,
hofft alles,
hält allem stand.
Die Liebe hört niemals auf.”
Vielleicht auch ein Bild für die mütterliche und auch die göttliche Liebe?
Liebe Dorothee Markert,
interessante Gedanken. Vielen Dank dafür. Besonders berührte mich der letzte Absatz, auch ich bin immer noch damit beschäftigt, meiner Mutter verzeihen zu können. (Ich habe eine Schwester und fünf Brüder; das soll zur Erklärung genügen.) Und gleichzeitig hoffe ich, dass mir meine drei Töchter so manches verzeihen können, was mir in der Erziehung mißlungen ist. Das schöne ist, dass ich mit ihnen über das Vergangene offen reden kann.
Gesa Ebert
Liebe Dorothee,
Schöne, ergreifende Gedanken!
Hab, dank dafür!
Claudia von der Tauber