Forum für Philosophie und Politik
Von Juliane Brumberg
Von der Frauenbewegung im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts kennen wir einige wenige Gesichter, die sich die Medien herausgepickt haben und immer wieder hervorholen. Doch ohne die vielen weniger prominenten Frauen, die es auch noch gegeben hat, wäre der große Erfolg der Frauenbewegung nicht möglich gewesen. In einer kleinen Serie möchten wir auf bzw-weiterdenken über einige von diesen Frauen erzählen. Wie sind sie zu ihrem frauenpolitischen Engagement gekommen, was machen sie heute?
Wir freuen uns übrigens über Artikel oder Vorschläge zu weiteren Frauen, deren Leben wir hier vorstellen können.
Im März 2020 schlug eine Leserin und Autorin unseres Forums vor, Marianne Kaiser in bzw-weiterdenken vorzustellen. Als ich hörte, dass Marianne Kaiser den größten Teil ihres Berufslebens an der Volkshochschule Gelsenkirchen zugebracht und dort die Frauenbildungsarbeit aufgebaut hat, war ich sofort interessiert. Denn Ähnliches hatte ich – allerdings erst in den 1990er Jahren – an der Volkshochschule meiner (sehr viel kleineren Heimatstadt) erlebt: dass die Frauenthemen durch eine engagierte Volkshochschulleiterin eine breite Basis bekamen. Aus dem geplanten Interview wurde erst einmal nichts, die Coronazeit hatte dazwischengefunkt. Aber dann endlich, im Herbst 2021, sitze ich in der U- und Straßenbahn und fahre durch Gelsenkirchen, diese Ruhrpott-Stadt, in der ich vorher noch nie gewesen bin und die einen gewaltigen Strukturwandel hinter sich hat. Er wurde begleitet und auch ein wenig mitgeprägt von Marianne Kaiser. Als ich mit meinem Rollköfferchen vor ihrem Haus eintreffe, winkt sie mir schon aus dem Fenster zu und fragt, ob ich alles gut gefunden habe. Eine jung gebliebene 80jährige öffnet mir die Tür und eh ich mich versehe, sind wir in ein Gespräch über zweischweifige Sirenen verstrickt, die sie an kleinen Kapellen in der Toskana entdeckt hat. Ich kenne dieses Motiv von Fresken an Südtiroler Kirchen. Ein Thema, zu dem sie schon viel gesammelt hat. Nun überlegt sie, was aus dem Material werden soll.
Aber deshalb bin ich nicht hier, obwohl mich ihre Fotos von den Nixen schon locken würden. In unserem Gespräch soll es um Frauenbildungsarbeit gehen, die, wie sich herausstellt, Marianne Kaiser nicht nur an der Volkshochschule Gelsenkirchen, sondern auch in der örtlichen Arbeitsgemeinschaft ‚Arbeit und Leben‘ vorangebracht hat. Dort arbeiten VHS und der Deutsche Gewerkschaftsbund zusammen, das Programm gehörte zu ihrem Fachbereich. 30 Jahre, von 1970 – 2000 leitete sie – mit einer kurzen Unterbrechung an der Volkshochschule Wetzlar – den VHS-Fachbereich ‚Gesellschaft und Politik‘. Parallel war sie in der Gewerkschaft aktiv und konnte auf diese Weise ihre Fähigkeiten zur Vernetzung weiterentwickeln. Was auch schnell klar wird: Marianne Kaiser versteht sich nicht als Teil der neuen Frauenbewegung der 1970er Jahre und auch nicht unbedingt als Feministin. Sie fühlt sich eher in der Tradition der ‚alten‘ Frauenbewegung‘ aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verankert. Und es waren ja tatsächlich hauptsächlich die Gewerkschaften, die nach Nazi-Zeit und Krieg die letzten Reste des alten Frauenkampfgeistes in die Bundesrepublik hinübergerettet haben. Aber natürlich hat Marianne Kaiser die Impulse der neuen Frauenbewegung aufmerksam verfolgt und als geübte Vernetzerin in die Volkshochschularbeit integriert.
Das frauenpolitische Interesse war ihr als 1940 geborenes Kriegskind in gewisser Weise schon in die Wiege und auf jeden Fall auf die Schulbank gelegt. „Meine Klassenlehrerin war sehr fortschrittlich. Sie hat mit uns die Geschichte der Frauenbewegung durchgenommen und schon in den 1950er Jahren, als das noch nicht üblich war, mit uns Dokumente aus der NS-Zeit gelesen.“ Außerdem hat diese Lehrerin die begabte Abiturientin für die Studienstiftung des Deutschen Volkes vorgeschlagen. „Das habe ich gerne angenommen“ erzählt Marianne Kaiser, „allerdings mit der Folge eines unterschwelligen Konflikts mit meiner Mutter, der nie aufgelöst werden konnte.“
Sie holt noch etwas weiter aus und erzählt von einer geistig wachen und politisch interessierten Mutter, die gleichzeitig aber für ihre Tochter das weibliche Rollenbild der 1950er Jahre mit Ehe und Familiengründung vor Augen hatte. Eine Berufsausbildung vor der Ehe war nur für den Notfall gedacht. Sprüche wie ‚Mädchen, mach Dir Locken, sonst bleibste hocken‘ prägten den Alltag und tatsächlich wurde die kleine Marianne schon als Kind beim Friseur mit einer Dauerwelle malträtiert. So war der Zeitgeist damals, der nicht nur bei der Mutter, sondern auch beim Vater zu großen Ambivalenzen führte. Ein ständiger Streitpunkt ihrer Eltern bereitete bei dem aufmerksamen Mädchen den Boden für ihre frauenpolitische Wachsamkeit. „Meine Mutter wäre sehr gerne wieder arbeiten gegangen.“ Doch der Vater, der einerseits eine höhere Schulbildung und das Studium der Tochter förderte, hat andererseits nicht zugelassen, dass seine Ehefrau wieder berufstätig wird. „Und er hat auch unterbunden, dass meine Mutter sich aktiv in die SPD einbringt und ein Amt übernimmt“, berichtet Marianne Kaiser, „seine Auffassung war: Ich als Kriegsversehrter und das Kind brauchen Dich zu Hause. Berufstätig sein ist etwas Schönes, aber die Familie hat Vorrang.“ Und sie fügt an: „Die Problematik der Vereinbarkeit von Familie und Beruf hat mich seither begleitet, die hatte ich im Gepäck, als ich zur Volkshochschule kam – und ein grundsätzliches Gefühl dafür, dass Gleichberechtigung anders aussehen muss.“
Zunächst ging sie aber zum Studieren nach Göttingen. Dort belegte sie die Fächer Deutsch und Englisch mit dem Ziel, Studienrätin zu werden. Dabei hatte sie im Hinterkopf, dass dies am ehesten ein mit Familie zu vereinbarender Beruf sei. Politisch wach und engagiert war sie auch dort, noch deutlich vor den Studentenunruhen der 1968er Zeit. Sie zeigt mir einen Beitrag mit dem etwas trockenen Titel ‚Stereotyp und Studentin‘, den sie 1962 für eine links orientierte Studentenzeitschrift geschrieben hatte und ergänzt, dass sie „in einem anderen Artikel die fehlende Kinderbetreuung für Studentinnen“ moniert habe. 1965 heiratete sie und folgte ihrem Mann 1967, wie es damals üblich war, „mit wehenden Fahnen“ ins Ruhrgebiet an die Ruhr-Uni in Bochum. Dort sympathisierte sie mit den Reformbestrebungen der Studentenbewegung und auch dem historischen Tomatenwurf. Klassenkampf und Revolution waren dann aber doch nicht so ihr Ding. Bezüglich ihres Studiums hatte sie sich umorientiert und sich für eine literaturwissenschaftliche Promotion entschieden, die sie 1970 abschloss. Schon ab 1968 arbeitete sie an der VHS Bochum im Grundstudienprogramm als Kursleiterin im Fach Literatur. Das war die Zeit, in der es wegen fehlender Schulbildung noch einen großen Nachholbedarf an Erwachsenenbildung gab und diese zunehmend professionalisiert wurde. Eine Bewerbung auf die Stelle des Leiters des Fachbereichs ‚Gesellschaft und Politik‘ an der VHS Gelsenkirchen im Jahr 1970 war erfolgreich und Marianne Kaiser prägte diesen bis zu ihrem Ruhestand im Jahr 2000.
In den Beginn dieser Zeit fallen die Scheidung von ihrem Mann, ein Gastspiel an der VHS in Wetzlar von 1974-1977, eine Krebserkrankung und damit die endgültige Verabschiedung von einem potentiellen Kinderwunsch. Doch beruflich waren die Weichen in die richtige Richtung gestellt, was ihre Neigungen und Fähigkeiten angeht. Insbesondere wurde ihr Berufsleben eine frauenpolitische Erfolgsgeschichte. Während ihrer Zeit an der VHS in Wetzlar hatte sie sich in einem großen Projekt engagiert, in dem Kindergartenhelferinnen ihren Hauptschulabschluss nachholten und sich zur Kindergartenpflegerin qualifizierten. Diese Erfahrungen brachte sie mit zurück nach Gelsenkirchen. In der Rückschau sagt Marianne Kaiser: „Ich habe die Frauenbildung zu einem zentralen Schwerpunkt meiner Arbeit gemacht im Hinblick darauf, dass es da in dieser Region einen erheblichen Nachholbedarf gab.“
Schon 1971 hatte sie im VHS-Programm zum ersten Mal einen Gesprächskreis ‚Politik für Frauen‘ ausgeschrieben, ab 1973 mit einem Kinderbetreuungsangebot. Sie zeigt mir einen Schnellhefter, in dem sie 1996 die Veranstaltungen für die ‚Zielgruppe Frauen‘ zusammengefasst hat. Da finden sich Ende der 1970er Jahre Titel wie ‚Frauen in der Arbeitswelt gestern und heute‘, ‚Ehe, Familie Partnerschaft im Film‘, ‚Studienfahrt für Frauen in die DDR‘, ‚Gesprächskreis für Türkinnen‘, ‚Frauen schreiben über sich‘ oder ‚Gleicher Lohn für gleiche Arbeit‘.
„Mein Akzent war, Gleichberechtigung zu realisieren,“ verdeutlicht Marianne Kaiser. Dazu passt, dass sie sich 1972 dafür entschied, „dass mein gesellschaftspolitisches Engagement die Gewerkschaftsarbeit sein sollte und dabei habe ich die Frauenbelange in den Mittelpunkt gestellt.“ In Wetzlar arbeitete sie im DGB-Kreisfrauenausschuss mit und brachte sich später in Gelsenkirchen als Vorsitzende des Kreisfrauenausschusses und als Personalrätin in die ÖTV ein. „Die ehrenamtliche Gewerkschaftsarbeit konnte ich gut mit der frauenpolitischen Volkshochschularbeit, besonders bei Angeboten der ‚AG Arbeit und Leben‘ verbinden, sie hat sich wie ein roter Faden bis heute durch mein Leben gezogen.“ Konkret erinnert sie sich: „Ich habe die Gewerkschaftskollegen mit ihren Frauen eingeladen, Frauenseminare organisiert und auf Angebote hingewirkt, in denen gewerkschaftlich orientierte Frauenbildungsarbeit stattfand “
Damit nähern wir uns einem großen Thema, in das Marianne Kaiser viel Engagement und viel Herzblut gesteckt hat: Lohngerechtigkeit! Vor 40 Jahren, von 1978 – 1981 wurde es zum ersten Mal in großem Stil öffentlichkeitswirksam verhandelt. Damals hatten 29 Frauen, die bei den Fotobetrieben Heinze in Gelsenkirchen arbeiteten, durch drei Instanzen geklagt, um den gleichen Lohn wie ihre männlichen Kollegen zu bekommen. Worum ging es? Die Deutschen fingen an, wieder auf Reisen zu gehen und dank der vielen Urlaubsfotos boomte auch die Fotoindustrie. Also führte der Laborbetrieb Heinze Nachtschichten ein, die damals für Frauen grundsätzlich nicht zugelassen waren. Es wurden also Männer in diese bislang nur mit Frauen besetzten Abteilung eingestellt. Für Männer wie Frauen galt die Lohngruppe 1 mit einem Stundenlohn von 6 DM, jedoch erhielten die Männer eine erheblich höhere Zulage, als die Frauen: mindestens 1,50 DM, unabhängig von den zusätzlichen Nachtzulagen, während die Frauen nur Pfennigbeträge als Zulage bekamen. Die Vermittlungsbemühungen des Betriebsrats hatten keinen Erfolg. Die Firma argumentierte, dass sie ohne diese höheren Zulagen keine Männer für die Nachtschichten finden würde. Sie bestand auf ihrer Vertragsfreiheit. Daraufhin beschlossen 29 Frauen, zu klagen. Und hier kommt nun Marianne Kaiser ins Spiel. Als gewerkschaftliche Referentin informierte sie 1978 bei einer Betriebsversammlung über Lohngleichheit und im Rahmen ihrer Tätigkeit an der Volkshochschule organisierte sie dann 1979 begleitende Seminare zum Verlauf des Prozesses. Durch ihre gute Vernetzung trug sie außerdem dazu bei, eine breite öffentliche Aufmerksamkeit für das Anliegen der Frauen herzustellen. Im Frühjahr 1979 solidarisierten sich in Gelsenkirchen zum ersten Mal gewerkschaftliche Frauenausschüsse, Betriebsräte, die autonome Frauenbewegung sowie die parteipolitisch oder konfessionell organsierten Frauen. Dem Sieg der Heinze-Frauen vor dem Arbeitsgericht in Gelsenkirchen folgte eine Niederlage bei der zweiten Instanz in Hamm im Herbst 1979. Aber eine Revision vor dem Bundesarbeitsgericht in Kassel war zugelassen. Der Prozess fand zwei Jahre später, im September 1981, statt. Marianne Kaiser trug dazu bei, während dieser Zeit auch eine überregionale Öffentlichkeit für das Thema zu sensibilisieren.
Aus dem in den Weiterbildungsseminaren mit den Heinze-Frauen aufgezeichneten Tonmaterial erarbeitete Marianne Kaiser in Absprache mit den Kolleginnen und in Kooperation mit der IG Druck und Papier ein Manuskript, das der Rowohlt Verlag 1982 in seiner Reihe ‚Frauen aktuell‘ veröffentlichte. Außerdem entstand, basierend auf dem Buch, ein Theaterstück für die Ruhrfestspiele mit dem Titel ‚Frauen sind keine Heinzelmänner‘.
Unter dem Motto ‚Solidarität mit den Heinze-Frauen‘ hatte die Gewerkschaft ‚Druck und Papier‘ kurz vor dem Gerichtstermin eine Großdemonstration mit 6000 Teilnehmer:innen organisiert. Marianne Kaiser war dabei, als vier Busse aus Gelsenkirchen sich auf den Weg nach Kassel machten. Im Prozess bekamen die Klägerinnen recht und erhielten die eingeklagten 20 000 DM. Für die Heinze-Frauen war das jedoch leider nur ein Teilerfolg. Die Firma Heinze stand Anfang 1982 vor dem Konkurs und es kam zu keiner Folgeklage mehr über die den Frauen zustehenden Nachzahlungen in Höhe von 100 000 DM. Die Signalwirkung allerdings, die von diesem Urteil ausging, war deutschlandweit ein Meilenstein in Bezug auf Lohndiskriminierung.
Auch jetzt noch kommen immer wieder Anfragen zu dem Heinze-Thema. Marianne Kaiser hat ein umfangreiches Archiv dazu angelegt, das sie dem Institut für Stadtgeschichte in Gelsenkirchen übergeben hat. „Doch solange ich lebe“, sagt sie, „verfüge ich darüber“.
Richtig geärgert hat Marianne Kaiser sich vor einigen Jahren über das Drehbuch eines ARD-Films zu den Heinze-Frauen. Der Regisseur hatte im Vorfeld ein Interview mit ihr geführt und ihr dann das Drehbuch zu lesen gegeben. „Da habe ich auf den Putz gehauen, denn es stand dort kein Sterbenswort über die Gewerkschaften. Wer hatte denn das alles bezahlt? Ich wusste zwar, dass es ein Spielfilm werden sollte, aber im Drehbuch war die Handlung auf die leicht verkitschten Erfahrungen einer Einzelkämpferin verkürzt. Die Solidarität der Frauen kam überhaupt nicht vor. Ein bisschen was von dem Kern des Konflikts wurde transportiert, aber nichts von der historischen Realität.“ Ihr Ärger hat etwas genützt. Die Kritik wurde partiell berücksichtigt und im Nachhinein sagt sie versöhnlich: „So ist es ein spannender Film geworden, der die Erinnerung an die Heinze-Frauen wachhält.“
„Durch die Heinze-Geschichte hat sich auch bei den Frauen in Gelsenkirchen etwas verändert, die verschiedenen Strömungen der Frauenbewegung haben sich erstmalig wahrgenommen“, ergänzt Marianne Kaiser, „es war die erste große Gemeinschaftsaktion. Ich konnte vernetzen und Querverbindungen ins Gespräch bringen, die Volkshochschule war wie eine Schaltstelle zur Vernetzung. Wir hatten damals ein starkes Wir-Gefühl in der Frauenbewegung.“ Das war neu. Das gegenseitige Interesse zwischen den gewerkschaftlich orientierten Frauen und der neuen Frauenbewegung begann erst zu wachsen. „Ich hatte junge Kursleiterinnen, die der neuen Frauenbewegung verbunden waren und ihre Ansichten und neue personenbezogene Arbeitsmethoden mitbrachten“, erinnert sich Marianne Kaiser. „Die neue Frauenbewegung hat da Impulse gesetzt, durch die auch Bewegung in die gewerkschaftliche Frauenarbeit kam. Irgendwann sagte eine ältere Gewerkschaftskollegin damals ‚Naja, mit dem Patriarchat haben wir ja auch einige Erfahrung‘.“ Marianne Kaiser betont noch einmal: „Methodisch und inhaltlich habe ich ganz viel von der neuen Frauenbewegung gelernt. So entstand zum Beispiel auch die Idee, Studienfahrten in die DDR oder nach Rom nur für Frauen und deren Fragestellungen anzubieten. Das Konzept der Zielgruppenarbeit war modern.“
Daraus entwickelte sich ein weiteres Projekt mit der Volkshochschule als einem Ort der Vernetzung. „Ab Mitte der 1980er Jahre habe ich viele Jahre zusammen mit dem städtischen Frauenbüro eine gemeinsame Veranstaltung aller Frauenorganisationen zum Internationalen Frauentag am 8. März organsiert, eine Veranstaltung die zusätzlich neben den eigenen Aktionen der einzelnen Gruppierungen stattfand. Das Motto ‚Getrennt, zusammen, oder Beides?‘ beschrieb dabei unser Anliegen. Mit Vorträgen zu aktuellen Fragen der Frauenpolitik haben wir gezeigt, dass die Frauen in der Stadt präsent sind.“
Aber noch einmal zurück zu den Heinze-Frauen. In den von der VHS begleitend zu den Gerichtsterminen durchgeführten Seminaren ging es nicht nur um die juristischen Aspekte, sondern auch darum, wie die Gelsenkirchener Frauen ‚aus kleinen Verhältnissen‘ diese Zeit persönlich erlebt haben. Sie waren es nicht gewöhnt, so in der Öffentlichkeit zu stehen. „Damit ist das biographische Lernen zunehmend in die Frauenbildung eingeflossen. Persönliche Erfahrungen und Einsichten haben wir nicht unbedingt über reines Berichten, sondern durch szenische Lesungen in die Projekte eingebunden. Einmal ging daraus sogar ein von den Teilnehmerinnen gegründetes autonomes Frauentheater namens ‚Stiefmütterchen‘ hervor.“ Schmunzelnd ergänzt Marianne Kaiser: „Neue Techniken, wie etwa die Wäscheleine, an der Notizen über alles, was wichtig war, aufgehängt wurde, hätte es in keinem Männer-Seminar gegeben.“
Aus dem bislang über sie Erzählten wird deutlich, was Marianne Kaiser selbst folgendermaßen formuliert: „Ich habe zwei durchlaufende Themenschwerpunkte im Bildungsangebot gehabt: Frauen und Stadtgeschichte. Bei beidem gab es viel Nachholbedarf.“
Vor dem Blick auf ihre stadtgeschichtlichen Aktivitäten ist es jedoch interessant zu erfahren, wie sie die Biographiearbeit mit Frauen in Gelsenkirchen nach zehn Jahren Seminartätigkeit theoretisch und philosophisch einordnete. 1993 hat sie dazu einen Aufsatz veröffentlicht mit dem Titel ‚Frauen können mehr‘. Das war auch der Oberbegriff für die Frauenbildungsseminare, in denen seit 1992 die Teilnehmerinnen angeleitet wurden, Wunschvorstellungen für die eigene Zukunft zu entwerfen und sich über ihr Begehren klar zu werden. Nach zehn Jahren hatte Marianne Kaiser die gute Idee, alle Frauen noch einmal zu einem Wochenende einzuladen, bei dem sie aufgefordert waren, die Wirkung dieser biographisch orientierten Seminare zu reflektieren. 16 von ca. 60 Frauen nahmen teil. Marianne Kaiser schildert es folgendermaßen: „Entscheidend, so erinnerten sich die Teilnehmerinnen, waren die in den Seminaren erfahrenen Bestärkungen. Diese hatten dazu geführt, gewollte, aber noch unerprobte Veränderungen im eigenen Leben tatsächlich anzupacken.“ Hier schlägt Marianne Kaiser nun den Bogen zum Affidamento-Konzept der italienischen Philosophinnen, denn wie es dort beschrieben wird, hatten die Gelsenkirchener Frauen anderen Frauen die Autorität zugebilligt, ihre Wünsche als berechtigt anzuerkennen und sich bei ihrer Verwirklichung von ihnen bestärken zu lassen. Das ‚Mehr‘ einer anderen Frau, sei es aus der Gruppe, sei es aus der Teamleitung, half, die in der eigenen Biografie empfundenen Begrenzungen zu überschreiten. Das galt auch für sie selbst. „Ich war für einzelne Frauen eine mütterliche Autorität, habe sie aber auch meinerseits gefunden. So verdanke ich zwei Teamerinnen, dass ich, als sie mir den Zugang zur autonomen Frauenbewegung voraushatten, an ihrem Vorsprung, ihrem ‚Mehr‘, wachsen konnte.“ Marianne Kaiser beendete ihre Ausführungen in dem Aufsatz damals folgendermaßen: „Die Zensur der männerorientierten symbolischen Ordnung, die Frauen ausschließlich in ihrem Verhältnis zu Männern wahrnimmt und bei jeder von uns in Gefühl und Selbstwahrnehmung hineinwirkte, war ein Stück weit außer Kraft gesetzt worden. Jede einzelne hatte ganz konkret ihre weibliche Identität erweitert. Wir konnten wirklich mehr nach den Seminaren. Und wir hatten verstanden, warum das Private politisch ist.“
Danach gefragt, wie sie die frauenpolitische Erwachsenenbildung heute wahrnimmt, berichtet sie von einem Gespräch mit einer ihrer Nachfolgerinnen, die ihr sagte: „Das läuft alles nicht mehr so, wie es früher war. Die Frauenbildungsarbeit als Zielgruppenarbeit ist ausgelaufen. Aber es gibt auch nicht mehr diesen Nachholbedarf.“
Für Marianne Kaiser noch lange nicht ausgelaufen ist ihr historisches Interesse und Engagement, und zwar insbesondere das für Frauen- und Lokalgeschichte. Jahrelang hat sie sich in das ‚Forum Geschichtskultur an Ruhr und Emscher’ eingebracht und erzählt mir, mit welchen Worten sie während der Gründungsversammlung 1991 die männerzentrierte Geschichtsschreibung in Frage gestellt hat: „Wir wissen alle, dass Berg- und Stahlarbeiter die tragenden Säulen der Region waren. Aber ich bitte zu bedenken, dass diese Männer auch Frauen, Mütter und Töchter hatten.“ Daraufhin wurde sie dann gleich in den Vorstand gewählt.“ Schon vorher, seit 1989, hatte sie sich einen Namen gemacht mit einer Frauengeschichtswerkstatt, bei der 25 Kursteilnehmerinnen die Suche nach historischen Quellen genauso kennengelernt hatten, wie die Durchführung von Zeitzeuginnen-Interviews – und dafür prompt mit einem Preis des Forums ausgezeichnet worden waren. An kreativen Ideen mangelte es Marianne Kaiser nicht: Auch eine Revue zur Stadtgeschichte, einen Kalender zum Thema ‚Frauen und Arbeit‘ oder den Themenschwerpunkt ‚Frauen und Stadtplanung‘ brachte sie mit wechselnden Teams auf den Weg.
Die Region war geprägt von einem immensen Strukturwandel, denn nicht nur Bergbau und Stahlindustrie brachen weg, sondern auch die Textilindustrie wanderte immer weiter ab nach Osten in Richtung Asien. Marianne Kaiser trug in der VHS und im Forum Geschichtskultur dazu bei, diese Verluste in Geschichtswerkstätten zu bearbeiten und die Erfahrungen mit dem Niedergang der Produktionsstätten zusammenzutragen. Die Historikerin Uta C. Schmidt interpretiert das in einem Aufsatz über Marianne Kaiser folgendermaßen: „In einer Stadt mit Strukturbruch wie Gelsenkirchen bot die Geschichtsarbeit auf jeden Fall die Möglichkeit, ein Stück weit die Deutungshoheit über die eigene Biographie zurück zu gewinnen und der Ohnmacht und Entmächtigung eigene Erzählungen entgegen zu setzen.“
Ein weiterer Schwerpunkt, bei dem Marianne Kaiser Akzente setzte, war die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus in Gelsenkirchen. 1982 erschien dazu in der VHS eine Dokumentation. Darin wurde auch über ungarische jüdische Mädchen und Frauen berichtet, die 1944 bei einem Luftangriff ums Leben kamen. Einer der Überlebenden half Marianne Kaiser 1994 mit Hilfe der Frauengeschichtswerkstatt, das Grab von deren verschollener Schwester in Bottrop ausfindig zu machen und dann 1999 eine würdige Totenfeier auszurichten.
Ähnlich wie mit der Gewerkschaft gab es auch beim Forum Geschichtskultur Überschneidungen mit Win-win-Effekten zwischen der beruflichen VHS-Arbeit und dem ehrenamtlichen Engagement. Der Geschichtsarbeit ist sie in ihrem Ruhestand bis heute treu geblieben. Sie schreibt Texte für www.frauenruhrgeschichte und war mehrfach als Expertin gefragt zu dem Thema ‚Heinze-Frauen‘ für Studentinnen und zuletzt für die Landesausstellung im ‚Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalen‘.
Marianne Kaisers Lebensweg verlief nicht ohne Brüche. Sie brannte für ihre Themen und hat sich unermüdlich in ihre Arbeit hineingekniet. Ganz offen erzählt sie: “So ungefähr ab 1985 hatte ich den Verdacht, ich werde zu einer Workaholic. Und ich wollte alles, nur nicht süchtig werden. Es kam zu einer Art burnout, weshalb ich mir eine vorübergehende Arbeitszeitverkürzung gegönnt habe. Stattdessen habe ich italienisch gelernt, bin eine Beziehung mit einem italienischen Mann eingegangen, die 20 Jahre währte und habe dem Leben neben der Arbeit Raum gegeben.“ Sie fügt hinzu: „Auch ich habe aus der Frauenbildungsarbeit gelernt und reduziert.“ Nichtsdestotrotz hat sie ihre Italien-Erfahrungen dann auch für ihre Volkshochschule weiterentwickelt und zwei Frauenstudienreisen nach Rom organisiert.
Zu vielen Frauenbildungsseminaren hat sie begleitend Kinderbetreuung angeboten, für diese Problematik hatte sie eine besondere Sensibilität. „Eine eigene Familie mit Kindern und Beruf zu vereinbaren, war das Thema meiner Studienzeit. Es hat mich immer wieder beschäftigt, einschließlich der Erfahrung, dass es mir nicht gelungen ist, beides zu leben“, resümiert sie etwas wehmütig. Meinen Eindruck, dass ihr Leben ein sehr reiches Leben war und noch ist, bestätigt sie: „Es hat mir auch die Möglichkeit geboten, soziale Bindungen zu knüpfen, die mir eine Familie ersetzten und ersetzen. Rückblickend bin ich sehr dankbar, dass die Frauenbewegung in vielfältigster Form in meinem Leben wichtig geworden ist. Sie hat mir immer wieder Stärke gegeben in der Arbeit und in persönlichen Krisensituationen.“ An der heutigen Entwicklung der feministischen Debatten und Aktionen vermisst sie jedoch oft den Blick auf die Gemeinsamkeit von Erfahrungen und die daraus erwachsende Solidarität.
Zum Abschied gibt sie mir noch mit auf den Weg: „Es war mir ein Anliegen, dass die Volkshochschule ein Ort der Kommunikation und Begegnung ist. Außerdem war mir das ‚Wir‘ in der Frauenbewegung besonders wichtig.“ Und zuletzt: „Im Rückblick bin ich eine Feministin gewesen, aber ich habe mich selber damals nicht so bezeichnet.“
Zum Weiterlesen:
Marianne Kaiser (Hg.), Wir wollen gleich Löhne, Dokumentation zum Kampf der 29 Heinze-Frauen, Frauen aktuell rororo 4623, Reinbek 1982.
Uta C. Schmidt, Marianne Kaiser / 1940, Eine Erwachsenenbildnerin als kritische Begleiterin und Akteurin im Strukturwandel https://www.frauenruhrgeschichte.de/frg_biografie/marianne-kaiser/.
Interview mit Marianne Kaiser über ihre Arbeitsweise in: Anders arbeiten in Bildung und Kultur, Kooperation und Vernetzung als soziales Kapital, Hg.: Friedrich Hagedorn, Sabine Jungk, Mechthild Lohmann, Heinz H. Meyer, Basel 1994 (Zukunftsstudien 14), S. 69-76.
Aus den Anfängen der Frauenbildungsarbeit: Marianne Kaiser zusammen mit Hannelore Peltzer-Gall, Aspekte einer Didaktik- und Methodendiskussion der Bildungsarbeit mit Frauen in Volkshochschulen, in: Angela Jurinek-Stinner / Marianne Weg (Hg.), Frauen lernen ihre Situation verändern. Was kann Bildungsarbeit dazu beitragen? München/Wien/Baltimore 1982.
Marianne, Kaiser, Frauen können mehr, Erfahrungen aus der Frauenbildungsarbeit an der Volkshochschule Gelsenkirchen 1982-1992, in: Karin Derichs-Kunstmann / Brigitte Müthing (Hg.), Frauen lernen anders, Theorie und Praxis der Weiterbildung für Frauen, Bielefeld 1993, S. 182-194.
Marianne Kaiser zus. mit Anneliese Kaminski, Roswitha Komosha, Christel Trilling, Gina Cornelisen-Wagner, Die Fraueninitiative‚ Thyssen Schalker Verein muss weiterleben, in: Der Schalker Verein, Arbeit und Leben in Bulmke-Hüllen, Hg.: Örtl. AG Abeit und Leben (DGB/VHS), Gelsenkirchen 2008, S. 219-231.
Im Rahmen dieser Serie wurden bisher die Donaupriesterin Gisela Forster, die Feministin Barbara Linnenbrügger, die Malerin Waltraud Beck, die Professorin Monika Barz, die Historikerin Irene Franken, die Tagungsleiterin Herta Leistner, Dagmar Schultz, die Alltagsforscherin Maria Rerrich, die Matriarchatsfrau Siegrun Laurent, die Gründerin Claudia Gather, die Heilpraktikerin Bali Schreiber, die Verbandsfrau Marlies Hesse, Ika Hügel-Marshall, die Stiftungsverwalterin Gudrun Nositschka, die Berliner Frauenpreisträgerin Karin Bergdoll, die Sozialpädagogin Erni Kutter, Philosophin Dorothee Markert, die Museumskuratorin Elisabeth von Dücker, die Frauenakademie München, die Gleichstellungsbeauftragte Heike Ponitka und die Sängerin Renate Lettenbauer vorgestellt.
Wirklich wieder sehr spannend! Danke für deine tollen Recherchen liebe Juliane Brumberg.
Wirklich viele bemerkenswerte Win-Win-Effekte, liebe Julia. Herzlichen Dank an Marianne Kaiser, ihren beständigen Einsatz in und für die Frauenbildungsarbeit sowie an Deinen Einsatz, uns Marianne Kaiser nahe zu bringen.
Liebe Grüße,
Gudrun
Liebe Juliane, ich kann mich meinen Vorkommentatorinnen nur anschließen; was für eine interessante Biografie, was für ein spannender Text, vielen vielen Dank!!
Eine Frage, die mir während des Lesens gekommen ist: Wieso wollte sie sich lange nicht als Feministin bezeichnen, und wo genau sah sie für sich die bedeutsamen
Unterschiede zwischen der “alten” und “neuen” Frauenbewegung, warum fühlte sie sich der ersten näher, hat sie sich dazu etwas ausführlicher geäußert?
Eine bewundernswerte Frau!
Danke für den sehr interessanten Artikel
und weiterhin an alle: Viel Power und Mut!