beziehungsweise – weiterdenken

Forum für Philosophie und Politik

Rubrik erinnern

„Auf sich nehmen, was man auf sich nehmen muss“

Von Anne Lehnert

Gedanken zu Geistesgegenwart, Care und Notwendigkeit bei Milena Jesenská

Vor 125 Jahren wurde Milena Jesenská geboren. Die tschechische Publizistin und Journalistin engagierte sich im Widerstand gegen den Nationalsozialismus und starb 1944 im KZ Ravensbrück. Foto von 1937 / gemeinfrei.

Am 10. August 2021 ist der 125. Geburtstag der tschechischen Publizistin und Journalistin Milena Jesenská (1896-1944). Bekannt ist sie vielen als Adressatin von Briefen Kafkas, doch es lohnt sich unbedingt, ihr eigenes Werk zu entdecken: Feuilletons und Reportagen, die in den Jahren 1919 bis 1939 erschienen.

Die erste deutsche Herausgeberin Dorothea Rein musste Jesenskás Artikel in der Prager Nationalbibliothek von Hand abschreiben oder abfotografieren und dann abtippen, weil es dort keine Kopierstelle gab. Ein Auslöser dafür, diese mühevolle Arbeit auf sich zu nehmen, war für Rein der Skandal, dass in der Neuauflage der Briefe Kafkas im S. Fischer Verlag zwar drei Feuilletons von Milena Jesenska enthalten waren, ihre Biografie dort aber 1924 mit dem Tod Kafkas endete – obwohl sie diesen um zwanzig Jahre überlebte und in dieser Zeit unter anderem ihre herausragendsten politischen Reportagen verfasste.

Reins Auswahl von 41 Artikeln erschien erstmals 1984 mit einer biographischen Skizze der Herausgeberin. Sie wurde ins Französische, Italienische und Japanische übersetzt und ist inzwischen in der 5. Auflage lieferbar.

Voriges Jahr nun erschien, herausgegeben von Alena Wagnerová, noch eine umfangreichere Edition der Texte Jesenskás im Wallstein Verlag. Dafür wählte Wagnerová 79 Texte aus. In ihrem Vorwort geht sie vor allem auf die Rezeption des Werks ein, ordnet die Texte nach Schaffensperioden und kommentiert sie.

Für beide Ausgaben gilt, was Jorge Semprun schreibt: „Ein Buch, das man seinen Freunden schenken und mit lauter Stimme auf den Straßen rühmen möchte, von dem man wünscht, es in der Metro in den Händen Fremder zu sehen, die einem dadurch nah und vertraut werden, selbst im größten Gedränge.“ (zitiert nach der Website des Verlags Neue Kritik)

Milena Jesenskás Artikel befassen sich mit sehr unterschiedlichen Themen. Sie schreibt feuilletonistische Texte über Mode, Architektur und die Wiener Kaffeehauskultur, philosophische Betrachtungen über alltägliche Beobachtungen, sozialkritische Reportagen aus Wien nach dem Ende der Monarchie, später politische Reportagen über deutsche Emigranten in Prag und die Situation nach der Annexion der Tschechoslowakei sowie Artikel für eine Zeitschrift des Widerstands.

Immer wieder schreibt sie auch darüber, was notwendig ist für ein gutes Leben aller. Ihre Texte beinhalten eine ähnliche Sicht, wie ich sie auch im ABC des guten Lebens finde, auf die Geistesgegenwart, auf Care und Notwendigkeit.

Die Gegenwart ist das Leben ‒ Geistesgegenwart

In ihrem Artikel „Es ist nicht gut, sich auf etwas zu freuen“ (1926) appelliert Jesenská dafür, sich weder in Nostalgie noch in Vorfreude zu verlieren, sondern nüchtern die Gegenwart auszukosten ‒ weil sie das Einzige sei, was wir haben:

„Manchmal scheint mir, wir leben am Rande einer Versenkung, in die unsere Gegenwart fällt. Wir hüten die Vergangenheit als Schatz und berechnen die Zukunft, aber vergeuden die Gegenwart auf hoffnungslose Weise. Es dringt kaum bis in unser Bewusstsein, das sie das Leben ist, und allein sie. Wir kochen Tee und meinen, das sei nur ein Zwischenspiel zwischen etwas, was war und was sein wird. In Wahrheit ist es nicht so, sondern das ist das Leben. Es ist das ewige Sitzen im Wartesaal, das Warten auf einen Schnellzug, der nie kommt. Aber diese Waldlichtung mit Heidekraut, Sand und spärlichen Kiefern, durch deren Kronen die Sonne scheint, ist wunderbar schön, dummes Herz, denke jetzt nicht an einen Mann, der dich entweder zu wenig oder zu sehr liebt, denke nicht an einen neuen Mantel mit gebrauchtem Futterstoff und an die Notwendigkeit, ans Steueramt zu schreiben, denke nur an das, was du siehst. Denke einzig und allein daran, erfasse es gänzlich, vergiss alles andere, sei weder traurig noch fröhlich, auch nicht glücklich oder sehnsüchtig, das ist alles Unsinn, sei jetzt gegenwärtig und sei fähig, mein Gott, sei fähig, nur diese Stunde zu sehen und alles auszukosten, was sie in sich birgt. Sei fähig, die Kette aus Angst, Unsicherheit, Schmerz, Unzufriedenheit und Sehnsucht zu zerreißen, ganz einfach: sei.“ (1, S. 98-99)

Auch Ina Praetorius setzt sich in ihrem Büchlein Im postpatriarchalen Durcheinander. Unterwegs mit Xanthippe dafür ein, die Gegenwart wertzuschätzen, statt einem wie auch immer gearteten Später hinterherzuhetzen, ob es nun Himmel oder Ewigkeit heißt oder Work-Life-Balance, oder, wie sie bei einem Vortrag zur Idee der Geburtlichkeit sagte, Urlaub, Pension, Lottogewinn, Karriereschritt. Sie wirbt dafür, das Ende und das, was danach kommt (oder auch nicht), Gott zu überlassen und sich unseren Aufgaben zuzuwenden: das zu gestalten, was uns möglich ist. Also dem Hunger entgegenzuwirken durch gutes Essen, den Durst durch Wasser, Tee, Bier, Saft, Wein, der Krankheit durch Heilkunst, Pflege, Begleitung, Impfstoffe. Kurz, dafür zu sorgen, dass alle genug zum guten Leben haben. Die Politik und die Wirtschaft seien das Eigentliche und der Lebensinhalt für geborene Menschen, und nicht etwas Anderes, Unsichtbares.Sie betont:

„Wenn ich mich und alle Menschen als geburtlich wahrnehme, dann muss ich also nicht phantasieren, dass wir eigentlich etwas Anderes, etwas Unsichtbares sind, ich kann einfach hinschauen und sagen: Das Eigentliche ist hier und jetzt. Und dann heißt die Folgerung: Es gibt viel zu tun, denn dieses Dasein und Tun ist das eigentliche.“ (Vortrag im Rahmen des Vorarlberger Frauensalon der Katholischen Kirche Vorarlberg am 12.5.2021, Link zum Vortrag.)

Unsentimentale Fürsorge ‒ Care

Milena Jesenská richtet denselben unsentimentalen Blick auf menschliche Beziehungen und die Fürsorge, die wir zum Leben brauchen. Ihr Text „Meine Freundin“ (1921) porträtiert eine Zimmerwirtin. Die amüsierte Ironie der Ich-Erzählung kontrastiert mit der handfesten, unsentimentalen Fürsorge der Zimmerwirtin, durch die sie die Erzählerin am Leben erhält. Beide verbindet eine ambivalente, gänzlich unromantische Beziehung:

„Es ist nicht gerade wenig, was wir gemeinsam erlebt haben. In den drei Jahren, die ich in dieser verfluchten Stadt sitze, war sie mein Trost. Ich weiß, dass ihre Liebe zu mir ebenso groß ist wie meine Liebe zu ihr, und dass ich mich jederzeit auf sie verlassen kann. Im stumpfen Glauben, dass man leben müsse, verbrachte sie Wunder, die mir heute noch unerklärlich sind. Keine Krone, die sie nicht mit mir geteilt hätte, kein Brot, dessen größter Teil mir nicht zugefallen wäre. Wo wäre ich heute ohne sie? Das ist meine Freundin. Ein Leben ohne sie kann ich mir nicht vorstellen. Sollte ich nach Amerika auswandern, wäre sie mein umfangreichstes Gepäckstück. Ich kann früh nicht aufstehen, wenn sie nicht mit einem Besen und einer bekleckerten Schürze neben meinem Bett steht. Stieße mir etwas zu, könnte ich mich außer Frau Kohler niemandem anvertrauen, und das Abendessen würde mir nicht schmecken, wüsste ich nicht, dass sie den ihr gebührenden Teil gestohlen hat, was sie manchmal, aus Versehen, auch unterlässt. Wir haben stillschweigend ausgemacht, dass wir uns nie trennen werden.“ (1, S. 25-28)

Der Text „Melancholie bei Regen“ (1921) widmet sich tödlichen Unfällen, deren zufällige Zeugin die Erzählerin wird, sowie kleinen Nöten und Ängsten der Menschen, die ihr auf der Straße begegnen. Auch hier erstaunt Jesenskás unverblümte, direkte und zugleich mitfühlende, zarte Darstellungsweise. Ihr Artikel „Der Teufel am Herd“ (1923) setzt sich dafür ein, die Ehe als Solidargemeinschaft statt als Glücksversprechen zu sehen.

Einerseits findet sie es ganz natürlich, dass Ehen unglücklich sind: „Zwei Menschen ‒ zwei kleine, vereinsamt, der ganzen Hoffnungslosigkeit, Trübseligkeit und Ausweglosigkeit des Lebens preisgegebene menschliche Wesen, zwei Menschenkinder auf der riesigen Erdkugel, die so unvorstellbar, schrecklich und beunruhigend groß ist, zwei nach natürlichem und gewöhnlichen Recht unglückliche Menschen ‒ sollen auf einmal, unversehens, etwa um halb zehn Uhr vormittags, eingesperrt in eine Wohnung, einen Namen, ein Hab und Gut, ein Schicksal haben, sollen plötzlich und nur deshalb, weil sie zu zweit sind, glücklich sein?“

Einen zweiten Grund macht sie aus, der zum Scheitern von Ehen führt: „Die Menschen heiraten, ohne sich definitiv füreinander zu entscheiden. Oder besser gesagt, ohne sich zu entscheiden, auf alles andere zu verzichten.“ Um des Glückes willen zu heiraten, bezeichnet Jelenská als eigennützig. Stattdessen fordert sie, nur aus dem einzigen Grund zu heiraten, dass man ohne andere Menschen nicht leben kann: „Zwei Menschen heiraten, um miteinander zu leben. Warum brauchen sie zu dem riesigen Geschenk dieser Möglichkeit noch Glück?“

Als Aufgabe der Ehe bezeichnet sie stattdessen, einander zu tolerieren und zu bestätigen: „Schließlich ist es immer nur Selbstbestätigung, was ein Mensch von einem anderen erbittet. Einen Beweis, dass er „trotzdem“ geliebt wird. Menschen leben zusammen, um einen Kameraden zu haben. In der Einsamkeit der Welt jemanden zu haben, der die Berechtigung ihrer Existenz mit allen Fehlern und Mängeln bestätigt. Das größte Versprechen, das Mann und Frau einander geben können, ist der Satz „Ich geb dich nicht her.“ Darin liegt alles. Anstand, Wahrhaftigkeit, Heim, Treue, Zugehörigkeit, Entscheidung, Freundschaft. Wie unendlich groß ist so ein Versprechen gegenüber dem winzigen Glück.“ (1, S. 67-70)

Diese sachliche Betrachtung Lebensgemeinschaft mit einem anderen Menschen kann allerdings, so finde ich, nicht nur als Plädoyer für einen nüchternen Blick auf die Ehe gelesen werden, sondern könnte über Jesenskás Blick auf diese Lebensgemeinschaft hinaus auch dazu führen, Freundschaften, Wohngemeinschaften und andere Formen des Zusammenlebens mehr zu schätzen und nach Alternativen zur Ehe zu suchen.

Statt „Unabhängigkeitshysterie“: Notwendigkeit

Der Text „Unabhängigkeitshysterie“ (1927) plädiert für ein Einverständnis mit der Notwendigkeit ‒ eine Haltung, die mir auch heute sehr zeitgemäß erscheint, gerade in Hinblick auf Klimakrise und Pflegenotstand: „Die Freiheit, im nächsten Augenblick nach Afrika zu fahren, ist aus der Höhe von einigen hundert Metern nur ein wunderliches Geruder von Ort zu Ort. Die Freiheit des Geldes ist ein Gefangensein in Tausenden Konventionen, die Freiheit der Armut ein Gefangensein in tausend unerfüllten Wünschen. Eine Freiheit hat der Mensch aber, und zwar die zu sterben; und noch eine: nicht frei sein zu wollen. Wirkliche Freiheit besteht darin, auf sich zu nehmen, was man auf sich nehmen muss, und zwar ruhig.“ (2)

Milena Jesenská hat sich dieser Pflicht gestellt und sich im Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime und für die Ausreise gefährdeter Personen eingesetzt. Letztlich hat sie dieses Engagement mit ihrer Freiheit und ihrem Leben bezahlt. Sie starb im Mai 1944 im KZ Ravensbrück.

Weiterlesen: Ein biografischer Artikel zu Leben und Werk von Milena Jesenská erschien auf der Plattform Palais F*luxx.


Die Zitate sind folgenden Büchern entnommen:

(1) Milena Jesenska: Alles ist Leben. Feuilletons und Reportagen 1919-1939. Herausgegeben und mit einer biografischen Skizze versehen von Dorothea Rein, Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main (5) 2008, 304 Seiten, ISBN 978-3-8015-0192-1, 22,50 Euro.

(2) Milena Jesenská: Prager Hinterhöfe im Frühling. Feuilletons und Reportagen 1919–1939. Herausgegeben von Alena Wagnerová, aus dem Tschechischen von Kristina Kallert, Wallstein Verlag, Göttingen 2020, 416 Seiten, ISBN 978-3-8353-3827-2, 32,00 Euro.

Ursula Knecht, Caroline Krüger, Dorothee Markert, Michaela Moser, Anne-Claire Mulder, Ina Prätorius, Cornelia Roth, Antje Schrupp, Andrea Trenkwalder-Egger: ABC des guten Lebens. Christel Göttert Verlag, Rüsselsheim 2012, ISBN 978-3-939623-40-3. www.abcdesgutenlebens.de


Buchvorstellung:

„Milena Jesenská. Prager Hinterhöfe im Frühling. Feuilletons und Reportagen 1919-1939“
von Alena Wagnerová am Mittwoch, 13. Oktober 2021, um 19:00 Uhr in der FrauenGenderBibliothek Saar, Großherzog-Friedrich-Straße 111, 66121 Saarbrücken und online (Hybrid-Veranstaltung)
Veranstalterinnen: FrauenGenderBibliothek Saar und Heinrich-Böll-Stiftung Saar
Veranstaltungsform: Eine begrenzte Personenzahl kann den Vortrag vor Ort in der FrauenGenderBibliothek Saar anhören. Alle weiteren Interessierten können sich digital per Zoom einwählen. Anmeldung für beide Varianten an  (Eintritt frei).

Das Porträt von Milena Jesenská ist als Postkarte beim Verlag Neue Kritik erhältlich, einzeln oder im Set mit Porträts von Amelia Earhart, Eleonora Duse, Bette Davis, Tina Modotti, Gret Palucca, Jaroslava Vondrácková und Colette. (Link zum Postkarten-Set)

Autorin: Anne Lehnert
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 11.08.2021

Kommentare zu diesem Beitrag

Verweise auf diesen Beitrag

Weiterdenken

Menü