Forum für Philosophie und Politik
Von Andrea Baier
Anfang des Jahres ist Maria Mies, Frauenforscherin und Feministin, 90 Jahre alt geworden. Bis zu ihrer Emeritierung Professorin für Soziologie am Fachbereich Sozialpädagogik der Fachhochschule Köln war sie immer eine engagierte Aktivistin innerhalb der internationalen Frauenbewegung und Mitbegründerin der Kölner Zeitschrift „beiträge zur feministischen theorie und praxis“, die sich rasch zu einem wichtigen Forum der feministischen Wissenschaft entwickelte. In den beiträgen wurden auch ihre „Postulate zur feministischen Frauenforschung“ veröffentlicht, die Berühmtheit erlangten und Generationen von Frauenforscherinnen inspirierten – durchaus auch zu Kritik.
Maria Mies interessierte sich vor allem für das Zusammenspiel von „Patriarchat und Kapital“. So hieß auch ihr viel gelesenes Buch (Untertitel „Frauen in der internationalen Arbeitsteilung“), das 1986 zunächst auf Englisch, 1988 auch auf Deutsch erschien. Dem Anspruch nach eine erste systematische Analyse der gegenwärtigen Frauenunterdrückung weltweit (und ihrer Entstehung), behandelt die Arbeit sowohl „Gesellschaftliche Ursprünge der geschlechtlichen Arbeitsteilung“ als auch den Zusammenhang von „Kolonisierung und Hausfrauisierung“, und schließlich skizzierte sie hier bereits die „Konturen einer öko-feministischen Gesellschaft“.
Die internationale Arbeitsteilung trennt und verbindet Frauen gleichermaßen
Das Geschlechterverhältnis war für Maria Mies der Schlüssel zum Verständnis wie zur Veränderung von Unterdrückung und Ausbeutung. Dabei behauptete sie nie, die Situation von Frauen sei gleich, vielmehr betonte sie, sie sei im Gegenteil sehr verschieden, je nachdem, wo die jeweilige Frau geopolitisch positioniert ist. Die internationale Arbeitsteilung trenne und verbinde Frauen gleichermaßen. Die Frauen im Norden profitierten von der Unterwerfung und Ausbeutung der Frauen im Süden. Das mache eine internationale Solidarität zwischen Frauen zwar mitunter schwierig, aber wirkliche Befreiung von Unterdrückung und Ausbeutung könne es nicht auf Kosten anderer geben. Deshalb sei es unerlässlich, dass feministische Politik und Wissenschaft – für Maria Mies gehörten sie zusammen – eine globale Perspektive entwickeln müssten.
Maria Mies‘ Bestreben zielte auf Parteilichkeit, Gesellschaftskritik und Veränderung bestehender Verhältnisse. Programmatisch beschrieb sie in der ersten Ausgabe der beiträge, dass feministische Forschung gesellschaftliche und individuelle Emanzipation vorantreiben und das herrschende Wissenschaftsverständnis, das an der Unterwerfung von Frauen beteiligt sei, hinterfragen müsse: „Wir werden nicht umhinkönnen, nach neuen, unserer Zielsetzung angemessenen Forschungskonzepten, Methoden und wissenschaftlichen Grundlagen zu suchen“ (beiträge 1978/1:11)
Bewusste Parteilichkeit statt postulierte “Wertfreiheit”
Konkret warb Maria Mies dafür, das Postulat der Wertfreiheit durch bewusste Parteilichkeit und die Sicht von oben durch eine Sicht von unten zu ersetzen. Dabei wollte sie auf der Basis von „Teilidentifikation“ von Forscherinnen und Erforschten eine „kritische und dialektische Distanz“ herstellen (beiträge 1978/1:48). Sie war der Überzeugung, dass Erkenntnis durch Teilnahme an Praxisprozessen sowie der Reflexion dieser Praxisprozesse gewonnen wird und plädierte also für die Beteiligung an emanzipatorischen Aktionen (statt uninvolviert zu bleiben) (ebd.:49). Der Forschungsgegenstand feministischer Wissenschaft sollte sich an den Interessen der Frauenbewegung(en) orientieren, was für sie nicht „Fremdbestimmung“ durch die Bewegung war, sondern „kreative Verarbeitung einer gesellschaftlichen Problematik durch ein Subjekt“ (ebd. 51). Und schließlich sollte die konkrete Erforschung einer unterdrückerischen Situation nicht nur durch wissenschaftliche Expertinnen erfolgen, sondern durch die Beteiligten/Betroffenen selbst, so dass im Idealfall die Objekte von Unterdrückung und Forschung selbst zu forschenden Subjekten würden.
Maria Mies entwickelte ihre Postulate aus ihrer politischen (Forschungs-)Praxis heraus bzw. erprobte sie in Forschungsprojekten, zum Beispiel im (von ihr 1976 mit gegründeten) Autonomen Frauenhaus in Köln (ebd.: 53ff), oder zu Landarbeiterinnen in Nalgonda/Indien (1978-81) und einem Projekt „Fieldwork in Women’s Studies“ in den Niederlanden (1979-81). Sie verschwieg nicht Schwierigkeiten, Widersprüche und Grenzen, zieht aber ein grundsätzlich positives Fazit: Jedes Mal sei es gelungen, die „Forschungsobjekte“ so in den Forschungsprozess zu involvieren, dass sie ihre Lebenssituation im Anschluss entscheidend verändern konnten (vgl. beiträge 1984/10: 48ff)
Als ich versuchte, die „methodischen Postulate“ in meiner ersten Feldforschungserfahrung in einem Dorf in der Minahasa auf Sulawesi/Indonesien umzusetzen, sensibilisierten sie mich für das Geflecht von Machtbeziehungen, in dem ich mich wiederfand, für meine Position im Feld und wie sie die Forschungssituation strukturierte. Dass ich, wenn ich die Frauengruppe bei der Feldarbeit begleitete, auch mithacken wollte, obwohl das keine verstand und zunächst auch nicht gut fand, verdanke ich indirekt Maria Mies, die dazu ermutigte, die Differenz zwischen „Forschungsobjekten“ und „Forschungssubjekten“ nicht für undurchlässig zu halten. So bekam ich beim „Stundenlang-in-sengender-Sonne-Unkraut-Jäten“ wenigstens eine leise Ahnung (mehr natürlich nicht) vom (Arbeits-)Alltag der Frauen, vor allem aber einen anderen Zugang zu ihnen.
Kapitalismus ist nicht nur Ausbeutung von Arbeitskraft, sondern weiter in erster Linie Raub
Ich lernte Maria Mies – zunächst ihre Texte, dann auch sie persönlich – Anfang der 1980er Jahre in Bielefeld kennen, wo ich Entwicklungssoziologie studierte. Maria Mies war assoziiertes Mitglied der Arbeitsgruppe Bielefelder Entwicklungssoziologen, arbeitete auch später eng vor allem mit Veronika Bennholdt Thomsen zusammen und steuerte ihre langjährigen Erfahrungen in Indien zur Aufklärung des Verhältnisses von Subsistenzproduktion und Akkumulation bei. Die kritische Entwicklungssoziologie ließ damals den Glauben hinter sich, dass den Ländern des Südens eine nachholende Entwicklung bevorstehe. Es wurde immer offensichtlicher, dass die Länder nicht „zurückgeblieben“ waren, sondern zurückentwickelt worden waren, dass ihre desolate soziale und wirtschaftliche Situation ihrer jahrhundertelanger, bis heute andauernder Ausbeutung geschuldet war. Insbesondere, so die Bielefelder*innen, war in der Dritten Welt keine Proletarisierung zu beobachten. Profite wurden hier anders erwirtschaftet, über (Produktions-)Verhältnisse, die bis dato „vorkapitalistischen“ Gesellschaften zugeordnet wurden (Pachtverhältnisse, Leibeigenschaft, kleiner Handel, Vertragslandwirtschaft etc.), aber offensichtlich auch im entwickelten, voll ausgebildeten Kapitalismus vorherrschten. Damit führte an der Erkenntnis dann nichts mehr vorbei, dass der Kapitalismus anders funktionierte als gedacht, dass er immer noch weniger über „Ausbeutung“ (von freier Lohnarbeit) als über „Raub“ (unfreier Arbeit) akkumulierte, mehr über Gewalt als über Vertrag. Die für den Kapitalismus typische Kombination von (relativ gesicherter, relativ gut bezahlter, „geregelter“) Lohnarbeit und prekärer (un- oder gering bezahlter, ungesicherter) Arbeit, so die Soziologinnen weiter, ist aber nicht ein Spezifikum der Dritten Welt, sondern auch in der Ersten Welt anzutreffen: Die prekäre Arbeit hier ist die (unbezahlte, schlecht bezahlte) (Haus-)Frauenarbeit, in den gut bezahlten Lohnarbeitsverhältnissen arbeiten eher Männer.
Damit nahmen Maria Mies und ihre Mitstreiterinnen verschiedene, in der Neuen Frauenbewegung bereits gesponnene Fäden auf und fügten sie zusammen: Wie Gewalt gegen Frauen mit der Ausbeutung von Frauenarbeit zusammenhängt, und wie beides mit dem Kolonialismus und außerdem mit dem Naturverhältnis verknüpft ist (letzteres ist aber noch ein anderes Kapital, das hier aus Platzgründen fehlt).
Maria Mies war eine unabhängige, engagierte (Vor-)Denkerin, sie war wachstumskritisch, bevor es die Degrowth-Bewegung gab. Sie war postkolonial, noch bevor in der bundesdeutschen Frauenbewegung über Rassismus debattiert wurde. Und die sex/gender-Unterscheidung war ihr schon vor Judith Butler suspekt: „Diese Unterscheidung zwischen Geschlecht als biologischer und Geschlecht als sozio-kultureller Kategorie mag auf den ersten Blick nützlich erscheinen, weil sie das Ärgernis beseitigt, dass die Frauenunterdrückung immer an der Anatomie der Frauen festgemacht wird. (…) Aber machen wir uns nichts vor. Das menschliche Geschlecht und die Sexualität sind nie rein biologische Angelegenheit gewesen. Noch ist der weibliche oder männliche Körper je eine rein biologische Angelegenheit gewesen [ ] ‚Menschliche Natur‘ ist immer sozial und historisch gewesen. Die menschliche Physiologie ist während der ganzen Geschichte von der Interaktion mit anderen menschlichen Wesen und mit der äusseren [sic] Natur beeinflusst und geprägt worden. Deshalb ist das biologische Geschlecht (sex) eine ebenso kulturelle und historische Kategorie wie das soziale Geschlecht (gender)“ (Patriarchat und Kapital 1988: 35)
Sie war außerdem stets eine streitbare Person, die vor harscher Kritik an anderen Frauenforscherinnen und deren Positionen nicht zurückschreckte. Ich erinnere mich an ihren Aufsatz Vom Individuum zum Dividuum, in dem sie sich mit Gesetzesvorschlägen und Politikempfehlungen US-amerikanischer Feministinnen angesichts der neuen Fortpflanzungstechniken auseinandersetzt und scharf kritisiert, wie hier unter dem Euphemismus „reproduktive Rechte“ oder „Fortpflanzungsautonomie“ „ein neuer Supermarkt der Fortpflanzungsmöglichkeiten“ eröffnet wird (Bielefelder Frauenzeitung Tarantel Okt-Dez 1987). Maria Mies glaubte nicht an technologische Methoden der Frauenbefreiung, sie glaubte an ein anderes, nichtherrschaftliches Naturverhältnis, das selbstverständlich auch unsere Körper einschließen müsste.
Gegen den Wandel der “Frauenforschung” zur “Genderforschung”
Mit der dekonstruktivistischen Wende in der feministischen Forschung und mit der Umbenennung der Frauenforschung in Genderforschung konnte sie sich nie abfinden. Das wertete sie als eine Anbiederung an den Universitätsbetrieb, und es führte ihrer Ansicht nach dazu, das Ziel der Frauenbefreiung aus dem Auge zu verlieren.
Leicht zufriedenzustellen, war Maria Mies nicht. Oft schien ihr die Frauenbewegung in Deutschland zu wenig radikal, zu wenig kapitalismuskritisch. Sie erwartete von sich und anderen viel und vor allem auch persönliche Konsequenz. Ich erinnere mich an ein Radio-Interview, ich weiß nicht mehr, wer es führte und wann, es ging jedenfalls um ihren Aufruf zu einer Konsumbefreiungsbewegung (als möglichen Hebel, die Ausbeutung von Natur und globalem Süden zu beenden). Die Redakteurin fragte, Einverständnis voraussetzend, dass es halt schwer sei, auf liebgewonnenen Luxus wie zum Beispiel das tägliche Duschen zu verzichten. Maria Mies‘ Antwort kam postwendend: „Ich dusche nicht. Und wenn, dann kalt.“ Das war typisch für sie, ich amüsierte mich am Radio über diesen Auftritt und glaubte ihr aufs Wort.
1996 gründeten wir zusammen das Institut für die Theorie und Praxis der Subsistenz (unter anderen Maria Mies, Veronika Bennholdt-Thomsen, Christa Müller, Brigitte Holzer, ich). Maria Mies ging es dabei insbesondere um ein Engagement für Ernährungssouveränität (vgl. ihre zum Welternährungsgipfel am 13.-17 November 1996 in Rom verfasste Broschüre: Frauen, Nahrung und globaler Handel. Eine ökofeministische Analyse). Der Zugang zu Land, die Möglichkeit einer geldunabhängigen Nahrungsmittelproduktion schien ihr ein entscheidender Schlüssel für (weibliche) Autonomie zu sein. Als die Urban-Gardening-Bewegung in Deutschland mehr und mehr Anfänger*innen fand, verfolgte Maria Mies ihre Entwicklung gespannt. Das Interesse an städtischer Gemüseproduktion, die Solidarisierung mit den Kleinbauernbewegungen im Globalen Süden und die in den Projekten wiederentdeckten Subsistenzpraxen, war sehr in ihrem Sinne. So blieben wir, insbesondere Christa Müller und ich, die wir inzwischen in der Münchner Stiftung “anstiftung” zu Eigenarbeit und urbaner Subsistenz forschten, bis heute im Austausch. Und grüßen nach Köln.
Auch ich danke für die Erinnerung an ihr Werk und die Gratulation zum 90. Geburtstag von Maria Mies. Besonders beeindruckt bin ich von ihren Substistenzschilderungen, der Kapitalismuskritik und manches Gespräch mit ihr.
Herzlichen Glückwunsch nachträglich, liebe Maria von Gudrun
Herzliche Gratulation liebe Maria Mies: Ihre konsequente globalisierungskritische Analyse und Ihr Engagement auch bei Attac hat mir immer imponiert! Bleiben Sie gesund!
Liebe Maria Mies,
Alles Gute und Respekt für Ihr Lebenswerk!
Vielleicht erinnern Sie sich auch an unsere gemeinsame Freundin Heli Ginsberg.
Herzliche Grüße aus Köln
Gerlinde
Danke für die Erinnerung und Gratulation für Maria Mies: Inspiratorin für Vieles in meinem Leben, besonders den Studienzeiten der achtziger Jahre: Frauenhaus, der Bielefelder Ansatz, die Erweiterung des Blicks auf globale Bereiche von Frauen-Leben und nicht zuletzt die Bodenhaftung aller gedanklichen Fragen und Antworten. heli voss (82)