Forum für Philosophie und Politik
Von Urszula Kiezun
Über Werte wird oft und viel gesprochen – in Medien, in der Politik, in der Bildung, im Coaching, sogar im Business. Kaum jemand fragt sich jedoch, was „Werte“ überhaupt sind. Und während eine große Mehrheit der Menschen Werte als etwas Positives und Gutes, etwas Wichtiges, oft Nötiges betrachtet, reagiert man in der Philosophie auf das Thema eher allergisch. Dort findet man das ganze Reden über Werte sinnlos und in bestimmten Fällen sogar gefährlich.
Werte in der philosophischen Tradition
Die allgemeine Wertetheorie, Axiologie (vom altgriechischen áxios – Wert und lógos – Wort, Vernunft), gilt als eine der wichtigsten philosophischen Fachgebiete. Obwohl sie jedoch auf einer langen philosophischen Tradition gründet, entstand sie als eine eigene philosophische Disziplin erst im 19. Jahrhundert in Deutschland: In Reaktion auf einen sich verbreitenden Individualismus und Subjektivismus und daraus folgenden Relativismus und Nihilismus, der die Gültigkeit jeder gesellschaftlichen, kirchlichen oder politischen Ordnung verneinte, versuchten Philosophen und andere Geisteswissenschaftler*innen dem etwas entgegenzusetzen, indem sie eine objektive Wertephilosophie suchten oder ein Wertesystem etablierten, die für viele Menschen verbindlich sein könnten.
Die Axiologie wurde schnell zu einer der wichtigsten philosophischen Disziplinen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Trotz ihrer Popularität war sie aber nie in der Lage, eine klare und eindeutige Theorie über die Werte zu bieten. Das Wertethema impliziert nämlich zahlreiche Fragen und Probleme, die nicht ganz gelöst werden können.
Was sind „Werte“?
Erste Schwierigkeiten liegen schon im Begriff selbst. Was bedeutet es, wenn man von „Werten“ spricht?
Die eigentliche und ursprüngliche Bedeutung des Terminus „Werte“ ist mathematisch und ökonomisch. Bevor der Begriff in der philosophischen Wertetheorie angewandt wurde, stand er einfach für eine mathematische Quantifizierung. Beispielsweise hat eine Ware bzw. ein Produkt am Markt einen Wert, der seinem Preis oder Tauschwert entspricht; oder eine Variable in einer mathematischen Gleichung, wie z. B. x = 7 + 8‘ hat den Wert x = 15‘.
Daneben verweisen Worte wie z. B. begehrenswert, schätzenswert, liebenswert, erwähnenswert oder wertvoll auf eine andere Bedeutung des Begriffes „Wert“: etwas Positives und Gutes, was menschliche Sympathie, Wünsche oder Begehren auf sich zieht. Das ist aber eine Qualifizierung, der eine subjektive, intuitive und oft emotionale Wahrnehmung zugrunde liegt. Als solche sind Werte jedoch nicht messbar. In diesem Sinne bezeichnet der Begriff etwas, was früher eher als (abstrakte) Güter oder Ideale bekannt war.
Die Entwicklung hin zu einer qualifizierenden Bedeutung des Begriffs verursacht jedoch zwei Folgeprobleme. Erstens, man kann nicht sagen, dass Werte, wie z. B. Gerechtigkeit oder Freiheit, einen konkreten Wert haben, ähnlich wie beispielsweise ein Auto einen Wert (seinen Preis) hat. Man sagt eher, dass Gerechtigkeit und Freiheit hohe Werte sind. Diese Veränderung bezeichnete Carl Schmitt, einer der bedeutendsten Wertephilosophen, als eine Rangerhöhung, eine Aufwertung des Wertes. Diese Rangerhöhung führt aber im Weiteren dazu, dass die Werte ein ideales Sein erhalten, das nicht nur eine Geltung, sondern auch einen starken Drang zur Verwirklichung hat. Diese Veränderung führt zu massiven Konsequenzen.
Das zweite Problem, das die qualifizierende Bedeutung des Begriffes Werte mit sich bringt, ist ontologischer Natur: Wenn man sagt, dass Werte sind, dann muss man auch fragen, wo und wie sie sind.
Wie und wo existieren Werte?
Wie schon kurz erwähnt, den Werten kann einerseits ein relativer und auf subjektiven Neigungen eines Individuums basierender Charakter, andererseits jedoch eine ideale Natur zugeschrieben werden. Wie existieren also Werte als Sein? Diese Frage steckt tief im uralten ontologischen Streit über die Existenz (oder den Charakter dieser Existenz) des idealen Seins sowie in der epistemologischen Diskussion über die Möglichkeit seines Erkennens.
So besagen manche subjektivistische Wertetheorien, dass Werte von einem Individuum gesetzt werden und nur in seiner Psyche existieren können. Laut anderen subjektivistischen Theorien kommen sie zwar von einem Subjekt, aber funktionieren eher als sprachliche Ausdrücke seiner inneren emotionalen Zustände. Objektivistische Theorien nehmen demgegenüber an, dass Werte objektiv als Eigenschaften eines Objektes existieren und sich einem Subjekt nur und abhängig von seinen (kognitiven) Möglichkeiten und Fähigkeiten als Phänomene zu erkennen geben. Ein radikaler Objektivismus (Absolutismus) hingegen ist davon überzeugt, dass Werte nicht nur objektiv, sondern auch komplett autonomisch in einer eigenen Wirklichkeit, wie z. B. bei Platon in einem Reich der Ideale, existieren und dadurch auch als absolute normative Faktoren gelten müssen.
Es gibt auch philosophische Strömungen, die einen Kompromiss zwischen dem Subjektivismus und Objektivismus zu finden versuchen. Solche vertreten die Auffassung, dass Werte zwar von Individuen gesetzt werden, aber im Weiterem eine breitere Geltung in einem kollektiven (und objektiven) Bewusstsein einer Gesellschaft als (moralische) Normen finden. Nach so einer Lösung suchten genau die Wertephilosophen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, um sie dem Nihilismus entgegenzusetzen. Eine objektive Existenz der Werte konnte das Problem des Nihilismus aber nicht lösen. Stattdessen ist sie selbst zu einem Problem geworden.
Die wertzerstörende Wertverwirklichung
Wie schon gesagt, durch ihre begriffliche Aufwertung bekamen Werte eine Geltung und einen inneren Drang zur Verwirklichung. Das ist eine immanente Logik des Wertedenkens, folgt man Schmitt, der keine*r entrinnen kann. „Wer Wert sagt, will geltend machen und durchsetzen.“ Gleichzeitig, alles was zu genannten oder ausgewählten Werten im Gegensatz steht, alles was als Unwert betrachtet wird, verdient automatisch eine Verneinung, Ablehnung und Bekämpfung. Deswegen ist jeder Wertsetzung eine potenzielle Aggressivität immanent.
Diese Geltung, diese Aggressivität existiert auch unabhängig davon, ob die Werte als subjektives oder objektives Sein betrachtet werden. Eine subjektive Wertsetzung hängt von dem Standpunkt, der Perspektive, des Wertegefühls des wertenden Subjektes ab und ist dadurch immer relativ. Jedes frei entscheidende Individuum kann ihre*seine Werte selbst setzen. Diese Freiheit der subjektiven Wertsetzung führt aber zu einem Kampf der Werte, zu einem Krieg aller mit allen, wie im hobbesschen Naturzustand. Eine objektive oder absolute Natur der Werte löst das Problem auch nicht. Wenn man den Werten einen idealen, absoluten und autonomen Charakter zuschreibt, wird diese Geltung und der Drang zur Durchsetzung noch stärker. Solche idealen Werte haben nämlich eine Art religiöser Besonderheit, denen alles Subjektive und Physische unterstellt werden muss.
Die Tyrannei der Werte
Schon am Anfang des 20. Jahrhunderts konnte einer der Väter der objektiven Wertelehre, Nicolai Hartmann, feststellen: „Jeder Wert hat – wenn er einmal Macht gewonnen hat über eine Person – die Tendenz, sich zum alleinigen Tyrannen des ganzen menschlichen Ethos aufzuwerfen, und zwar auf Kosten anderer Werte, auch solcher, die ihm nicht diametral entgegengesetzt sind.“ Hartmann bezeichnet dieses Phänomen als „Tyrannei der Werte“. Viele Jahre später wird diese Phrase zum Titel eines der Bücher von Carl Schmitt. Obwohl Schmitt Vielen zurecht als eine kontroverse Person gilt bzw. vielleicht gerade deshalb, kann seine Erfahrung und sein Umgang mit dem Wertethema eigentlich als Lehrstück über die Gefahr von Werten dienen.
In der Zeit, als sich die Wertetheorie entwickelte, bildeten und verbreiteten sich auch solche Bewegungen und Ideen wie etwa der Nationalismus und die sog. Eugenik. Die Axiologie diente den nationalistischen sowie eugenischen Zwecken wunderbar. (In dieser Zeit konnten Texte wie u. a. „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ entstehen). Auch Schmitt engagierte sich als junger Philosoph und Jurist und unterstützte mit seinen theoretischen Ansätzen das NS-Regime. Nach dem Zweiten Weltkrieg revidierte er jedoch seine Überzeugungen zum Wertethema, sodass er in den letzten Jahren seines Lebens gegen die Einbeziehung von Werten in die Gesetzgebung, vor allem in das Verfassungsrecht, argumentierte. In diesem Zusammenhang entstand auch sein Buch „Die Tyrannei der Werte“, das die Aggressivität von Werten und ihre gefährlichen Konsequenzen bei deren Einbeziehung in, vor allem, politische Kontexte behandelt.
Die Macht der gesetzten Werten selbst haben
In ihrer über einhundert Jahre alten Geschichte verwandelte sich die philosophische Wertetheorie von der Suche nach einem objektiven Normensystem zu einem Appell, mit Werten – als sehr unklares und trotzdem gefährlich mächtiges Seiendes – achtsam und wachsam umzugehen, besonders wenn sie als etwas Normatives ihren Platz im öffentlichen und gemeinsamen Raum finden sollen. Aber auch in allen anderen Kontexten sollte man sich vielleicht fragen, ob verschiedene Seins-Formen überhaupt so oft als Werte bezeichnet werden müssen. Im modernen Management spricht man z. B. von solchen „Werten“ wie Mut, Offenheit, Fokus, Kommunikation, Respekt (sogenannte „Agile Werte“). Warum bezeichnet man sie nicht als das, was sie einfach sind – Persönliche Qualitäten, Fähigkeiten und Kompetenzen, Werkzeuge oder Arten und Weisen, wie man mit Anderen umgeht? So eine einfache sprachliche Operation befreit diese Seins-Formen von ihrer drohenden Aufwertung und damit auch von ihrer immanenten Aggressivität, von ihrem normativen Drang zur Verwirklichung und nimmt ihnen ihre innere Macht weg.
Vielleicht aber würden sich die Wertfürsprecher*innen dadurch auch etwas machtloser fühlen? Vielleicht ist deswegen das Wertethema so populär, weil es auch seinen Redner*innen eine gewisse Macht oder zumindest ein Machtgefühl gibt?
Ein überaus anspruchsvoller Beitrag zum Themenkreis
“Werte”. Er enthält vieles, über das ich nun erstmal nach-
denken kann. Vielen Dank dafür. Anna
Liebe Urszula,
ich habe Deinen Artikel mit viel Gewinn gelesen, vielen Dank dass Du Deine gründliche Zusammenstellung mit uns teilst. Der Titel ‘Vorsicht Werte!’ sagt ja schon alles. In Zukunft wird Dein Artikel immer mitschwingen, sobald jemand von Werten spricht oder ich etwas darüber lese.