Forum für Philosophie und Politik
Von Antje Schrupp
„Wenn eine Macht etwas ausrichten könnte, dann wäre es die Commune gewesen, diese Verbindung von intelligenten, mutigen und unglaublich ehrenhaften Männern, die allesamt, ob erst seit Kurzem oder seit Langem schon, unbestreitbare Beweise ihrer Aufopferung und ihrer Tatkraft geliefert hatten. Sie wurden von der Macht zerbrochen, die ihnen nichts anderes mehr ließ, als den unumstößlichen Mut, sich zu opfern, und sie starben als Helden. Denn die Macht ist verflucht, und das ist der Grund, warum ich Anarchistin bin.“
Mit diesen Worten erinnert sich Luise Michel in ihrem Buch „Die Pariser Kommune“, das sie 25 Jahre nach den Ereignissen veröffentlicht hat, an die Zeit im Frühjahr 1871. Damals wurde in Paris zum ersten Mal eine Regierung ausgerufen, die nicht nur einen politischen Machtwechsel anstrebte, sondern auch soziale Reformen, neue Eigentumsverhältnisse, neue Familienverhältnisse, neue Bildungssysteme, und eine neue symbolische Ordnung, vor allem eine Entmachtung der katholischen Kirche.
Zum 150sten Jubiläum der Kommune in diesem Jahr stellt sich erneut die Frage, wie wir als Frauen mit solchen Jubiläen umgehen können. Sie erinnern ja eigentlich nicht wirklich die Geschichte der Menschheit, sondern nur diejenige Version der Geschichte, die auf die Angelegenheiten der Männer fokussiert. Und auch die Pariser Kommune war letztlich eine Männerveranstaltung, auch wenn schon sehr früh an dem Mythos der „Frauen der Kommune“ gestrickt wurde. Aber man kann die Geschichte der Pariser Kommune zwar in der Tat nicht ohne die Frauen erzählen. Man kann die Geschichte der Frauen aber trotzdem nicht entlang solcher Ereignisse der „Männergeschichte“ erfassen.
Schon immer gab es ja Versuche, die männliche Erzählung von der Geschichte der Welt um die vernachlässigten und verschwiegenen weiblichen Figuren zu ergänzen. Zu nennen wären etwa Christine de Pizans „Stadt der Frauen“ im 15. Jahrhundert oder Elizabeth Cady Stantons „Women’s Bible“ im 19. Jahrhundert. Mit der Frauenbewegung der 1970er Jahre entstand dann eine regelrechte Welle von „Frauengeschichtsschreibung“. Frauen hier und Frauen dort wurden entdeckt, ich kann mich daran erinnern, wie ich in den 1980ern diese Bücher verschlungen habe: Frauen im Mittelalter, Frauen in der RAF, Frauen in der Wissenschaft, Frauen in China…
… So als wäre es eine Wahnsinns-Entdeckung, dass es auf der Welt tatsächlich auch Frauen gegeben hat. Bei solchen Versuchen, Frauen quasi nachträglich in ein bereits bestehendes Narrativ „hineinzuschreiben“, stellt sich immer ein Dilemma, das letztlich nicht aufzulösen ist: Einerseits ist es natürlich richtig, die „Frauen der Geschichte“ zu erforschen und ihr Wirken ans Licht zu holen. Doch das ändert eben überhaupt nichts daran, dass diese Geschichte eine Erzählung von „Männergeschichten“ ist.
Die Pariser Kommune ist für die europäische Linke zu einem Sehnsuchtsort geworden, vielleicht deshalb, weil es die einzige Männer-Revolution war, die nicht grausam und blutig für ihre Gegner ausging. Stattdessen ging die Pariser Kommune grausam und blutig vor allem für die Beteiligten selbst aus. Zehntausende Kommunarden und Kommunardinnen wurden hingemetzelt. Es sind diese vielen Toten, die Louise Michel in ihrem Kommune-Buch in den Mittelpunkt stellt, derer sie gedenkt. Es ist die ihnen widerfahrene Ungerechtigkeit und Härte, die sie beklagt. Sie schreibt kein Geschichtsbuch (für Menschen, die die damaligen Ereignisse nicht kennen, ist es nahezu unverständlich), sondern ein Manifest, eine Totenklage, eine Wut-Collage.
Das unterscheidet sich davon, wie die meisten Männer über die Kommune geschrieben haben: Sie analysierten akribisch, was geschehen war, welche strategischen Fehler gemacht worden waren. „Bei der nächsten Revolution machen wir es besser“, schien die Lehre zu sein, die sie aus den Ereignissen zogen. Leider wurden die nächsten Revolutionen aber nicht besser. Die Lehre hingegen, die Louise Michel aus der Kommune gezogen hat (übrigens im Gespräch mit einer anderen Kommunardin, Nathalie Lemel, mit der zusammen sie die Jahre ihrer Verbannung in Neukaledonien verbrachte) verhallte weitgehend ungehört. Dass das Scheitern der Kommune ein Anlass wäre, die Dynamik der Macht grundsätzlich zu hinterfragen, diese Einsicht blieb auf die kleine Gruppe von Anarchist:innen beschränkt, und auch sie entwickelten daraus nicht eine alternative politische Revolutions- oder besser Transformationsphilosophie, sondern entschieden sich erstmal entweder für Attentate oder für Individualismus oder kleine Communities.
Was die Pariser Kommune betrifft, so habe ich ihr Faszinosum nie so richtig verstanden oder nachvollziehen können. Lange dachte ich, das liege an mir und ich hätte eben vieles von dem, was im linken männlichen Politik-Narrativ als selbstverständlich vorausgesetzt wurde, noch nicht verstanden. Ich glaubte, ich wäre irgendwie zu dumm, das zu durchdringen, oder auch zu uninformiert. Aber egal wie viele Bücher ich über die Pariser Kommune las (ich tat das für meine Dissertation), es ging mir irgendwie nicht in den Kopf und nicht ins Herz, was genau es damit auf sich hatte.
Die Fakten lassen sich natürlich erzählen: Vorausgegangen war der Kommune der deutsch-französische Krieg von 1870, den der französische Kaiser Napoleon III. verlor. Er musste zurücktreten, und eine republikanische Regierung wurde installiert, die aber einige Monate später im Januar 1871 ebenfalls kapitulierte. Die Preußen waren einfach überlegen. Allerdings entzündete sich innerhalb dieser republikanischen Regierung ein Konflikt zwischen einer eher rechts-bürgerlichen und einer eher links-sozialistischen Fraktionen, der mit der Frage zu tun hatte, inwiefern die Bevölkerung und vor allen Dingen die Arbeiter im Kampf gegen die Deutschen bewaffnet werden sollten. Man kann das vielleicht kurz auf den Punkt bringen: Die „Bourgeoisie“ wollte lieber den Krieg gegen Deutschland verlieren als das Proletariat zu bewaffnen. Die Pariser Bevölkerung fügte sich aber nicht in die Kapitulationsvereinbarungen, und als am 18. März 1871 ungefähr 200 kleine Kanonen aus Paris abtransportiert werden sollten, kam es zum Aufstand. Doch nur zwei Monate später, am 21. Mai, wurde Paris von den republikanischen Truppen zurückerobert, die von den Preußen unterstützt wurden, die dafür extra einige Tausend französische Kriegsgefangene freigelassen hatten.
Soviel der Rahmen. Aber für mich blieben einfach zu viele Fragen offen. Wieso glaubten die Pariser Kommunard:innen, sie könnten ihre Stadt gegen zwei Armeen militärisch verteidigen? War nicht absehbar, dass sie unweigerlich unterliegen mussten? Und wenn es ihnen wirklich um sozialrevolutionäre Anliegen, um eine gerechte Gesellschaft ging – neue Familienverhältnisse, andere Bildung, neue Eigentumsverhältnisse und Produktionsweisen – wie konnten sie glauben, das in so einem fragilen Gebilde per Regierungsdekret einführen zu können?
Louise Michels Buch, das sie nach ihrer Rückkehr aus der Verbannung in Neukaledonien geschrieben hat, habe ich erstmals vor gut zwanzig Jahren im Rahmen meiner Dissertation gelesen, auch in der Hoffnung, sie könne mir Antworten auf meine Fragen geben. Allerdings fand ich ihr Buch wirr und auch ziemlich unverständlich. Damals schob ich es auf mein schlechtes Französisch und darauf, dass ich einfach viele Namen und Ereignisse, die Michel darin schildert, nicht kannte und sie deshalb nicht kontextualisieren konnte.
Jetzt zum Jubiläum ist das Buch auf Deutsch herausgekommen – in einer übrigens wunderbaren Edition des Mandelbaum-Verlags – und ich habe es noch einmal gelesen. Zwar sind meine Fragen immer noch nicht beantwortet, aber ich glaube, ich habe jetzt Michels Emotionen verstanden: Sie hat wohl gehofft, dass die Republikaner vom revolutionären Elan der Sozialist:innen mitgerissen würden. Ihr Buch ist keine Chronologie, keine Historie oder Analyse der Ereignisse, sondern praktisch ein Gefühlsausbruch, ein in viele Worte gefasstes Entsetzen, ein Mahnmal für die Kommunard:innen, die in endlosen Aufzählungen von Namen genannt werden, eine Polemik, ein Manifest der Verzweiflung und der Wut.
Der Kern dieser Verzweiflung und dieser Wut liegt, so glaube ich, darin, die eigene Machtlosigkeit zu erkennen. Aber nicht die Machtlosigkeit, militärisch unterlegen gewesen zu sein, das kann ja immer passieren. Sondern die Machtlosigkeit, von den anderen nicht verstanden zu werden. Und dies ist ein Unverständnis, das sich durch das Erlangen von Macht nicht beheben lässt. Weil nämlich die Macht eine eigene Dynamik entwickelt, weil sie das Ende der Politik ist, und weil am Ende entweder die Ideale futsch sind oder viele, viele, viele Menschen, die man für den Aufbau einer besseren Gesellschaft dringend benötigt hätte, sterben.
Michel schreibt: „Zwischen zwei Wetterfronten, als sie sich nicht allzu schlecht fühlte, teilte ich Madame Lemel meine Einsicht mit, dass, welcher Mensch auch immer an die Macht käme, er niemals etwas anderes tun könnte, als Verbrechen zu begehen, wenn er schwach oder ein Egoist wäre, oder vernichtet zu werden, wenn er aufopfernd und energisch handelte. Sie antwortete mir: „Das denke ich auch!“ Ich vertraute der Rechtschaffenheit ihres Geistes sehr und ihre Zustimmung erfüllte mich mit großer Freude.“
Mein Vorschlag ist, dass wir zum 150. Jubiläum der Pariser Kommune weniger herausstellen, dass damals die erste sozialrevolutionäre Regierung gewählt wurde (nach dem Motto: „Es war die erste, aber nicht die letzte Revolution und zwar sind alle Revolutionen bisher gescheitert, aber irgendwann werden wir gewinnen“). Sondern dass wir stattdessen betonten, dass die Pariser Kommune zu der Erkenntnis geführt hat (jedenfalls bei Louise Michel und Nathalie Lemel), dass Macht und Politik nicht dasselbe sind. Seither wissen wir, dass Revolutionär:innen nicht nur die (jeweils) Mächtigen bekämpfen müssen, sondern dass sie die Dynamik der Macht als solche zurückweisen müssen.
Die Geschichte ist ja nicht 1871 stehen geblieben und auch nicht 1895, als Louise Michel dieses Buch schrieb. Danach kam die Emanzipation der Frauen, ihre Selbstbefreiung, der Feminismus. Die Frauenbewegung hat weitgehend auf Machtpolitik verzichtet und konnte gerade deshalb große Erfolge erringen. Die Distanz der Frauen zur Macht ist häufig analysiert worden, zuweilen ist sie auch beklagt oder bestritten worden, auch von Feministinnen. Aber dass Frauen Macht nicht im gleichen Maße „sexy“ finden wie Männer ist doch zu evident, um es zu leugnen. Die Frauenbewegung hat sich weder als Partei organisiert (in dieser Hinsicht klassisch anarchistisch), noch hat sie machtpolitische Errungenschaften – wie etwa das Wahlrecht oder die Gleichstellungsgesetze – in ihrer Bedeutung überbewertet. Jedenfalls im Großen und Ganzen, Ausnahmen gibt es immer.
Aber die Frauenbewegung ist nicht bei einer einfachen Ablehnung der Macht stehengeblieben. Sondern sie hat versucht, ein dialektisch-pragmatisches Verhältnis dazu zu finden. Eine revolutionäre Politik, so ließe sich das vielleicht zusammenfassen, besteht nicht nur darin, sich auf Macht nicht zu verlassen, sondern auch darin, sie nicht zu verleugnen, wenn man sie hat (oder mit ihr konfrontiert ist). Die Philosophinnengemeinschaft Diotima hat das in ihrem Buch „Macht und Politik sind nicht dasselbe“ umfassend analysiert beschrieben: Es ist nicht so, dass die Macht hier wäre und die Politik dort, sondern beides findet auf demselben Spielfeld statt. Wir spielen „Dame“, also das Spiel der wirklichen Politik, die aus Debatten, Konflikten, Diskussionen und dem ehrlichen gemeinsamen Bemühen für die Gestaltung einer besseren Welt, an denselben Orten, an denen auch „Schach“ gespielt wird, also das Streben nach Positionen, Vorteilen, Unterwerfung der Feinde und so fort.
Ich feiere die Pariser Kommune als eine Gelegenheit, bei der sich dieses Bedürfnis nach echter Politik (das auch bei Männern vorkommt, es handelt sich hier um ein menschliches Phänomen und nicht um etwas exklusiv „Weibliches“) tatsächlich den öffentlichen Raum genommen hat. Damals hat sich kurzfristig die Gelegenheit ergeben, sich von den traditionellen machtpolitischen Dynamiken frei zu verhalten – vergleichbar vielleicht mit der Freiheit des Jahres 1990 in Ost-Berlin. Ein Vakuum, ein Übergangsraum, in dem die alten Machtstrukturen zusammengebrochen, aber neue noch nicht etabliert sind. In einer machtpolitisch strukturierten Welt können solche Räume nicht lange bestehen, nicht länger als einige Monate. Doch die Sehnsucht nach diesen Orten, die können wir kultivieren.
Louise Michel: Die Pariser Commune. Aus dem Französischen von Veronika Berger, Mandelbaum-Verlag 2021, 415 Seiten, 28 Euro.
Ich habe die heroische, schwadronierende Politisirerei linker Männer auch nie ganz verstanden.
So gut der Artikel ist, ein grundlegender Irrtum in der Verwendung von Begriffen: Macht wird offenbar mit Gewalt verwechselt. Hannah Arendt “Macht und Gewalt” sollte vielleicht noch gelesen werden, ebenso “Lüge und Wahrheit in der Politik”. Irgendwo habe ich auch einmal kurze Anmerkungen von Hannah Arendt zur Commune gelesen, weiß aber nicht mehr wo …
Hier ein Hinweis dass Arendt das gemacht hat
https://www.versobooks.com/blogs/4132-radicalising-democracy-how-hannah-arendt-s-legacy-endures-in-barcelona
Danke für diesen wunderbaren Beitrag.
Würden Sie das Buch von Michel (in der deutschen Übersetzung) empfehlen, auch wenn man mit der Kommune nicht vertraut ist?
Einmal mehr ein hervorragender Beitrag, der mein Weltbild erschüttert und Fragen an die Oberfläche bringt. Die Beschäftigung mit Macht erreicht für mich hier die grundsätzliche Ebene von der Auseinandersetzung mit “«dem Bösen» und «dem Guten»”. Gibt es einen Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Machtausübung oder liegt der Unterschied lediglich in der gesellschaftlichen Einflussstärke? Das würde heissen, Frauen werden “gleich” wie Männer, wenn sie an der Macht sind. Gibt es Ansätze, Macht unabhängig von patriarchalen Mustern zu denken? Was wäre dann eigentlich “das Weibliche” an der Macht? Wenn Macht von Politik, also Interessenvertretung und -durchsetzung gelöst wird, was bleibt dann? Ab welchem Stadium in der Entwicklung von Lebensumständen wird Macht eigenständig und negativ (teuflisch, dämonisch; um andere Begriffe aufzuführen, welche darauf hinweisen, dass es scheinbar unkontrollierbare Aspekte gibt, die wirksam werden). Da wir uns in der Schweiz gerade mit 50 Jahren Frauenstimmrecht beschäftigen, bringt dieser Beitrag eine Dimension ins “jubilieren”, die aus meiner Sicht bei uns unbedingt breiter angeschaut werden sollte. Es geht ja nicht mehr einfach darum, dass Frauen zunehmend in einflussreichere Positionen gewählt werden (der Trend wird sich wohl eher verstärken), sondern auch darum, wie hier eine neue “Normalität” entstehen kann, die unabhängig von geschlechtlichen Fixierungen Wirklichkeit herstellt und politisch lebt. Ich danke für die geschaffene Verunsicherung.